Der Gott, der uns nicht passt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Landgabe muss auch unter dem Aspekt des Gerichts gesehen werden, als Strafe für die überwältigende Bosheit der ursprünglichen Bewohner (Gen 15,16; Ex 34,13–16; Lev 18,25; Dtn 9,5; 20,18 u. a. m.). David Lamb, Professor für Altes Testament in Hatfield, Pennsylvania, geht sogar so weit, hier ein Beispiel für Gottes langmütigen Charakter zu sehen. Schon in Gen 15,16 wurde festgestellt, dass „das Maß der Schuld“ der Bewohner Kanaans „noch nicht voll war“. Obwohl sie schon Jahrhunderte früher Strafe verdient hätten, wartete Gott, der „langsam zum Zorn“ ist, ab und ließ den Menschen Zeit zur Umkehr.43 Dies führt uns zum zweiten Einwand hinsichtlich des Zornes Gottes.

In den ersten Kapiteln der Bibel, im Buch Genesis wird nirgends vom Zorn Gottes geredet, doch das ändert sich sehr deutlich im restlichen AT (auch im Neuen Testament gehört die Warnung vor Gottes Zorn (Joh 3, 36; Röm 1,18; 12, 19; Eph 5,6) zu den Glaubensinhalten. Das Jüngste Gericht wird unter anderem als „Tag des Zorns“ (Röm 2,5) beschrieben. Der Offenbarung des Johannes zufolge steht eine letzte Stunde großen Zornes Gottes noch aus (Offb 14,19; 19,15).

Das Widerstreben gegen Gottes Führung, die Mißachtung seiner Gebote, der Abfall zu anderen Göttern führt den Z[orn] G[ottes] gegen sein Volk herauf (Num 11, 1; 12, 9; Dtn 1, 34 ff.; 32,16; Ri 2, 13 ff.; Ex 32; 1Sam 15) … Trotzdem tritt der Z. nie als gleichberechtigter Wesenszug Gottes neben Heiligkeit, Liebe und Macht. Die Gewißheit, daß das Erbarmen immer wieder über den Z. hinweggreift (Ex 20, 5 f.; 2Sam 12, 13; 24, 16; Jes 40, 2; 51, 22), … daß Jahwe nicht nachträgt (Jes 57, 16; Mi 7, 18; Ps 103,8 ff.), sondern in Langmut zuwartet und warnt (Ex 34, 6 f.; Num 14, 18; Jes 48, 1), vor allem aber die Ausblicke auf eine die Zeit des Z.es abschließende Heilszeit lassen die Begrenztheit des Z.es gegenüber dem göttlichen Heilswillen stärker hervortreten und bahnen den Weg zu einer Heilsgewißheit, die den Z. als das Mittel zur Heilsbeschaffung positiv zu würdigen wagt.44

In Jes 54,7 wird der kurze Zorn Gottes und seine lange Gnade mit der abschließenden Gottesrede der Sintflutgeschichte verglichen. Die Wut Gottes wird in einem Bild mit dem Aufwallen der Wasser gesehen, die aber letztlich der immerwährenden Güte Gottes weichen müssen:

Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen werde ich dich sammeln. Im aufwallenden Zorn habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade werde ich mich über dich erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. Wie die Tage Noahs gilt mir dies, als ich schwor, daß die Wasser Noahs die Erde nicht mehr überfluten sollten, so habe ich geschworen, daß ich dir nicht mehr zürnen noch dich bedrohen werde. Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Gnade wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Bedeutsam ist, dass der Gott des AT gerade nicht durch seinen Zorn definiert wird, sondern dadurch, dass er „langsam zum Zorn“ (hebr. erech apajim) ist! Diese Beschreibung Gottes findet sich quer durch alle Gattungen und Abschnitte des AT, in historischen (2 Mose 34,6; Neh 9,17), prophetischen (Joel 2,13; Jona 4,2) und poetischen Texten (Ps 86,15; 103,8). Die Langmütigkeit Gottes „gehört so sehr zu Jahwes Charakter, dass er sie sogar in seinen Namen einschließt“45:

Und Jahwe ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Jahwe, Jahwe, mitfühlender und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden (von Generationen), der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten Generation. (Ex 34,6f)

Grundaussage des AT ist demnach, dass Gott gnädig und barmherzig ist. Dieses „Herzstück alttestamentlichen Gottesglaubens fokussiert wie in einem Brennglas dunkle und helle Seiten von Gottes Wesen: In der Verbindung von begrenztem Gericht und unendlichem Erbarmen deckt dieser Text das Wesen des Israelgottes in einer Weise auf, wie es im Alten Testament nie mehr überboten oder korrigiert wird. Zu Recht kann darin ein ‚Schlüssel‘ des Alten Testaments gesehen werden.“46 Das alttestamentliche Konzept der Affekte unterscheidet sich, wie Johannes Schnocks ausführt, deutlich von dem griechisch-abendländischen:

Im letztgenannten herrscht die sog. Behältermetapher („er ist voll von Zorn/Hass/Liebe“). Der Mensch ist gleichsam angefüllt wie ein Gefäß und hat die Aufgabe, diese Emotionen in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen. Im AT findet sich diese Behältermetapher so gut wie nicht. Gefühle kommen hier von außen an den Menschen heran. Es gibt objektive äußere Gründe für sie, man kann sich ihnen nicht wirklich entziehen. Dafür helfen äußere Normen (vgl. 2Sam 13,12 „so was tut man nicht in Israel“). Ps 78,58f: „Sie erbitterten ihn mit ihrem Kult auf den Höhen und reizten seine Eifersucht mit ihren Götzen. Als Gott es sah, war er voll Grimm und sagte sich los von Israel“: Wichtig ist hier, dass klare Gründe angegeben werden, die den Emotionsausbruch Gottes als angemessen erklären. Es ist gerade nicht die Rede davon, dass Gott seinen Zorn erst beherrscht habe, dann aber „explodiert“ sei. Sondern das Hören führte unmittelbar zur Reaktion des Zorns. Daraus folgt für das biblische Gottesbild, dass die Rede vom „Gotteszorn“ zwar für den Menschen bedrohliche Widerfahrnisse – wie Kriege, Katastrophen, Erdbeben etc – theologisch erklären hilft, als dunkle Gotteserfahrung. Aber es ist dabei gerade nicht ausgesagt, dass Gott willkürlich handelt. Gott hat immer, wenn auch für den Menschen z. T. verborgen, Gründe für sein Handeln (vgl. Offb 16).47

4 Kritik erlaubt … im Gebet

Es scheint eine Eigenschaft des modernen Menschen zu sein, sein Gottesbild, wenn er denn an Gott glaubt, entsprechend eigener Wünsche und Vorstellungen zu modifizieren. Texte, die nicht in dieses Bild passen, werden uminterpretiert bzw. der darin beschriebene Gott kritisiert.

Der Mensch hat ... heute eher den Eindruck, dass Gott gerechtfertigt werden müsse, als dass der Mensch selber vor und durch Gott ... ein ­Gerechtfertigter werden müsse“.48

Klaus-Stefan Krieger moniert die „überhebliche Souveränität, mit der wir uns heute gerne über die Texte stellen und ihren Inhalten moralische Zensuren erteilen“. Was wäre, wenn wir nicht „gut situierte Mitteleuropäer“ wären, sondern Verfolgte und Unterdrückte, zum Beispiel „Christen im Südsudan“, und fragt: „Wie würden wir handeln?“49 Während der moderne Mensch Gott für die Probleme der Welt verantwortlich zu machen und ihn zu kritisieren pflegt, gibt es für den biblischen Beter diese Option nicht. Selbst der vermeintlich von Gott Verlassene (Ps 22) und der, welcher Gott als Feind empfindet, kann nicht von ihm lassen. So etwa im dunkelsten Lied, Psalm 88, dessen letztes Wort „Finsternis“ ist: „Es geht um die Hoffnung auf den rettenden Gott … Von dieser Hoffnung will er … nicht lassen. Auch wenn alles dagegen spricht“.50 Und Johannes Schnocks kommentiert: „Das Gebet dieses Psalms selbst ist die stärkste Bestätigung, dass das Ich sich noch nicht vom Gott seines Glaubens verabschiedet hat, sondern geradezu trotzig an dem festhält, den es als Feind erlebt“.51

Dass der Mensch das Recht habe, Gott zu hinterfragen, unterstützt die Bibel offenbar nicht:

• Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR. Denn wie der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. (Jes 55,8f)

• Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege … (Röm 11,33)

• Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden? Ja freilich, o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich so gemacht? (Röm 9,19f)

Der wichtigste Text, der sich mit der Frage nach einem gerechten Gott angesichts von Leid auseinandersetzt, ist die Weisheitliche Lehrschrift des Hiob, eines frommen Herdenbesitzers, der vermutlich im Nordwesten der arabischen Halbinsel lebte, also kein Israelit war. Hiob hatte drei Freunde, die wie allgemein üblich an der Formel festhielten, dass jedes Unheil eine Ursache hat (Tun-Ergehen). Konsequent suchten sie daher – weil Gott nicht ohne Grund strafe – fieberhaft nach einer verborgenen Sünde oder Schuld des Hiob (manchen Haltungen einzelner christlicher Gruppierungen nicht unähnlich). Die Alternative wäre, an der Gerechtigkeit Gottes zu zerbrechen, wie es beinahe (Ps 73,2) dem Beter des 73. Psalms passiert wäre. Viele Lösungsmöglichkeiten gibt es nicht. Und diese werden ausführlicher im Buch Hiob als in jedem anderen biblischen Buch theologisch gründlich durchgespielt.52 Im Eröffnungsteil (Prolog 1,1–2,10) werden die Personen und die Situation vorgestellt (Hiob, Familie, Gott, Satan), an dessen Abschluss festgestellt wird: „Bei alldem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen“ (2,10). Dazwischen, im Hauptteil, finden sich die Redeblöcke der Freunde und Hiobs. Ab 38–41 folgt Gottes Rede an Hiob. Am Ende, ab 42,7–17 (Epilog), wird das grausame „Experiment“ abgebrochen, Hiob wiederhergestellt.

Hiob bekam keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Leidens. Aber Gott gibt ihm seine souveräne Macht zu verstehen, die alles schuf und alles in Ordnung hält (38–41), auch wenn der Mensch das nicht erkenne. Gott rechtfertigt sich hier auch nicht, sondern weist Hiob sogar noch zurecht (38,1.2: „Da antwortete der HERR dem Hiob aus dem Sturm und sprach: Wer ist es, der den Ratschluß verdunkelt mit Worten ohne Erkenntnis?“ 40,8: „Willst du etwa mein Recht zerbrechen, mich für schuldig erklären, damit du gerecht dastehst?“)

Hiob sprach zu Gott, hielt an ihm fest, selbst in Verzweiflung über Gottes Handeln. Seine Freunde redeten über Gott. Ihre Theologie war ein reines Vergeltungsdogma: Sie reduzierten Gottes Wesen auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang. Hiob gibt Gott in seiner Bußrede 42,1–6 vollkommen Recht und hört auf, sich selbst und sein Leiden als Mittelpunkt der Welt zu sehen. Er hatte sich zum Maßstab der Beurteilung von Gott und Welt gemacht:

 

Ich habe erkannt, daß du alles vermagst und kein Plan für dich unausführbar ist … So habe ich denn mich geäußert und verstand nichts, Dinge, die zu wunderbar für mich sind und die ich nicht kannte … Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich gesehen. Darum verwerfe ich mein Geschwätz und bereue in Staub und Asche. (42,2–3.5–6)

Die vollständige Ergebung in Gottes Willen führte Hiob in die Freiheit, sein Los anzunehmen. „An dieser Stelle endet die Theologie und fängt die Erfahrung an, dass Gott der tragende und ewige Grund von Existenz und Welt ist.“53 So haben wir entgegen der Übel in der Welt an einen gerechten und gütigen Gott zu glauben, der alles nach seinem Plan ordnet. Das ist keine Antwort, die unseren Verstand befriedigt. Aber es ist die korrekte Antwort (vgl. Röm 9,19f), eine Antwort, die nur in der persönlichen Begegnung mit Gott möglich ist (Hiob 42,5–6). Mit Horst Georg Pöhlmann dürfen wir feststellen: „Wir wissen nicht, was es für einen Sinn hat, daß Gott so viel Böses in der Welt zuläßt; aber Gott weiß es, das muß uns genügen. Seine ‚Gedanken‘ sind ganz anders als die der Menschen (Jes 55,8), wie er ganz anders ist als der Mensch, … Wäre er das nicht, dann wäre er nicht Gott … Müßte Gott sich rechtfertigen, dann wäre er nicht Gott“.54 Die Bibel zeigt, dass der legitime Ort, mit dieser Frage umzugehen, die Klage ist, das persönliche Gebet zu Gott. Unsere Fragen, unsere Ängste, ja, auch unser Zorn haben hier ihren Platz. Sehr oft sehen wir das in den sogenannten „Klageliedern“ des Psalters. Dort wird gerade angesichts erlittenen Leids die Warum-Frage an Gott immer wieder gestellt:

Warum hast du mich verlassen? (Ps 22,2)

Jahwe, Gott der Heerscharen! Bis wann zürnst du trotz des Gebets deines Volkes? Du hast sie mit Tränenbrot gespeist, sie in reichem Maß getränkt mit Tränen. Du setztest uns zum Streit unseren Nachbarn, und unsere Feinde spotten über uns. (Ps 80,5–7)

Du hast zu reine Augen, um Böses mitansehen zu können, und Verderben vermagst du nicht anzuschauen. Warum schaust du den Räubern zu, schweigst, wenn der Gottlose den verschlingt, der gerechter ist als er? (Hab 1,13)

5 Gnade und Gericht

Es gehört zu den großen Irrtümern vergangener Forschungsperioden, daß, einer allgemeinen Ideologie folgend, Gegensätze zwischen dem Gott der Liebe im Neuen Testament und dem „Gott des Hasses“ im Alten Testament herausgebildet wurden.55

Die Berichte aus 2Kön 1–13 erweisen Elisa als den größten Propheten seiner Zeit und als die herausragende religiöse Gestalt Israels in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts vor Christus. Elisa salbt die künftigen Könige von Syrien und Israel, heilt einen Heerführer von einer schweren Hautkrankheit, vermehrt auf wundersame Weise das Öl einer Witwe, die mit dem Erlös aus dem Verkauf ihre Schulden begleichen kann. Er sagt einer Frau, die ihn gastfrei beherbergt, die Geburt eines Sohnes voraus, obwohl ihr Mann schon sehr betagt ist, und als der Knabe stirbt, weckt der Prophet ihn wieder auf. Gott schenkte durch diesen Mann viel Heil und Gnade, unabhängig von sozialer Stellung oder ethnischer Herkunft. Eine der Geschichten aber ist besonders bemerkenswert, denn sie zeigt Elisa als Friedensstifter zwischen zwei lange verfeindeten Völkern (2Kön 6,12–23). In dieser Geschichte nimmt Gott Elisas Feinden jede Orientierung, wörtlich heißt es in V. 18, er „schlug“ (wajjakkem) sie mit Erblindung. Später (V. 21) wollte der König Israels sie ebenfalls „schlagen“ (gleiches Wort), d. h. töten. Nein, sagt Gott durch den Propheten. Lade sie ein zu einem Festmahl, lass sie essen und trinken und fröhlich sein – und am Leben bleiben! Hier führen Gottes „Schläge“ nicht zur Gewalt, sondern zum Frieden. Die meisten Begebenheiten charakterisieren den Propheten demnach als Wundertäter und mitfühlenden Zeitgenossen. In diesem Licht muss auch die kurze, aber verstörend wirkende Szene aus 2Kön 2,23–25 gedeutet werden. Man sollte also nicht davon ausgehen, dass hier ein Prophet „ausrastet“ oder die Nerven verliert. Vielmehr geht es um Gottesgericht.56

Schon auf den ersten Seiten der Bibel wird Gottes Liebe und Fürsorge für seine Schöpfung deutlich. Gottes Zuwendung zum Menschen zeigt sich in der Urgeschichte in besonderer Weise, etwa in Gen 2, wo Gott wie ein Töpfer dem Menschen, den er bildet, ganz nahe kommt sowie im Anlegen des Paradiesgartens, der wie in Gen 1 dem Menschen fertig übergeben wird. Gen 2–3 nimmt insofern unter allen altorientalischen Schöpfungserzählungen „eine Sonderstellung ein, als der Schöpfergott hier nicht, wie sonst üblich …, das kollektive Menschengeschlecht … schafft, das den Arbeitsdienst der Götter übernehmen soll und dafür (!) entsprechend ausgestattet wird, sondern er schafft ein Menschenpaar, um dessen menschliches Wohlergehen er sich sorgt.“57 Das kennzeichnet den Gott der Bibel (und unterscheidet ihn von den altorientalischen „Kollegen“): Zur Erschaffung des Menschen gehört seine Versorgung.58 Vgl. ferner die Aussetzung des in Gen 2,17 verkündeten Todesurteils – der Tod tritt erstmals durch des Menschen Bruderhass ein, durch Menschenhand, nicht durch Gottes Hand (!) –, die Bekleidung der Menschen (Gen 3,21)59, das Schutzzeichen für Kain, Noahs Gnade und die Segenszusage an Abraham nach der Hybris und Zerstreuung der Menschen (Gen 11 u. 12). „Güte und Menschenliebe“ kennzeichnen den Gott der Bibel (Titus 3,4). Das ist der Gott und Vater Jesu, „der in Jesus Christus am Werk ist, Jahwe, … der Mühe und Arbeit mit seinem Menschen hat, der Geduld beweist und Strafe verschiebt, der mitten im notwendigen Gericht Erbarmen zeigt“.60

Dazu fügt es sich auch, dass wir in vielen Texten des AT eine Sehnsucht des Frommen nach diesem Gott und eine Liebe zu seinen Geboten finden, die ihresgleichen sucht. Es sollte uns zu denken geben, dass gerade die Menschen im AT, die diesen Gott am meisten kannten, ein besonders starkes Verlangen nach seiner Nähe hatten.61

6 AT oder NT?

Das neutestamentliche Christusereignis kann nur vom Alten Testament her vollständig verstanden werden. Das ist die bleibende fundamentale Bedeutung des Alten Testaments für die Verkündigung der Kirche … Wir brauchen die Erinnerung, daß kein neutestamentlicher Schriftsteller sich in der Lage sieht, Jesus Christus zu bezeugen, ohne beständig das Alte Testament aufzuschlagen …62

Wer im AT liest, wird vieles interessant, bewegend und persönlich ansprechend finden (nicht nur Ps 23), anderes aber erscheint fremd oder irrelevant (die Kultsatzungen, manche „merkwürdigen“ Gesetzestexte), ja, vielleicht sogar abstoßend (wie die blutige Eroberung des „Gelobten Landes“ nach Josua 10,40). Man kommt zu diesen endlos langen Geschlechtsregistern, den ausführlichen Angaben zu verschiedenen Opferriten, detaillierten Baubeschreibungen – was soll das mit unserem Leben und Glauben zu tun haben? Man liest und liest, wird müde, und hört schließlich auf. Selbst wer überzeugt ist, dass das AT Wort Gottes ist, muss die Frage klären: Inwiefern sind die altisraelitischen Gebote, Rituale, Berichte etc. relevant für unser Christenleben heute? Große Textteile mit Zeremonialgesetzen bezüglich Opferarten, ritueller Reinheit, Unterstützung des Priester- und Levitendienstes, Festen und so weiter.63 Sagt Paulus nicht sowieso, dass das mosaische Gesetz für den Christen nicht mehr gilt?

Dazu kommt, dass sachgemäße Auslegung des AT einen höheren Grad von Kenntnissen verlangt, als es auf den ersten Blick beim Neuen Testament der Fall zu sein scheint. Das historische Material ist nicht nur umfangreicher, es ist differenzierter. Auch die Textgattungen sind sehr mannigfaltig.64 Vielen Christen ist das Alte Testament fremder und ferner als das Neue Testament. Ein rechtes Verständnis des AT sei eben erst „durch einige Denkarbeit“ zu bewältigen, wie der Alttestamentler Siegfried Herrmann (1926–1999) erklärte. Er berichtet von einem älteren Pfarrer, welcher zugab, er sei froh, nicht über die Sintflut predigen zu müssen, denn da wisse er nicht, was er sagen sollte und kommentierte, es sei

erstaunlich zu beobachten, wie die oft ungewöhnlich plastischen Texte im Munde der Prediger verblaßten, die sich mit einigen wohlgemeinten historischen Reminiszenzen begnügten, um möglichst rasch den Namen Jesu Christi zu nennen. Dieser Name war dann aber an seiner Stelle nicht die Krönung einer durchdachten ausgewogenen Textauslegung, sondern er war zu einer bloßen Vokabel degradiert, die den günstigen Absprung in die seichteren Wasser allsonntäglicher Kanzel-Erbaulichkeit in wohlvertrauter Begriffssprache ermöglichen sollte.65

Es ist keine gute Lösung, das AT zu ignorieren, wie im Beispiel des eben erwähnten älteren Predigers. Viel problematischer scheint mir aber, eine radikale Trennung (radical discontinuity) zwischen beiden Testamenten aufgrund ihres vermeintlich unüberwindlichen Gegensatzes zu postulieren (der lange Schatten Marcions). Für diesen „hermeneutischen“ Ansatz spricht sich Professor C. S. Cowles von der Point Loma Nazarene University in San Diego aus.66 Nach Cowles können die in manchen Texten berichteten Grausamkeiten (atrocities, a. a. O, 15) nicht mit dem Gott Jesu in Verbindung gebracht werden. Passagen wie Dtn 7,2; Jos 6,21; 10,40 oder 1Sam 15,3 stünden Jesu Gesinnung total entgegen („Not so Jesus!“ a. a. O., 30)! Um diese Diskontinuität der beiden Testamente aufrechtzuerhalten, muss Cowles einige Bibeltexte als spätere, menschliche Zusätze ausscheiden: „When Jesus affirmed the Hebrew Scriptures as the authentic word of God, he did not endorse every word in them as God’s.“

Dazu zählen nach Cowles praktisch alle mosaischen Gebote, die Diskriminierung oder Gewalt beinhalten: „His command to ’love your enemies’ (Matt. 5:44) represents a total repudiation of Moses’ genocidal commands and stands in judgement on Joshua’s campaign of ethnic cleansing.“67

Wenn Gott nie irgend eine gewaltsame Aktion von Israel forderte, wirft das aber – wie Eugene H. Merrill zu Recht feststellt – erhebliche Fragen an die Glaubwürdigkeit der biblischen Zeugen auf68. Außerdem unterschlägt man dann zugleich Aussagen wie Offb 19,11–15 (auch das NT enthält „Gewalttexte“, besonders die Offenbarung des Johannes). Dass nach Cowles Vorstellung Christen nicht Gott als „Vater Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Ex 3,6) betrachten sollten, sondern als „Vater unseres Herrn Jesus, den Vater der Erbarmungen und Gott allen Trostes“ (2Kor 1.3)69, untergräbt in bedenklicher Weise die Tatsache, dass der Gott des Alten Bundes auch der Gott Jesu ist (vgl. Mt 22,32; Apg 3,13; 7,32)!

7 AT und NT!

The church can never be parted with the Old Testament.70

Wir brauchen die Autorität, die uns von Gott und Jesus erzählt. Die Bibel hat Autorität: Sie erhält sie von Gott, über den sie spricht. Was würden wir über Gott wissen, wenn das Alte und Neue Testament nicht wären?71

Der Anhang des Nestle-Aland-Textes listet ca. 3000 Anspielungen oder Zitate aus dem AT im NT auf!72 Ohne das AT wäre das NT wesentlich kürzer und weniger verständlich! „So gut wie keine at.liche Schrift bleibt innerhalb des NT ohne Spuren, wobei Gen, Dtn, Jes, Kl. Proph. und Pss besonders häufig zitiert werden.“73

Doch obwohl auch das Alte Testament Autorität über Lehre und Glauben beansprucht, gibt es Passagen, die im Alltag christlicher Frömmigkeit keine große Rolle spielen. Dazu gehören die vielen Anweisungen des Zeremonialgesetzes, das Kult und Tempeldienst regelt. Relevant erscheint uns aber das Moralgesetz, besonders die „10 Gebote“.74 Das AT differenziert jedoch, jedenfalls von der Anordnung der Texte her, nicht zwischen unterschiedlichen Gesetzesinhalten: Lev 19,18f überliefert unmittelbar nebeneinander das Gebot der Nächstenliebe und die Mahnung, nicht „zweierlei“ Tiere, Feldfrüchte, Gewebesorten zu „vermischen“. Den ersten Teil ordnen wir instinktiv als wichtig ein (natürlich, wird er doch auch von Jesus aufgegriffen, s. u.), den Rest halten viele heute für belanglos. Dennoch liegt auch hierin eine wichtige theologische Wahrheit.

Gott begann sein Schöpfungswerk mit einer bedeutenden Trennung (Gen 1,4b): Licht und Finsternis sollten sich nicht mischen. Damit ist zunächst nicht mehr gesagt, als dass der Wechsel des Tages- und Nachtrhythmus eingeführt wird. Die Trennung des Lichtes von der Finsternis bewirkte aber nicht nur die Unterscheidung von Tag und Nacht, sondern auch von Gut und Nicht-Gut, denn Gott sah, dass das Licht gut war, und trennte das Licht von der Finsternis. Der qualitative Unterschied von Licht und Finsternis ist im Alten Testament so ausgeprägt, dass Licht identisch mit Glück und Segen (Am 5,20 u. ö., Ps 27,1 u. ö.), Finsternis mit Fluch und Verderben (z. B. Hiob 30,26) gebraucht werden können. Wenn Jahwes Heil kommt, „dann wird im Dunkeln dein Licht erstrahlen“ (Jes 58,10). Die Schöpfung beginnt also mit einer Grenzziehung und so geht es auch weiter in den nächsten Werken. Fünfmal kehrt das Verb kadal hif. „trennen, unterscheiden“ hier wieder (Gen 1,4.6.7.14.18)! Das Verb beschreibt ein Auseinanderhalten von ungleichen Dingen und ein Aussondern für bestimmte Aufgaben (Lev 10,10; 11,47; 20,25; Lev 20,24.26). Diese schöpfungsgemäße Trennung galt für Israel auch auf anderen alltäglichen Gebieten (Viehzucht, Ackerbau, Gewerbe, Geschlechter, vgl. Dtn 22,5 oder Lev 19,19. Das Leben mit und für Gott erfordert Anderssein (Heiligung), d. h. unter Umständen auch Trennung von bestimmten Dingen.

 

Nicht alle Teile des AT sind von normativer Bedeutung für uns heute. Aber jeder Text hat irgendeine theologische Relevanz, kurz: Man kann das AT nicht „amputieren“. Man muss aber feststellen, dass viele historisch-kulturell festgelegte Bestimmungen uns nicht direkt betreffen können, weil unsere Lebenssituation eine ganz andere ist. Lev 25 etwa beschreibt das Vorgehen bei Besitzveräußerung, das Sabbat- bzw. Jobeljahr, die Löserpflicht, das Sklavenrecht etc. Aber das dahinter liegende Prinzip ist sehr gerecht und sozial: Es sollte mit all dem verhindert werden, dass riesige Ländereien in die Hände weniger Großgrundbesitzer fallen, die eine immer größere Zahl verarmter Bauern aus ihrem Erbbesitz vertreiben oder ausbeuten.

Man könnte also sagen: Die Gesetzgebung ist alt, auf eine fremde Gesellschaft ausgerichtet, oft nicht auf heutige Situationen anwendbar – aber die den Gesetzen zugrunde liegenden theologischen Absichten sind von bleibender Wichtigkeit75. Im Falle der genannten Bestimmungen in Lev 25 wäre herauszuarbeiten:

… the land is God’s and … we live on this earth as aliens and sojourners, holding all that we have as it were on loan from him (vs 23); that God narrowly superintends every business transaction and expects that we conduct our affairs in the fear of him (vss. 17.36.43), dealing graciously with the less fortunate brother in the recollection that we have all been recipients of grace (Vs 38.42).76

Das Buch, das uns am mühsamsten erscheint, mit all seinen Kult-/ Priester- und Opfervorschriften sowie unzähligen z. T. seltsam wirkenden Anweisungen für das alltägliche Leben, Leviticus, bildet die Mitte des Pentateuch und hat die Funktion, Israel als heiliges Volk zu konstituieren, in dessen Mitte Jahwe gegenwärtig sein und wirken will.77 Heiligkeit ist keine Option am Rande – sie bildet das Zentrum.

Egal, wie man zur historischen/naturwissenschaftlichen Glaubwürdigkeit steht, grundlegend ist immer die theologische Aussage dahinter. Den Schöpfungsbericht verstehen manche als wörtlichen Tatsachenbericht, manche lehnen ihn als wissenschaftliches Modell ab – in jedem Fall aber ist seine theologische Aussage autoritativ für Christen, die wie das Volk Israel im Alten Bund zur Heiligung gerufen sind. Echte „Heiligung“, d. h. Absonderung, zieht die Menschen an, statt sie abzustoßen (das verbindet auch mit dem NT [Röm 12,2]):

Siehe, ich habe euch Satzungen und Rechte gelehrt, so wie Jahwe, mein Gott, mir geboten hat, damit ihr also tut inmitten des Landes, wohin ihr kommet, um es in Besitz zu nehmen. Und so beobachtet und tut sie! Denn das wird eure Weisheit und euer Verstand sein vor den Augen der Völker, welche alle diese Satzungen hören und sagen werden: Diese große Nation ist ein wahrhaft weises und verständiges Volk. Denn welche große Nation gibt es, die Götter hätte, welche ihr so nahe wären, wie Jahwe, unser Gott, in allem, worin wir zu ihm rufen? Und welche große Nation gibt es, die so gerechte Satzungen und Rechte hätte, wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege? (5Mo 4,5–8)

Hier wird nicht weniger ausgesagt, als dass, weit entfernt davon, abstoßend oder einengend zu wirken, das „Gesetz“, besser die Weisung Gottes nach dem AT, „Weisheit und Leben“ bedeutet und somit eine Anziehungskraft für die Völker entwickeln würde – wenn Gottes Volk daran festhielte. Als Israel ins verheißene Land kam, gab Gott ihnen das Gesetz, damit sie den umliegenden Völkern zeigen konnten, wie der Lebensstil des Königreiches Gottes aussieht. Nur ganz selten hat Israel dieses Ziel erreicht (1Kön 10,24 Und die ganze Erde suchte das Angesicht Salomos, um seine Weisheit zu hören, die Gott in sein Herz gegeben hatte). Jesaja entwirft das große Bild der Völkerwallfahrt, wo erneut Gottes Weisung und Wort die Massen anziehen werden (Jes 2,3).

Das Verbindende von AT und NT ist vor allem, dass der Vater Jesu der Gott Israels ist, der Gott des AT! Da durch Jesus etwas Neues geschah, ist damit zugleich der Unterschied beider Testamente gegeben. „So enthüllt das Alte Testament, wozu wir einen Heiland brauchen; das Neue verkündet diesen Heiland“. Das Alte Testament ist „weithin Zeugnis von einer konkreten Geschichte, in der Gott geredet hat. … Freilich eine Geschichte eigener Art: ‚Im vierten Jahre Jojakims, … geschah dies Wort an Jeremia vom Herrn‘ (Jer 36). … Das ist das Besondere dieser Geschichte, daß in ihr vom Handeln und Reden Gottes berichtet wird, als dem eigentlich Wichtigen.“78

Verheißung, eine zuversichtliche Erwartung dessen, was Gott in der Zukunft tun wird, gehört zu den Grundmerkmalen israelitischer Frömmigkeit (Ex 15,1–18; Num 23–24; Dtn 33; Gen 49). Von der Patriarchengeschichte bis zur Landgabe zeigt sich diese Hoffnung – „the theme of moving on to fulfillment“.79 Konkreter wurde dies in der Königszeit, in der Theologie des Davidischen Bundes (2Sam 7; Ps 2; 110). Der „Tag Jahwes“ war Element großer Erwartung im 8. Jh. (Amos 5,18–20).80 Aber das AT bleibt gewissermaßen „unvollständig“, es beschreibt Geschichte ohne ein Ende. Die Erfüllung steht noch aus. „Consummation of hope lies beyond the bounds of the Old Testament“.81 Das AT überliefert Heilsgeschichte, aber erreicht dieses Heil nicht.

It is just this fulfillment of unfulfilled promise, this of incomplete history, that the New Testament is principally concerned to affirm. … It does not consist in ethical or religious teachings but is a gospel. … Where the Old Testament expects, the New announces: It has happened! „The time is fulfilled, and the kingdom of God is at hand“ (Mk 1:15).82

Man sollte daher am Begriff „Altes“ Testament festhalten, denn „alt“ ist in keiner Weise antijüdisch; die Begriffe implizieren, dass es wirklich auch etwas Neues gibt. Das zeigt schon das AT selbst: Verheißung des neuen Bundes (berit Jer 31,31ff; 1Kor 11,25); Neues Herz (Ez 18,31; 36,26), Jesajas Antithesen von Neu und Alt (Jes 43,18ff; 48,6), Neues Lied (Ps 40,4; 144,9; Jes 42,10), Neuer Himmel und Neue Erde (Jes 65,17/Offb 21); Neues Jerusalem (Jes 62,2). Im NT entsprechend: 2Kor 3,6; Lk 22,20; 1Kor 11,25; Hebr 7,22; 8,6–9; Mt 7,1–23; Lk 11,20. Dadurch werden die beiden Testamente aufeinander bezogen, aber auch abgegrenzt.83 Das AT ist die Heilige Schrift der ersten Gemeinde und der Apostel! Es ist die Schrift, auf die Jesus sich beruft und die auf ihn weist.