Der Gott, der uns nicht passt

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Ulrich Wilckens schreibt über die Autorität des Alten Testaments:

Was … das Alte Testament betrifft, so ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, daß dessen Zeugnis in der Urkirche nicht nur in fester Schriftform vorlag („es steht geschrieben“ …), sondern daß es eigentlich der „heilige“ Gott selbst ist, der in dem von Menschen „Geschriebenen“ zu Wort kommt. Weil Gott heilig ist, gelten die Schriften als „heilig“ (Röm 1,2). … Jede zitierte Schriftstelle ist insofern als Christuszeugnis immer auch Zeugnis des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes in der Geschichte Israels, seines wirkkräftigen „Redens“ einst zu den Vätern und jetzt zu uns (Hebr 1,1f.). Darum ist die Schrift von göttlicher Autorität, so daß Paulus im Streit um die jeweils höchste Autorität von Menschen in der Gemeinde von Korinth die Grundregel aktuell zur Geltung bringt: „… nicht über das hinaus, was geschrieben steht!“ 1Kor 4,6).84

Das Alte Testament war die „Bibel“ Jesu und der Apostel. Die neutestamentliche Gemeinde griff für Verkündigung, Unterweisung und Gottesdienste auf das AT zurück, wie Jesus das auch getan hatte. Jesus fand seinen Weg im AT vorgezeichnet, sein Leben, Sterben, Auferstehen und weiteren Auftrag und Mission der Gemeinde lernte man von der Schrift her verstehen. Paulus und die anderen neutestamentlichen Schriftsteller können Jesus Christus gar nicht bezeugen, ohne beständig das AT aufzuschlagen. Ein Mitglied der Gemeinde Jesu musste dem AT glauben! Paulus, von Hananias mit Unterstützung eines Anwalts angeklagt, verteidigt sich vor dem römischen Stadthalter Felix mit einem außerordentlichen Bekenntnis: Er diene Gott in der Weise, dass er allem glaube, was nach dem Gesetz und in den Propheten geschrieben stehe (Apg 24,14). Gottesdienst heißt demnach für den Apostel auch und vor allem, den Schriften des Alten Testaments in ihrer Gesamtheit zu glauben! Deshalb muss auch heute die christliche Gemeinde das AT lesen, wenn es nicht zu einer Verflachung und Verfälschung des Verständnisses des NT kommen soll.

Dietrich Bonhoeffer schrieb am 2. Advent 1943 aus der Haft an seinen Freund Eberhard Bethge, er habe in den vergangenen Monaten „viel mehr A.T. als N.T. gelesen“ und kommt zu dem Urteil: „Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m. E. kein Christ“(!). Rechte Wertschätzung des AT ist ihm wichtig für den Amtsbegriff, für den Gebrauch der Bibel und für die Ethik. „Warum“, so schreibt Bonhoeffer, „wird im A.T. kräftig und oft zur Ehre Gottes gelogen …, totgeschlagen, betrogen, geraubt, … sogar gehurt (vgl. den Stammbaum Jesu), gezweifelt u. gelästert …, während es im N.T. dies alles nicht gibt? Religiöse ‚Vorstufe‘? Das ist eine sehr naive Auskunft; es ist ja ein und derselbe Gott.“85

Und Karl Barth erklärte in seiner Lehre vom Wort Gottes:

Wer das Alte Testament zu einer allenfalls entbehrlichen … Vorstufe der eigentlichen, der neutestamentlichen Bibel machen oder wer nun gar nachträglich die Streichung des Alten Testamentes … vollziehen will, …der setzt sich tatsächlich … mit der Entstehung und mit dem Sein der christlichen Kirche in Widerspruch, der begründet eine neue Kirche, die nicht mehr die christliche Kirche ist. Denn die kanonische Geltung des AT ist nicht nur keine willkürliche Ergänzung des evangelisch-apostolischen Christuszeugnisses durch die Alte Kirche, sondern sie war, … eben in dem evangelisch-apostolischen Christuszeugnis selbst, … in der neutestamentlichen Bibel selbst so begründet, daß diese, nur wenn man sie völlig unleserlich machen wollte, ohne jenen ursprünglichen Kanon als Zeugnis von Gottes Offenbarung gewürdigt und verstanden werden könnte. Ob es uns gefällt oder nicht: Der Christus des Neuen Testamentes ist der Christus des Alten Testamentes, der Christus Israels.86

Die ersten Christen haben das AT „im Licht des Sterbens und der Auferstehung Jesu von Nazareth neu lesen gelernt“87, sie erkannten: Der Vater Jesu und Jahwe, der Gott Israels, sind identisch (Mt 6,9 pater; Gal 4,6 abba), Jesus ist der im AT verheißene Messias (Mk 14,61; Mt 26,63), Gemeinde, die Jünger Jesu, ist das neue Volk Gottes (Joh 13,35; Apg 11,26). Die Emmausgeschichte in Lukas 24 erklärt beispielhaft, dass „ein verstehendes Lesen der ‚Schriften‘ nur möglich ist, wenn der Auferstandene ihren Sinn erschließt.“88 Auch die Kämmererstelle Apg 8,30f weist in diese Richtung: „Philippus aber lief hinzu und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen und sprach: Verstehst du auch, was du liest? Er aber sprach: Wie könnte ich denn, wenn nicht jemand mich anleitet?“

Die Frage nach dem wichtigsten Gebot und dem Erlangen ewigen Lebens wird von allen Synoptikern (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28) mit einem AT-Zitat aus dem 5. Buch Mose beantwortet:

Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Dtn 6,4f)

Das 5. Buch Mose ist wie ein langer Kommentar dieses Verses 5 „und du sollst lieben“, es beschreibt Gehorsam aus Liebe. Von ganzem Herzen: Das ist keine fromme Gebotsleistung, sondern Verinnerlichung. Sonst wären Aussagen wie in Ps 119 und Ps 1 (Liebe zum Gesetz Gottes) gar nicht nachvollziehbar: Der Beter erkennt beim Nachsinnen über Gottes Gebote seine liebende Fürsorge! Immer wieder weist Mose in seiner Abschiedsrede auf diese Liebe hin (z. B. 7,8 und 10,12.15; 11,1.13.22; 13,4f; 19,8f.; 30,5.15–17.20). Insgesamt erscheint das Wort „lieben“ 23-mal im 5. Buch Mose, viel öfter als sonst (1Mo 15-mal, 2Mo 1-mal, 3Mo 2-mal). Das Buch, das also alle Gebote Gottes wiederholt und zum unbedingten Gehorsam dazu auffordert, nennt auch Liebe als wichtigstes Motiv, sowohl von Gott als auch zu ihm hin. Im Alten Orient stand Gottesfurcht nicht im Gegensatz zu Gottesliebe! Gottesfurcht meinte geradezu „Religion“, heilige Scheu vor dem Allmächtigen, auch im AT! Jahwe mit ganzem Herzen lieben heißt demnach, ihn fürchten, ihm dienen und ihn unter totaler Absage anderer „Götter“ als den eigenen Gott anerkennen! Das ist das Grundgebot des 5. Buches Mose (Dtn 5,7) „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“!

8 Gottes gebrochenes Herz

Verstehen wir jetzt, warum es zur Bekümmerung, zum Gereuen Gottes, kommt? Wagen wir wirklich noch zu behaupten, daß dies das Zeichen für einen menschlichen, allzu menschlichen Geist sei? Oder ist das nicht die Kehrseite dessen, daß Gott ein königlich Schenkender ist und daß er nun in Trauer und Schmerz feststellen muß, wie alles, was wir haben, in unseren Händen verdirbt und verkommt … Gibt es einen größeren Schmerz, als wenn wir jemandem unser Bestes schenken und opfern, und dieser jemand wirft es uns höhnisch vor die Füße, nachdem er vorher alles verlästert und beschmutzt hat, was uns lieb ist? … Ich glaube, wir verstehen jetzt, welcher Schmerz darin ausgesagt wird, wenn es heißt, daß es Gott reute, so gütig gewesen zu sein und Freiheit verschenkt zu haben. Gott hat ein Herz, das blutet und zuckt unter dem, was wir tun, denn wir gehen ihm nahe. Es ist ein väterliches Herz. Darum ist es überaus verständlich und sehr bewegend, daß das biblische Wort uns auch von der entgegengesetzten Weise des „Reuens“ etwas sagt: daß Gott nämlich vom Erbarmen über unsere Verlorenheit erfaßt wird, daß ihn auch die Sintflut gereuen kann und daß er ein Ende der Sühne will. So läßt er noch einmal einen Schöpfungsmorgen anbrechen mit Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.89

Es ist meine feste Überzeugung, dass abwertende Urteile über Gottes Charakter nie dem tatsächlichen Wesen Gottes gerecht werden. „Gott ist Liebe“ (1Joh 4,16). Das Verstehen jedes Textes ist von seinem Kontext abhängig. Vorsätzliche und fahrlässige, versehentlich zugefügte Gewalt z. B. sind unterschiedlich zu bewerten (wie es z. B. auch in Num 35,16–25 geschieht). Eine völlig objektive und neutrale Interpretation gibt es nicht. Jeder Interpret deutet Texte auch in seinen eigenen Kontext hinein. Wir sollten uns aber bemühen, dem historischen Gehalt einer Aussage und somit der ursprünglichen Absicht möglichst nahezukommen. Manches erscheint nach gründlicherer Analyse in einem anderen Licht. So etwa die Charakterisierung Jahwes als „Krieger“ (Ex 15,3 isch milchamah; Jes 42,13 ke-isch milchamot). Wer sich heute an dieser Charakterisierung stößt, übersieht, dass dadurch Gott in den Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen jener Zeit einbezogen wurde und man ihm zugleich so „höchste Aktivität, Einsatz und unwiderstehlichen Erfolg“ zuschrieb. Das gehörte zum „Image des machtvollen Königs“.90

Selbst ein Text, der gerne als locus classicus für die Grausamkeit Gottes herangezogen wird, der Sintflutbericht, erweist sich bei näherer Analyse als Dokument eines liebenden Schöpfers. Meist wird dies anders gesehen, vgl. die Kurzbeschreibung eines Buches des Schweizer Pfarrers Daniel Kallen: „Unzählbar sind zum Beispiel die Aufrufe des biblischen Gottes zu Mord, Steinigungen und Totschlag. Endlos erscheint die Liste der Opfer bereits am Anfang der biblischen Überlieferung, wenn der Gott der Hebräer in der Sintflut – ohne Reue und Skrupel – die ganze Menschheit bis auf ein paar Einzelne umkommen lässt“. Kallen kommt zu der Schlussfolgerung, dass „… der biblische Glaube insgesamt fragwürdig und zweifelhaft ist“.91

Selbst Johannes Schnocks sieht im Vergleich zu altorientalischen Parallelen (wonach die Götter ihren Entschluss „bereuen“ würden) kaum einen „gefühlvollen“ Zug des biblischen Gottes angesichts der Vernichtung der Menschheit. Im Gegenteil: „Vom biblischen Gott wird weder Schreien noch Weinen noch das Entsetzen über die eigene Vernichtungstat berichtet.“92

Demgegenüber ist zu sagen: Die „Götter“ der außerbiblischen Flutberichte scheinen sich vor allem um sich selbst zu sorgen. Der Mensch spielt dort eine untergeordnete Rolle – er ist dazu da, die Götter zu bedienen. In altbabylonischen Mythen wird die „Erschaffung des ersten Menschen aus Lehm durch Enki/Ea und die Muttergöttin mit nichts anderem motiviert … als dem Wunsch der Götter, auf diese Weise ihrer Arbeitslast ledig zu werden.“93

 

Im Gilgámesch-Epos94 sind die Götter entsetzt über die Folgen der Flut. Sie hungern, weil kein Mensch da ist, Opfergaben darzubringen und „weinen/ verdorrt ihre Lippen, beraubt der gekochten Opferspeise“.95 Sie verbergen sich aus Angst (was für ein Gegensatz zum allmächtigen Schöpfergott der Bibel!):

Selbst die Götter packte da vor der Sintflut die Angst! // Sie wichen zurück, sie hoben sich fort in den Himmel des Anum // Da kauern die Götter im Freien, eingerollt in sich selbst so wie die Hunde.96

In der biblischen Erzählung dagegen sehen wir Gottes Herz und Gottes Schmerz:97

Und Jahwe sah, daß die Bosheit des Menschen auf der Erde groß war und alles Formen der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag.

Und es reute Jahwe, daß er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in sein Herz hinein.

Und Jahwe sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Fläche des Erdbodens auslöschen, vom Menschen bis zum Vieh, bis zu den kriechenden Tieren und bis zu den Vögeln des Himmels; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.

Noah aber fand Gunst in den Augen des HERRN. (Gen 6,5–8)

Gott „sieht“ (V. 5): In Gen 3 wird des Menschen Abfall von Gott berichtet, und nun, in Gen 6, ist ein Tiefpunkt erreicht. In Gen 1,31 lasen wir zum letzten Mal, dass „Gott sah“. Damals war alles, was er sah, „sehr gut“! Genesis 6,12 klingt wie ein Echo von Gen 1,31.

1,31: Und Gott sah alles, … und siehe, es war sehr gut.

6,12: Und Gott sah die Erde, und siehe, sie war verdorben.

Wieder heißt es: „Gott sah“, aber nun ist „alles schlecht“! Dass Gott „sieht“, zielt weniger auf plötzliches Wahrnehmen, sondern markiert oft den Beginn göttlicher Intervention (6,12; 29,31; Ex 2,25; 3,4; 4,31 etc.). Nicht nur weiß Gott genau Bescheid, was hier vorgeht, es kümmert ihn auch! Als des Schöpfers Bild ist der Mensch ebenfalls fähig zu „formen“ – doch was formt er? Alles, was der Mensch „bildet“, ist „nur böse“! Dieses „Bilden“ greift das Verb aus dem Paradiesbericht auf (jezer „töpfern“), das in Gen 2 von Gott ausgesagt wurde: Er „formte“ da den Menschen.

Auch der Satz in 6,13, „denn die Erde war erfüllt mit Gewalttat“, greift Gen 1 kontrastierend auf (erfüllt die Erde! Gen 1,22.28)! In Gen 6,13 erklärt Gott seine Absicht, die Menschen zu vernichten. Es wird das gleiche Wort verwendet, das schon in V. 11 und 12 für den bereits verdorbenen Zustand der Erde ausgesagt wurde. V. 11 und 12 besagen, die Erde war „ruiniert“ vor Gott (schachat ni.). Das Verb „verderben“ schachat wird in den Versen 11–17 5-mal erwähnt! Es begegnet uns im AT für das Verderben eines Gewandes (Jer 13,7), eines Gefäßes (Jer 18,4), eines Weinbergs (Jer 12,10 in figurativem Sinn). In 12b folgt die Begründung: „denn alles Fleisch hat seinen Weg verdorben auf Erden“. Das beschreibt eine von den Menschen ausgehende aktive Handlung (schachat hif.)!98 „Weg“ (derech) beschreibt oft den Leben(swandel), das Verhalten oder die Lebensweise im Guten wie im Bösen, vgl. Ps 1; 1Sam 8,3; 18,14; 1Kön 13,33; Jes 53,6; Jer 18,11; Jer 36,3; Jona 3,8.

schachat begegnet im AT in verbaler Verwendung 143-mal99. Im Deuteronomium beschreibt das Verb u. a. die Abkehr von Jahwe und seiner Tora im Kontext der Verehrung von Götzenbildern (Dtn 4,16.25.31). In Hosea 13,9 wird die Rebellion gegen Gott als selbstzerstörerischer Akt mit schachat pi. beschrieben: „Es hat dich zugrunde gerichtet, Israel, daß du gegen mich, gegen deinen Helfer, bist.“

Gen 6 sagt eigentlich, dass Gott nur verdirbt, was bereits unheilbar verdorben ist. „Es ist, wie wenn ein verdorbenes Nahrungsmittel alle anderen in seiner Nähe gelagerten mit infiziert hätte. Dann muss man alles wegwerfen … Gott verdirbt, was schon verdorben ist.“100

Zwei Motive werden besonders herausgehoben:

• Einmal die absolute Verdorbenheit der Menschheit: Alles, was der Mensch „formt“, ist „nur böse“! „Alles Formen der Pläne seines Herzens“ ist „nur schlecht!“ Und dies auch noch „den ganzen Tag“, d. h. brav sind die Menschen eigentlich nur, wenn sie schlafen. Betont durch je zweimaliges „alles“ kol und „böse“ ra in Vers 5. „Gott merkt’s nicht“? Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein! Er sieht nicht nur die Taten selbst, sondern bereits die verborgenen Absichten im Herzen (V. 5)!

• Zum anderen Gottes Schmerz vor der Bestrafung: Gott empfindet. Es reute ihn (wajjinachem), den Menschen geschaffen zu haben! Und „es tat ihm weh bis ins Herz hinein (wajjitazzev el-libbo)!“

Kann Gott Reue empfinden? Dann hätte er doch zuvor etwas falsch gemacht? Heißt es nicht anderswo (Num 23,19): Gott ist kein Mensch, der etwas bereut oder 1Sam 15,29: Er ist doch kein Mensch, sodass er etwas bereuen müsste? Viel öfter aber lesen wir das andere, ja, sogar im gleichen Kapitel in 1Sam 15,11: Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe. Im ersten Fall geht es immer um Zukünftiges: Was Gott vorhersagt durch seine Propheten, wird eintreffen! Im zweiten Fall, wie auch hier, geht es um Gegenwärtiges oder Vergangenes: Hatte Gott Gericht beschlossen, aber der Mensch sich geändert durch Umkehr oder Gebet, so kann Gott sein Verhalten ändern, also „bereuen“. Klassisch hat dies Jeremia 18,7ff formuliert: … drohe ich einem Volk oder einem Reich, es auszureißen, niederzureißen und zu vernichten. Kehrt aber das Volk, dem ich gedroht habe, um von seinem bösen Tun, so reut mich das Unheil, das ich ihm zugedacht hatte. Hier „reut“ es Gott, seine Geschöpfe zu sehen, die ihre Herrlichkeit mit Bosheit, ihren schalom („Frieden“) mit chamas („Gewalttat“) vertauscht haben.

Das Verb nacham ni. wird sehr unterschiedlich im Deutschen wiedergegeben: sich etwas reuen lassen, über etwas Leid, Mitleid empfinden, sich Trost verschaffen, sich trösten lassen usf.101 Der Begriff kann auch eine Veränderung des Subjekts selbst „in bezug auf eine bestimmte Situation oder seines Willens“ beinhalten. Bei Menschen bezeichnet das Verb „Reue“ im deutschen Sinn des Wortes, „die Abkehr von schuldhafter Absicht oder Tat, bei Gott nie“.102 Wenn Gott „bereut“, heißt das in fast allen Belegen, er verzichtet darauf, seinem Zorn freien Lauf zu lassen und ein berechtigtes Vernichtungshandeln durchzuführen (z. B. Amos 7,1–6; Jona 3,10; Ex 32,14).

Neunmal im AT bezieht sich die Nifal-Form auf das „Bedauern“ Jahwes oder die Änderung seiner Entscheidung. Gott bleibt trotz allem der Menschheit treu. Gottes wandelnde Haltung spiegelt die Wandlungen im Verhalten der Menschen wider. Dieses Zurücknehmen eines Drohwortes oder Beschlusses Gottes, dieses „Bereuen“, ist sonst immer gleichzusetzen mit Heil, Gnade und Erbarmen. „nhm bei JHWH ist ein Akt der Identifikation mit der Schwachheit des Menschen“.103 Weil für die Generation der Sintflut kein Raum für Gnade mehr blieb, tritt das zweite Wort hinzu: Es „schmerzte ihn in sein Herz hinein.“ Das Bedauern über die Erschaffung der Menschen leitet die Erwählung Noahs ein.104 Nach der Flut, in Gen 8,21, erklärt Gott, die Bestrafung der Menschen nicht zu wiederholen, mit eben der Formel, die in Gen 6,5 ihre Vernichtung begründete (denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an)! Das Wesen des Menschen ändert sich nicht durch Strafe. Dazu bedarf es einer Erneuerung von innen heraus, wie an einigen Stellen im AT bereits angedeutet (etwa Hes 36,26). Gott akzeptiert nun die letztlich unverbesserliche Natur des Menschen in Geduld und Erbarmen.

» Der (mit)leidende Gott

Kann Gott Leid empfinden? Ist er dann noch Gott? Eine Aussage, die an die Grenze des Fassbaren geht. Oder man kann, wie unser Freund Will Durant, ein allzu menschliches Zerrbild von Gott annehmen. Die griechischen Philosophen zur Zeit Jesu hielten gerade das Gegenteil, den unberührten, den nicht empfindenden Gott, für wahrhaft göttlich! Unerschütterlichkeit, stoische Gemütsruhe war das Ideal, dem man anhing! Lange Zeit galt es in der Theologie als undenkbar, dass Gott leiden könne.105 Die Mehrheit der patristischen Autoren sah am Kreuz den Menschen Jesus leidend, nicht aber Gott in Christus. Martin Luther sprach sich für die Möglichkeit aus, dass Gott doch leiden könne, er sprach vom „gekreuzigten Gott“. 1972 folgte Jürgen Moltmann mit seinem kontrovers diskutierten Buch „Der gekreuzigte Gott“ Luthers Spuren. „Wer nicht leiden kann, kann auch nicht lieben“.106 Das Leiden der Welt müsse vom Kreuz Jesu her gedeutet werden. Gott litt am Kreuz mit seiner Schöpfung. Gott kennt das Leid dieser Welt, nicht als Beobachter, unbewegt, sondern als liebender Vater, dessen Herz es dabei schier zerreißen mag. Um den Anthropomorphismus der hebräischen Bibel zu vermeiden, übersetzten die Männer der Septuaginta: Gott dachte nach und Gott plante! Die hebräische Bibel aber erklärt: Gott leidet an seiner Schöpfung. Er trägt ihren Schmerz mit. Stärker kann man nicht mehr ausdrücken, wie jemand liebt und mitfühlt!

In Gen 3,16.17 (viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst, unter Schmerz bringst du Kinder zur Welt … Mit Mühsal wirst du dich davon ernähren, dein Leben lang) und 5,29 (Er wird uns aufatmen lassen von unserer Arbeit und von der Mühsal unserer Hände um den Ackerboden) werden die Schwangerschaftsmühen der Frau und die Mühen des Mannes bei der Feldarbeit mit der gleichen Vokabel, einer dem Verb in Genesis 6 verwandten Wurzel, bezeichnet (izzavon). Mann und Frau erhalten gewissermaßen den „gleichen“ Schmerz. Die Mühsal der Geburt wird mit einer verwandten Vokabel (ezev) wiedergegeben. Das dazu gehörige Verb azav, das in Gen 6,6 Gottes Schmerz beschreibt (Gen 6,6b wajjitazzev), drückt gewöhnlich die intensivste Emotion des Menschen aus, eine Mischung zwischen Empörung und tiefster Verletztheit. Das Verb zeigt einen „Zustand psychischer oder emotionaler Not“ an, was u. a. auch durch Begriffe unterstrichen wird, mit welchen das Verb verwendet wird (wie „Zorn“, „Sorge“ oder „Trauer“).107

So fühlten die Brüder Dinas, nachdem sie von der Vergewaltigung ihrer Schwester hörten (Gen 34,7 hitp.), so reagierte Jonatan, als er erfuhr, dass sein Vater David töten wollte (1Sam 20,34 ni.), so wird der Schmerz Davids beim Tode seines Sohnes Absalom beschrieben (2Sam 19,3 ni.). Von einer Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, heißt es in Jes 54,6, sie sei „verlassen und im Geist tiefbekümmert“ (q.). Noch zweimal – außer an unserer Stelle – wird das Wort auf Gott angewendet: In Psalm 78,40 (über Israel, das Gott oft „in der Wüste kränkte“ hi.) und in Jes 63,10 (das Volk, das „widerspenstig war und seinen Heiligen Geist betrübte“ pi.)! In dieser Vokabel schwingt demnach tiefe Trauer und das Gefühl des Verrats und der Verlassenheit mit.

Diese Emotion wird hier von Jahwe ausgesagt, der seine Geschöpfe vernichten muss! Im Gegensatz zu allen Göttern der Umwelt, die ihren Vernichtungsbeschluss stets nach der Tat bereuen (weil sie selbst von den Wassermassen bedroht werden oder verhungern, da keine Menschen mehr ihnen Speisopfer darbringen!), schmerzt Gott sein Beschluss vor der Aktion. Nicht aus Zorn, sondern in tiefer Anteilnahme ringt sich Gott dazu durch!108 Das ist übrigens ein weiteres Kennzeichen, womit Gott sich von den Göttern der Welt unterscheidet: An keiner Stelle der ersten Kapitel der Bibel, weder beim Sündenfall noch bei Brudermord, noch beim Turmbau, noch hier (!), ist vom Zorn Gottes die Rede! Im Buch Genesis wird nur einmal indirekt vom Erzürnen Gottes gesprochen, in Gen 18,30.32, wo Abraham für die möglicherweise vorhandenen Gerechten in Sodom und Gomorra mit den Worten eintritt: „Zürne doch nicht (al-na jichar), mein Herr, wenn ich weiterrede …“

Der erste Zornausbruch Gottes im AT geschieht im Kontext der Befreiung Israels aus Ägypten, in Ex 4,13–14 „und der Zorn des Herrn entbrannte gegen Mose“ (wajjichar-af adonai bemosche) – nachdem Mose sich zum fünften Mal (!) geweigert hatte, Gottes Sendung zum Heil seines Volkes anzunehmen, dies mit den Worten „sende doch, wen du senden willst“ (schelach-na bejad-tischlach) und danach in Ex 15,7–8 in Moses Lied der Rettung. Vom Zorn Gottes gegen sein Volk lesen wir zum ersten Mal in Ex 32, in der Erzählung vom Goldenen Kalb, „auffällig konzentriert (dreimal) in den Versen 7–14 … Das alttestamentliche Gottesvolk verwirft seinen Gott schon in der Stunde seiner grundlegenden Offenbarung, genauer: im ersten Moment, in dem es ohne seinen Führer und Mittler Mose ist … in Ex 32 ist vom Zorn Gottes nur die Rede, weil er nicht vollstreckt wird. Das biblische Israel bekennt mit der Erzählung in Ex 32 das Wunder seiner Existenz trotz todeswürdiger Schuld.“109 Der Gott der Bibel ist nicht getrieben von Zorn. Er reagiert jedoch heftig, wenn man sich seinem Heil und seiner Retterliebe widersetzt. Als er die Bosheit und Verlorenheit der Menschen sieht, tut es ihm leid um ihr Ergehen. Wir lesen von Reue und tiefem Schmerz. Auf das unheilbar böse Herz der Menschen (V. 5) reagiert Gott mit einem Herz, das Leid und Schmerz erwidert, ein Herz, das leidet, weil das Gericht unausweichlich ist.

 

Besonders in den Gerichtsworten der Propheten könne man „den Schmerz Gottes“ mithören, so der Neutestamentler Ulrich Wilckens, „der in seinem Wesen barmherzig und gnädig, gütig und treu ist, aber auf das Tun seines abtrünnigen Volkes entgegengesetzt reagieren muß und seinen Zorn nicht mehr hintanhalten kann. Dieser Gegensatz in Gott ist nahezu allen Propheten durchaus bewußt. An vielen Stellen klingen Elemente von Ex 34,6f. an, ja hier und da steht der ganze Wortlaut dieser ‚Gnadenformel‘ im Blick.“110

Dies wird bestätigt durch das Ende der Fluterzählung in Gen 8,21f, „wo JHWH seinen Vernichtungsbeschluss durch einen Akt der Barmherzigkeit zurücknimmt und damit den Fortbestand der Erde und ihrer grundlegenden Lebensrhythmen zusichert – obwohl die Schuld des Menschen unverändert weiterbesteht.“111 Diese Herzenswandlung Gottes aus Mitleid und Liebe begegnet auch bei Hosea 11,1–11. Israel, so Vers 7, hat sich nicht geändert (vgl. Gen 8,21), aber Gott (Vers 8 nehpach alaj libbi)112. Der Stimmungswandel Gottes von 6,5 zu 8,21 kann erklärt werden mit den nach der Flut geänderten Bedingungen (­Noahbund als Bestandsgarantie des Lebens). Die Menschheit nach der Flut ist nicht besser als zuvor, nur wird Gott von nun an den jeweils einzelnen Täter zur Rechenschaft ziehen, nicht mehr das Kollektiv. Auch der religionsgeschichtliche Vergleich unterstützt diese Deutung: Im Gilgámesch-Epos wird der für die Flut verantwortliche Gott Enlil kritisiert:

Ea öffnet seinen Mund und spricht, er sagt zu Enlil, dem Helden, Du, der Weise unter den Göttern, der Held, wie nur konnte es geschehen, dass du keinen guten Rat erteiltest, sondern die Sintflut sandtest? Nur dem, er selbst eine Sünde beging, laste seine Schuld an! Nur dem, der eines Fehlers sich schuldig machte, laste seinen Fehler an!113

Das ist auch der Tenor des biblischen Berichts: Nicht mehr soll das Menschengeschlecht kollektiv bestraft werden. Nun soll mithilfe eines Rechtssystems das individuelle Fehlverhalten geahndet werden (vgl. Gen 9,6).114

» Gott reagiert im Gericht …

„Ich werde wegwischen …“ Gott ist nicht launisch, nicht gemütskrank oder grausam. Er sieht, dass der Mensch in seiner Freiheit dabei ist, die Hölle auf Erden zu schaffen, ein Leben in Gewalttat und Bosheit. Der gesamte Einflussbereich des Menschen ist infiziert, ist verdorben. Das Übel kann nicht mehr geheilt und rückgängig gemacht werden. Gott bewahrt das Leben auf die einzig mögliche Art: indem er den einzig „exemplarisch“ Gerechten bewahrt. Und so gibt es in diesem düsteren Gemälde einen hellen Schein.

» … und im Heil

„Aber Noah fand Gunst in den Augen des Herrn“! Was ist das für ein Mensch, der dem Gericht entkam? Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen war Noah ein rechtschaffener, durch und durch redlicher Mann, der in enger Verbindung mit Gott lebte. Die Augen Gottes, die zu Beginn all das Böse sahen, sehen mit Barmherzigkeit und Gunst auf den, der mit Gott lebt, der ihn sucht.

Vers 9:

Noah war ein gerechter Mann (isch zadiq)

und vollkommen (tamim) unter seinen Zeitgenossen;

Mit Gott wandelte (hithallech) Noah

Drei Dinge werden von Noah ausgesagt:

1. Er war „gerecht“, wie viele im AT. Zadiq begegnet 206-mal im AT, vor allem im Psalter und in den Sprüchen. Oft in Kontrast zum „Frevler, Bösewicht“ (Ps 1). Besonders von Menschen, die das Gesetz halten.

2. Er war „ganz, vollkommen“, eine schon seltenere Charakterisierung. Die Wortwurzel bedeutet „Ganzheit, Vollständigkeit“. Ein Fachwort für fehlerfreie Opfertiere (Lev 1,3 u. a.), das allein Gott dargebracht werden darf. Der tamim enthält sich allen Unrechts (Hes 28,15) und wandelt in Gottes Geboten (Ps 119,1). Beispiele sind Hiob und Abraham (Gen 17,1).

3. „… mit Gott wandelte Noah“. Das lesen wir nur noch von Henoch (Gen 5,24 wajjithallech chanoch et-ha’elohim)! In Noahs Fall steht Gott betont an erster Stelle (Gen 6,9 et-ha’elohim hithallech-noach).

Das heißt: Noahs Charakterisierung ist steigernd angelegt: gerecht – wie viele im AT > vollkommen – wie einige wenige > wandelte mit Gott – wie nur noch Henoch. Noah lebte zwischen zwei Zeitaltern, vor und nach der Flut, gewissermaßen zwischen zwei „Generationen“ (der hebr. Text Gen 6,9 hat den Plural „Generationen“ bedorotaw). In beiden war er der beispielhaft Gerechte! Und so lesen wir ganz am Ende des Flutberichtes etwas Merkwürdiges: Und Noah baute Jahwe einen Altar (Gen 8,20). Das erste Bauwerk, das in der „Neuen Welt“ errichtet wurde, war ein Altar für Jahwe, den Herrn über Leben und Tod! Nach der Krise, angesichts von Chaos und Schlamm, bevor er an ein Dach über dem Kopf denkt, betet dieser Noah Gott an. Folglich ist eben dies das Elementare für ihn, dass der Kontakt und das Zwiegespräch mit Gott nicht abreißen; folglich muss zuerst dieses Fundament gelegt sein, auf dem aller Aufbau und alles weitere Leben gegründet sein sollen.115

Und nun? Der Verweis auf die überwiegend vielen „hellen“ Momente im AT macht die „dunklen“ Seiten des Buches nicht erträglicher oder besser. Man kann diese Frage nicht durch Anhäufung andersartiger Berichte klären. Die Antwort darauf liegt nicht in unserem Wissen über Gott, sondern in unserer Haltung vor Gott. Es ist eine Frage der Beziehung, nicht der Erkenntnis. Noah lebte in dieser Beziehung mit seinem Gott. Daher konnte er Altäre bauen anstelle religionskritische Bücher zu schreiben.

Leben und Tod, Frieden und Gewalt – diese ungleichen Paare werden die Welt begleiten, solange sie besteht. Die Bibel verursacht sie nicht, sie zeugt nur von ihnen. Es ändert nichts, diese dunklen Seiten aus dem Buch herauszureißen. Wir haben Gott nicht zu kritisieren, wenn seine Wege uns nicht gefallen. Auch in ihnen ist er uns nahe (Ps 23,4; Ps 27,1). Viele Menschen vertreten heute die Position aus Hiob 2,9: Lästere Gott und stirb! Unsere Antwort darauf sollte mit Vers 10 lauten: Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?

Noah und Hiob zeigen exemplarisch: Wir finden Vorbilder nicht nur im NT, sondern in besonderer Weise auch im AT. Das ist die Schrift, die von Jesus zeugt (Joh 5,39). Wer „Mose“ glauben kann, glaubt auch Jesu Wort (Joh 5,46f). Gottes Wort redet auch heute noch zu jedem, der hören will. Wenn immer wir das Alte Testament lesen, sollten wir es in der Haltung tun, die Pfarrer Wilhelm Busch auszeichnete:

Wenn ich die Bibel aufschlage, dann geht es mir so, wie es mir erging, als ich im Feld Telephonist war. Da hatten wir einen sehr unansehnlichen, mitgenommenen Apparat. Nun hatte ich eines Tages mühsam die Verbindung hergestellt aus der Feuerstellung mit dem Regimentsstab und wartete auf den Befehl des Kommandeurs. Da kommt einer daher und sagt: „Was hast denn du für einen Apparat. Der ist ja jämmerlich. Der ist einer deutschen Armee unwürdig!“ Ich erwiderte nur: „Halt den Mund! Ich habe jetzt keine Zeit, auf dich zu hören. Ich muss hören, was am anderen Ende der Leitung gesagt wird.“ So ist es, wenn ich das Alte Testament aufschlage. Da muss ich hören, was am andern Ende gesagt wird. Da redet nämlich Gott.116