Highway 61 Revisited

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1965 schrieb ein Rezensent: »Dylan hörte sich immer an wie ein Lungenkrebsopfer, das Woody Guthrie singt. Jetzt klingt er wie ein Rolling Stone, der Immanuel Kant singt.«

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Highway 61

 strahlt ebenso wie

Bringing It All Back Home u

nd

Blonde on Blonde

eine gewisse Jugendlichkeit aus, die später nie mehr wirklich zum Vorschein kommt. Zuvor hatte Dylan behauptet, »jetzt jünger als das« zu sein, aber die uralte Müdigkeit blieb und löste sich so lange nicht wirklich auf, bis er seinen Weg zurück zu seinen R&B-Wurzeln fand.



Textlich erkunden und erweitern die Lieder auf

Highway 61

 eine Richtung, die auf den früheren Alben schon zu erkennen war, der hier aber freier Lauf gelassen wird: Die Texte bemühen sich nicht darum, die Außenwelt journalistisch abzubilden, sondern öffnen den Blick in die innerste Wirklichkeit des Verfassers – was in zunehmendem Maße der Blick auf die schwindelerregende Erfahrung eines Mannes bedeutete, der plötzlich mit einem absurden Ausmaß an Ruhm zurechtkommen muss. Und diese Erfahrungen werden nicht in die »Stammessprache« übertragen, wie Mallarmé das nannte, sondern in ein Idiom, das das Chaos im Inneren in seinem vollen Umfang widerspiegelt anstatt es wie früher (vor allem in »Gates of Eden« und »It’s Alright, Ma«) nur flüchtig aufblitzen zu lassen. »Man kann sich nicht vorstellen, wie es war, damals Bob Dylan zu sein«, erinnerte sich sein Freund David Blue:





»Am einen Tag war er noch ein respektierter junger Liedermacher – am nächsten war er dieses Ding – die Stimme einer Generation.

Der Mann, der alle Antworten hat

. Alle wollten was von ihm, dauernd. Sag mir, was ich denken soll. Sag mir, für was ich stehen soll. Es war gnadenlos. Du oder ich hätten diesem Druck nicht standgehalten (…) Und Dylan hat das nicht nur ausgehalten, sondern er hat trotzdem weiter großartige Sachen gemacht, zu seinen eigenen Bedingungen. Aber während sein Leben immer surrealer wurde, wurde auch sein Schreiben immer surrealer.«

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Man stelle sich die Überwältigung und das heillose Entsetzen vor angesichts des Wandels innerhalb eines Zeitraums von gerade mal vier Jahren von einem schüchternen, unbekannten Talent, das nur durch seinen natürlichen Charme und den festen Glauben an sein gottgegebenes Talent aufrecht gehalten wird, zu einem Teenie-Idol. Dylan hätte nie erwartet, wie sehr ihn das mitnehmen würde. In einem offenen Brief an das

Broadside

-Magazin schrieb er dazu:





»Manchmal wird es so schwer für mich



Ich bin jetzt berühmt



Ich bin jetzt berühmt nach den Regeln der



öffentlichen Berühmtlichkeit

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es schlich sich an mich an



und pulverisierte mich ...



ich zitier mal Hr. Froid



Ich werd ziemlich paranoid ...«





In dieser Hinsicht scheint mir

Highway 61 Revisited

 Dylans authentischstes Album zu sein, definitiv dieser Zeit, vielleicht sogar seiner gesamten Karriere. Dylan stellte zwar immer eine

persona

dar, was etymologisch stringent bedeutet, dass er immer Masken getragen hat: erst die der zartwangigen Unschuld seiner Folksänger-Tage, dann die mit Kinngestrüpp während seiner Country-Periode oder die unverhohlene, weiße Gesichtsbemalung der

Rolling Thunder-Revue

. Dagegen scheint

Highway 61

 der einzige Zeitpunkt zu sein, zu dem er uns und sich selbst zeigt, wie denn dieser Bob Zimmermann tatsächlich aussieht und klingt, das einzige Mal, dass er uns auffordert zu verstehen, wie sich das in Wirklichkeit anfühlt, Bob Zim­mermann zu sein: ein Rock’n’Roll-Gör mit dunkler Fantasie, tonnenschwerer Attitüde und kiloweise Unsicherheit. Indem er den elliptischsten seiner Stoffe lieferte, machte er seine klarste Aussage.



Und wie bei jeder Verallgemeinerung dieser Art gibt es auch hier eine Einschränkung. Dylan probierte während seiner gesamten Karriere Stile und lotete Aspekte seiner Persönlichkeit aus, um sie dann – oft lange bevor der Rest der Welt eine Chance hatte, mit ihm Schritt zu halten – wieder aufzugeben. »Restless Farewell«, seine Abschiedserklärung auf

The Times They Are A-Changin’

, ist nicht nur beispielhaft für das Ende seiner reflektierten, ernsthaften Phase der »Schuldzuweisung«, sondern auch für ein zusam­menge­setz­tes Flickwerk aus Originalstü­cken und den Leistungen anderer (in diesem Fall vom althergebrachten »Little Moses«, den er wahrscheinlich sowohl auf Harry Smiths

Anthology

 als auch bei Baez gehört hat); und ganz allgemein als Hinweis darauf, dass er sich unabhängig davon, wo er sich gerade an einem bestimmten Tag befinden wird, in kurzer Zeit wieder »auf den Weg (…) und nen Dreck drum schert«.

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In der persönlichen Mythologie Dylans hat der U.S. Highway 61 eine besondere und wiederkehrende Bedeutung. Die Autobahn verläuft durch Duluth in Minnesota, wo Dylan im Mai 1941 geboren wurde, dann nicht weit entfernt von Hibbing, einer alten, ihrer Ressourcen beraubten Eisenminenstadt, in der er aufgewachsen ist. Er war einer der Hauptstraßen, von der Dylan – fälschlicherweise – behauptete, er sei im Alter von »10, 12, 13, 15, 15 ½, 17 un’ 18 Jahren«

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 auf ihr weggerannt, und auf der er – wahrheitsgemäß – als Teenager in das aufregende Leben der Twin Cities

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 fuhr. Er war die Autobahn, die er im Januar 1959 nahm, als er die 75 Meilen zurück nach Duluth reiste, um Buddy Holly live zu sehen, gerade mal zwei Nächte vor dem tödlichen Flugzeugabsturz des Sängers. Im selben Jahr fuhr er später auf diesem Weg – sporadisch – zu seinem Unterricht an der Universität von Minnesota und – regelmäßiger – zu den Folkclubs in Minneapolis und St. Paul. In »Tangled Up in Blue« lässt sich der Erzähler von »den großen nördlichen Wäldern« runter nach New Orleans höchstwahrscheinlich an dieser Verkehrsader entlangtreiben.



»Der Highway 61, die Hauptverkehrsader des Country-Blues, beginnt etwa dort, wo ich herkomme«, schrieb Dylan in den

Chronicles

. »Ich hatte schon immer das Gefühl, als wäre ich einst auf ihr losgegangen, wäre immer auf ihr geblieben und könnte auf ihr überall hingehen, selbst ins tiefste Delta Country. Es war immer die gleiche Straße, mit den gleichen Widersprüchen, den gleichen Kleinstädten, den gleichen spirituellen Vorfahren (…) Sie war mein Platz im Universum, ich hatte immer das Gefühl, sie sei ein Teil von mir.«

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 Dylan wirbelt nicht nur die prägenden musikalischen Spuren seiner Jugend auf, indem er auf dieser Straße reist, sondern bringt sie – wie das Vorgängeralbum schon andeutete – alle wieder zurück nach Hause.



Dylan sagte mal über die Gegend, aus der er kommt: »Es gibt keinen Ort, dem ich mich jetzt näher fühle, oder der mir so sehr das Gefühl gibt, dass ich ein Teil von ihm bin, New York vielleicht ausgenommen. (…) Ich bin echter North Dakota-Minnesota-Mittlerer Westen. Das ist meine Farbe. So spreche ich. Ich komme aus einer Gegend namens Iron Range. Mein Verstand und meine Gefühle kommen von dort.«

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 Nachdem er ausreichend Abstand zwischen sich und den Norden gebracht hatte und nachdem er die Folkszene des Village und den Columbia-Produzenten John Hammond für sich gewonnen hatte und darauf wartete, dass sein zweites Album in die Läden kommt, konnte er seiner Heimatstadt im Frühjahr 1963 dann auch den folgenden zweideutigen Tribut zollen:





»Hibbing hat die größte offene Erzmine der Welt



Hibbing hat Schulen, Kirchen, Lebensmittelläden und



nen Knast (…)



Hibbing hat frisierte Autos,



die Freitag Nacht volle Pulle vorbeirasen



Hibbing hat Eckkneipen mit Polka-Bands



Man kann am einen Ende der Hauptstraße stehn und am



anderen Ende glatt über die Stadtgrenze rausschaun



Hibbing ist ne gute olle Stadt.«

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Trotzdem bietet der Blick über die Stadtgrenze hinweg jedes Mal die gleichen trostlosen Aussichten: auf die Engstirnigkeit einer Kleinstadt, auf Sparmaßnahmen, lange, harte Winter und den völligen Mangel an Visionen – und Dylans Blick auf Hibbing war selten freundlich. »Es war nur so ‘ne Kleinstadt auf dem Weg nach nirgendwo«, meinte er später. »Man konnte dort kein Rebell sein (…) Es gab ja keine Philosophie oder Ideologie, gegen die man sich hätte auflehnen können.« Jeder Junge, der im Mittleren Westen (oder in einem Vorort) aufgewachsen ist, kennt dieses Gefühl zur Genüge: dass jenseits der Stadtgrenze etwas Größeres existiert, etwas anderes, etwas, das nur durch die Flucht zu erreichen ist. »Ich bin von zuhause weg, weil es dort nichts gab«, sagte Dylan 1965 zu Paul J. Rauben. »Ich werde jetzt nicht so tun, als wäre ich ausgezogen, um die Welt zu entdecken. Im Ernst, als ich da weg bin, wusste ich nur eins: ich musste da raus, und zwar für immer.«

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Der Highway 61 erstreckt sich über eine Länge von 1700 Meilen vom Pigeon River an der kanadischen Grenze bis zum Golf von Mexiko; er ist die Hauptverkehrsader, die die kalte Bergbau-Region des Nordens mit den fruchtbaren blauen Wurzeln des Mississippi-Deltas verbindet. Er ist, zusammen mit seinem westlich gelegenen Vetter Route 66,

der

 mythenumrankte Highway-Ab­schnitt Amerikas. Er führt an den Geburtsstädten und Heimatorten von Muddy Waters, Charley Patton, Son House und Elvis Presley vorbei. An der Kreuzung der Highways 61 und 49 hat Robert Johnson angeblich seinen Pakt mit dem Teufel geschlossen; sein Grab liegt heute in der Nähe des Highway 61 in Greenwood, Mississippi. »Der Highway 61 ist ein enormes Symbol in der amerikanischen Musik, weil auf dem Mississippi, der über weite Strecken parallel zu ihm läuft, auch der Jazz hochreiste«, schreibt Robert Shelton. »Der Jazz kam den Fluss hinauf. Der Blues kam den Fluss hinauf. Eine Menge der großartigen Grundlagen amerikanischer Kultur sind genau über diese Straße und auf diesem Fluß nach oben gereist.«

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 Der Abschnitt des Highway 61 in der Nähe von Clarksdale in Mississippi ist jene Straße, auf der Bessie Smith, die Kaiserin des Blues, 1937 bei einem Autounfall tödlich verunglückte, weil man sich damals Zeit damit ließ, Schwarzen zu helfen, und führt am Memphis Hotel vorbei, in dem Martin Luther King Jr. rund dreißig Jahre später ermordet wurde.

 



Die Reise auf dem

Highway 61 Revisited

 umschließt all diese vielen Ebenen, die musikalischen ebenso wie die mythischen und die autobiographischen. Er führt uns auf eine kreisförmige Reise, die mit dem Aufbruch zu neuen Ufern beginnt und dann einen weiten Bogen schlägt, der zurück zu den alten Wurzeln führt. Er führt uns von oben nach unten und wieder zurück, von der rasenden, städtischen Rockmusik Minneapolis’ auf dem Weg nach New York zum Midnight Blues von Clarksdale, von der Anmaßung des hohen Nordens zum Verfall südlich der Grenze.

Highway 61

 ist auch eines der wenigen Alben, bei denen der Hörer für wiederholtes Anhören belohnt wird. Man fühlt sich danach erschöpft, erheitert, bereit für mehr. Diese 51 Minuten Musik sind so inhaltsreich und anspruchsvoll, man könnte die Platte leicht und gerne wieder und wieder umdrehen und der abschließenden Mundharmonika von »Desolation Row« noch einmal den gewitzten Trommelknall von »Like a Rolling Stone« folgen lassen.







II.









Die A-Seite









1. Die Sprache, die er sprach





Es ist der wahrscheinlich berühmteste Trommelschlag der gesamten Unterhaltungsmusik. Bobby Greggs Eröffnungs-Knall, der oft mit ballistischen Begriffen wie »Gewehr«- oder »Pistolenschuss« beschrieben wird, war tatsächlich ein Schuss, den die Welt hörte. Bruce Springsteen erinnert sich noch 24 Jahre später daran: »Meine Mutter und ich hörten beim Autofahren WMCA, und dann kam dieser Snare-Schuss, der klang, als hätte jemand die Tür zu deiner Seele aufgetreten.« Greil Marcus stellt in seiner eindringlichen, wenn auch manchmal etwas überinterpretierenden Analyse von »Like a Rolling Stone« fest, dass zwar viele Songs so anfingen – inklusive »Any Time at All« von den Beatles aus dem Vorjahr und »From a Buick 6« von Dylan selbst etwas später auf

Highway 61

 –, dass aber »auf keiner anderen Platte so viel Aufmerksamkeit auf den Ton oder den Akt selbst gerichtet wird als einer absoluten Ankündigung, dass etwas Neues begonnen habe«.

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 Das mag zwar etwas übertrieben sein, und Al Kooper erinnerte Marcus dann auch daran, dass es für einen Schlagzeuger völlig normal sei, das Anzählen von Eins-Zwei-Drei-Vier mit einem harten Schlag zu beenden. Trotzdem haftet diesem speziellen Schlag etwas besonderes an und verwandelt ihn jenseits seiner Funktion als simpler Taktgeber in etwas Unvergessliches. Irgendwie wurde dieses reguläre Stilmittel zu einer Signatur transformiert: Man erkennt den Song selbst dann, wenn man von »Like a Rolling Stone« nur diese eine Sekunde hört.



Tatsächlich scheint der Trommelschlag so sehr ein Teil des Songs geworden zu sein, dass es den Charakter eines Auftritts verändert, ob er gespielt wird oder nicht. Dylan beendete jedes Konzert seiner Welttournee 1966 mit »Like a Rolling Stone«, und beinahe möchte man meinen, dass man den Grad von Dylans Verbitterung über das Pfeifkonzert, das beim Einsatz seines elektrischen Parts aufbrandete, jeweils daran messen kann, mit wie viel Nachdruck Mickey Jones seine Eröffnungs-Salve spielte: In Edinburgh hallt sie gebieterisch. Im berühmten Abschiedskonzert in der Albert-Hall donnert sie, nachdem Dylan den Song in einer längeren Einführung »dem Taj Mahal« gewidmet hat, mit überwältigender Endgültigkeit. Und in der Free Trade Hall in Manchester zehn Tage vorher ist es definitiv ein wuterfüllter Schlag, der den legendären Wortwechsel (»Judas!« – »Du bist ein LÜGNER!«) zwischen Dylan und dem aufgebrachten Fan Keith Butler beendet, der Dylan dazu brachte, die Band aufzufordern »verflucht laut «. Bei der Version, die Dylan 1969 auf der Isle of Wight spielte, wurde der Schlag zugunsten eines leiernden Instrumentalvorspiels weggelassen; einer der Gründe, warum dieser Auftritt oft als leblos bezeichnet wurde. (Komischerweise fehlte der Eröffnungsknall auch in der Version, die beim berühmt-berüchtigten Konzert in Newport nur wenige Wochen nach der Aufnahme der Studiofassung und mit vielen Musikern der Originalbesetzung gespielt wurde: aber das Konzert war auch ohne ihn eine klare Ansage.) Unter den zahllosen Coverversionen fällt die der Band

Drive-By Truckers

 dadurch auf, dass sie zwar mit einem ähnlichen Trommelschuss beginnt, dann aber für ein paar Schläge aussetzt, was die gesamte Darbietung mit einer Art »Wir-wissen-dass-Du-weißt«-Schläue erfüllt.



In Wirklichkeit besteht dieser berühmte Trommelschlag allerdings aus zwei Schlägen, nämlich aus dem widerhallenden Schlag einer Snare, dem das beinahe unhörbar zarte Echo einer Basstrommel folgt, wodurch das ganze Ding einen halben Schritt rückwärts geht und dabei noch zusätzlichen Schwung nach vorne gewinnt: gezählt wird nicht EINS-(Pause)-ZWEI, sondern EINS-zwei-

DREI

. Marcus überinterpretiert es mal wieder ein bisschen, wenn er »den leeren Bruchteil einer Sekunde, der folgt« – und der eben nicht leer ist – sowohl mit »einem Haus, das über ein Kliff taumelt« als auch mit dem

Oklahoma Land-Rausch

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 vergleicht. Dabei entgeht ihm in seinem eigenen Übertreibungsrausch, wie dieser nur gerade eben hörbare zweite Schlag den Einsatz von Gitarre, Klavier, Orgel, Bass und Schlagzeug gleichzeitig anzieht und erleichtert, womit er diesen Song – und die ganze Platte, die ganz wörtlich mit einem Schlag beginnt – anschiebt.



Außerdem ist »Like a Rolling Stone« zweifellos das berühmteste Lied, das aus purer Langeweile heraus geschrieben wurde. Dylan hatte die beiden Monate April und Mai 1965 für seine – wie sich später zeigte: letzte rein akustische – Tour in England verbracht. Die Auftritte selbst wie die Zeit drumherum sind in D.A. Pennebakers Dokumentarfilm

Dont Look Back

 festgehalten (der fehlende Apostroph im Titel zeugt von Dylans eigenwilliger Herangehensweise an Zeichensetzung): sie zeigt einen Mann, der einfach nur seine Routinen abspult. Dylan hat seine Sachen und sein Publikum im Griff, aber es fehlt jegliche Spontaneität und größtenteils der Verve. Selbst die scheinbar spontanen Bemerkungen (»Das folgende Stück heißt It’s Alright, Ma, I’m Only Bleeding’ – hahaha« ) waren reine Routine. Als er Anfang Juni in die Staaten zurückkehrte, dachte er ernsthaft darüber nach, gar nicht mehr aufzutreten. »Ich war völlig ausgelaugt«, erklärte er mehrere Monate später. »Ich spielte eine Menge Lieder, die ich überhaupt nicht spielen wollte. Ich sang Worte, die ich nicht wirklich singen wollte (…) Es ist sehr ermüdend, wenn einem andere Leute sagen, wie sehr sie dich schätzen, aber du dich selber nicht schätzst.«

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Die neue musikalische Perspektive, die sich durch »Rolling Stone« eröffnete, änderte seine Meinung. »Ich hätte ernsthaft aufgehört zu singen und zu spielen«, erzählte er Martin Bronstein von der Canadian Broad­casting Corporation, »und dann schrieb ich diesen Song, diese Geschichte, kotzte mich über 20 lange Seiten hinweg aus, und dann nahm ich ›Like a

Rolling

 Stone‹ und machte eine Single draus. Ich hatte niemals zuvor etwas Ähnliches geschrieben.« Jules Siegel beschrieb er, wie das »Gekotze« als einfaches Prosagenöle begann: »Es hatte keinen Namen, es war nur rhythmisches Geschreibsel (…)Ich hatte nicht gedacht, dass es ein Liedtext sein könnte, bis ich eines Tages am Klavier saß und es vor mir auf dem Papier in Zeitlupe, in der äußersten noch möglichen Zeitlupe sang: ›How does it feel?‹«

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Nun sind Dylans Interviews als Informationsquellen chronisch unzuverlässig, stellen sie doch eher Theateraufführungen als Kommunikationsanlässe dar, und möglicherweise ganz besonders jene, die er anlässlich der Veröffentlichung von

Highway 61

 gab.

*11

 Aber in Bezug auf »Rolling Stone« gibt es zwei Gefühle, die in seinen Bemerkungen immer wieder auftauchen: zum einen seine Freude über ihn – »der beste Song, den ich je geschrieben habe«, sagte er zu Gleason –, und zum anderen die wiedergewonnene Spontaneität, eine flüchtige, aber aufregende Begegnung mit der Muse. Mit einem Hauch von Bedauern, als spräche er über längst vergangene Zeiten, meinte er 2004: »Es kommt mir vor, als habe ein Geist dieses Lied geschrieben (…) Er gibt einem den Song und geht weg, geht weg. Man weiß nicht, was das bedeutet. Abgesehen davon, dass der Geist mich ausgesucht hat, um dieses Lied zu schreiben.« Im selben Jahr beschrieb er dem Fernsehkommentator Ed Bradley die Songs jener Zeit als Lieder, die von einem »magischen Platz« gekommen wären.

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Bei »Rolling Stone« scheint die Magie von genau der kreativen Stagnation ausgelöst worden zu sein, die Dylan während der vorangangenen zwei Jahre ergriffen hatte und die auf den Aufnahmen dieser Zeit klar zu hören ist.

The Times They Are A-Changin

’ ist zwar gut gemacht, aber so eisern gedämpft, dass es eher ein Medikament als Unterhaltung zu sein scheint, während

 Another Side

bis auf wenige Stellen vor allem gelangweilt klingt. Kein Wunder, dass sich Dylan, als er von seiner rein akustischen England-Tour zurück kam, dazu entschlossen hatte, alles aufzugeben – oder dass die Inspiration zu »Rolling Stone« ein Geschenk des Himmels zu sein schien. Sie mündete in eine Woge der Kreativität, die in der Karriere Dylans – von der anderer Musiker ganz zu schweigen – seinesgleichen sucht: im folgenden halben Jahr entstanden viele jener Lieder, auf denen sein Ruhm noch heute beruht.



Der Text ist eher ungewöhnlich für einen Pop-Hit, der die Charts anführt: er handelt nicht von der Liebe, sondern von ihrem Gegenteil – Dylan erzählte Siegel, dass es »um seinen ständigen Hass ging, der auf einen wahren Kern gerichtet war«, nur um sofort zu ergänzen: »Letzten Endes ging es nicht um Hass, sondern darum, den Leuten was zu sagen, was sie nicht wussten, ihnen zu sagen, dass sie Glück hätten. Rache ist ein besseres Wort dafür (…) Es war wie in Lava zu schwimmen. Man sieht sein Opfer in Lava schwimmen. Wie es an seinen Armen von einer Birke hängt.«

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 Glück in der Lava ist nicht dasselbe wie Glück in der Liebe, aber dieser Gegensatz verträgt sich hervorragend mit dem Geist von »Like a Rolling Stone«, einem Song, dem es gelingt, Sadismus, Mitgefühl und pure wilde Freude in einer 6-minütigen Aufführung reinen Draufgängertums auszubalancieren.



»Es war einmal vor langer Zeit, da hast du dich schick angezogen / in deinen besten Jahren hast du den Pennern nen Groschen hingeschmissen, stimmt’s?« – beinahe jedes Schulkind in den USA kennt heute die berühmten Anfangszeilen. Dadurch beginnt das Album mit dieser magischen, märchenhaften Stimmung, die dann sofort vom Andrang der Binnenreime vorwärts gedrängelt und gehetzt wird und deren schikanierender Rhythmus durch das anklagende

»stimmt’s«

 am Ende festgenagelt wird

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.


Dann werden in vier mächtigen, lyrisch komplexen Versen die Details der früheren Selbstgefälligkeit und des aktuellen Untergangs von Miss Loneley geschildert, die »die besten Schulen« besuchte, wo sie nur »Blödsinn lernte«; die über »alle gelacht , die draußen rumhingen«, und die jetzt ihre nächste Mahlzeit erbetteln muss; die sich »immer ausgeschüttet vor Lachen / über den zerlumpten Napoleon und die Sprache, die er sprach«, aber jetzt keine andere Wahl mehr hat, als mit ihm gemeinsame Sache zu machen.





»

Ah,

 Du hast dich nie umgedreht



um die Missbilligung auf den Gesichtern

 



der Gaukler und Clowns zu sehen



Als sie dir ihre Tricks vorführten



Hast nie begriffen, dass es nicht in Ordnung ist



dass andere an deiner Statt die Hucke voll kriegen.«





Dylan zielt hier weniger auf die Privilegierten ab als auf die Ingoranten, auf jene, die denken, die Welt würde ausschließlich zu ihrem Vergnügen existieren und die das Leben aus zweiter Hand mit dem wirklichen Leben gleich­setzen. Dies zielt gegen eine Welt, die zu sicher, zu gemütlich gemacht wurde und in der man letzten Endes erstickt. Kein Wunder, dass so viele Eltern Dylans Platten in den Müll segeln ließen. Das hier klang nicht wie die Beach Boys, wenn sie über Papas Golfschläge rumsummten: Dieser Rock’n’Roll hörte sich, möglicherweise das erste Mal seit Jerry Lee Lewis, wieder gefährlich an.



Und zwar in mehr als einem Sinne gefährlich, denn »Rolling Stone« schafft es mit seinem herausfordernden Refrain – »Wie

fühlt

 es sich

an

 / kein Zuhause zu haben (…)« –, die Armut des Bohemians unglaublich verführerisch klingen zu lassen. Schon mehrere Kritiker haben erläutert, wie dieser Refrain und Dylans Art, ihn zu singen, mit jeder Wiederholung immer fröhlicher klingt: Dylan scheint uns dazu zu drängen, selbst die Erfahrung zu machen, wie großartig es in Wirklichkeit sein kann, alles zu verlieren, wenn man den ersten Schrecken erst mal überwunden hat.



Jann Wenner beispielsweise erklärte das 2005 so: »Alles ist komplett weg. Du bist auf dich alleine gestellt, du bist endlich frei (…) Du bist völlig hilflos, und jetzt hast du

gar nichts mehr

. Und du bist unsichtbar, du hast keine Geheimnisse mehr, das ist so befreiend. Du hast rein gar nichts mehr zu befürchten.«

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 Diese Interpretation von Befreiung – von Besitz, von Erwartungen, von sozialem Druck – hebt das Lied über die reine charakterliche Zerstörung hinaus, und auch das ist zweifellos Teil seiner dauerhaften Popularität. »Blowin’ in the Wind« und »The Times They Are A-Changin’« hatten das kollektive Sehnen und die jugendliche Ungeduld zu hymnischen Höhen geführt, »Rolling Stone« tat nun dasselbe mit der Entfremdung.



Bleibt die Frage nach der Identität von Miss Lonely, nach ihrem wahren Kern, gegen den all seine Wut gerichtet ist und die die Dylan-Forscher seit Jahrzehnten beschäftigt. Ewiger Favorit ist das Warhol-Starlet und arme reiche Mädchen Edie Sedgwick, die auch als die Inspiration zu »Just Like a Woman« und »Leopard-Skin Pill-Box Hat« gehandelt wird, was wesentlich plausibler ist. Für »Rolling Stone« ist sie eine unwahrscheinliche Kandidatin, und zwar nicht nur deswegen, weil Dylan selbst es verneint hat – »Ich erinnere mich nicht gut an Edie«, sagte er später, »sie war ein großartiges Mädchen. Ein aufregendes Mädchen, sehr enthusiastisch (…) aber ich erinnere mich nicht, irgend eine Beziehung mit ihr gehabt zu haben. Wenn ich eine gehabt hätte, würde ich mich vermutlich daran erinnern«

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 –, sondern weil ihre Beziehung, in welcher Form auch immer, wohl erst gegen Ende des Jahres stattfand, zu einer Zeit also, als »Rolling Stone« bereits in den Läden stand. Vermutlich kannte Dylan Edie zwar besser, als er zugab, und mehreren Berichten zufolge fand er sie im Herbst 1965 ziemlich toll: er besuchte in ihrer Gesellschaft Nachtlokale, vermittelte sie an seinen Manager und versprach ihr sogar, einen Film mit ihr zu drehen. Doch scheint die Beziehung für Dylan wesentlich oberflächlicher gewesen zu sein als für Edie. Und sie endete Anfang 1966, als Warhol seinen Schützling hämisch über die kürzliche Heirat ihres vermeintlichen Freundes in Kenntnis setzte – was weder die völlig überraschte Edie gewusst hatte noch die meisten Freunde Dylans.



Auch Dylans Sara-äugige Lady aus den Low(la)nds wurde als Inspiration genannt, und im Text könnten Spuren ihrer zu dieser Zeit verbittert ausgefochtenen Scheidung vom Modefotografen Hans Lownds zu finden sein, falls Dylan ihn mit »deine Diplomaten« meint, der »dir alles genommen hat, was es zu stehlen gab«; auch in der zweiten Strophe von »Tangled Up in Blue« tauchen sie wieder auf. Und natürlich denken viele, dass die wohlbestallte, wohlerzogene Joan Baez das Ziel von Dylans Gehässigkeit ist, da die zweijährige Beziehung der beiden zu der Zeit, als er das Lied schrieb, gerade auf ihr schmerzvolles Ende zutaumelte. Man muss sich nur anschauen, mit welch gnadenlosem Spott Dylan und sein Kumpan Bobby Neuwirth Baez während der gesamten England-Tour in jenem Frühling überzogen, was auf

Dont Look Back

 für die ganze Welt als Zeugin verewigt wurde, um zu verstehen, wie sehr die Beschreibung auf sie passt. Baez selber dachte, dass das Lied von Neuwirth handelt.



Schlussendlich geht es jedoch nicht darum, ob der Song »von« einem oder allen diesen Menschen handelt: »Mr. Tambourine Man« handelt schließlich auch nicht von Bruce Langhorne und seinen riesigen Tambourines, obwohl er natürlich die Inspiration für das Bild gewesen sein könnte. Und es geht auch nicht darum, ob das »Du« wirklich Dylan selbst ist: er selbst meinte nach seiner späteren Durcharbeitung des Freudschen Begriffs der Traumverdichtung: »Ich habe etwas über all diese Lieder herausgefunden, die ich früher geschrieben habe. Ich habe herausgefunden, dass ich in Wirklichkeit ausschließlich über mich selbst gesprochen habe, wenn ich Worte wie ›er‹ und ›es‹ und ›sie‹ benutzt habe und scheinbar über andere Leute sprach.« Miss Lonely ist zweifellos eine zusammengesetzte Figur, die Stellvertreterin all jener, die auf dem hohen Ross saßen und dann ins Straucheln kamen; es handelte sich um jene, wie Scaduto ausführte, von denen Dylan dachte, dass sie »vom Gift gelähmt worden waren«,

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 ihn selbst eingeschlossen; es ging um all die Scharlatane, die anfingen, sich immer mehr um ihn herumzudrängen, je berühmter er wurde.



Es wurden schon viele unterschiedliche Menschen, vor allem Frauen, plausibel mit Dylans Liedern in Verbindung gebracht, von Suze Rotolo (»Don’t Think Twice, It’s All Right«, »Boots of Spanish Leather« und andere) über Bonnie Beecher (»Girl from the North Country«) und Joan Baez (»She Belongs to Me«) zu der Columbia-Geschäftsführerin Ellen Bernstein (»You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go«). Man muss diese Menschen jedoch unabhängig von ihrer tatsächlichen Identität oder davon, wie sehr sie als Modelle der Beschreibung entsprechen, nicht als wirkliche Subjekte sehen, sondern vor allem als Quellen der Inspiration. Zwar dienen sie als Anregung, als Anstoß, sind jedoch selten eins zu eins dargestellt. Dylan hat immer wieder darauf hingewiesen, dass das wahre Subjekt dieser Lieder der emotionale Prozess ist, durch den er geht, und der Prozess, den er im Zuhörer hervorrufen möchte.



Carla Rotolo, Suzes Schwes­ter, untypischerweise das eindeutige Ziel der »Ballad in Plain D«, erinnerte sich, dass »die Art und Weise, wie er einem Menschen die Worte im Mund herumdrehen konnte, bis sie sich gegen ihn selbst richteten und er sich fühlte, als hätte Dylan Recht und er selbst Unrecht, wirklich niederschmetternd .«

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Wenn überhaupt geht es in »Like a Rolling Stone« um genau diese Fähigkeit und darum, wie Dylan darin schwelgt, sie zu besitzen.



Die Frage, wer als Inspiration für die Lieder gedient hat, taucht den ganzen

Highway 61

 entlang auf

,

aber im Moment lassen wir noch dem Autor selbst das letzte Wort, wie er es in einem Verwirrungsstück formulierte, das einem Samuel Beckett angemessen gewesen wäre:





»Das ›du‹ in meinen Songs bin manchmal ich, wie ich mit mir selber spreche. Manchmal rede ich vielleicht mit jemand anderem. Wenn ich in einem Lied mit mir selber rede, werde ich nicht alles stehen und liegen lassen und sagen, in Ordnung, jetzt rede ich mir dir. Es ist deine Sache herauszufinden, wer wer ist. Oft redest ›du‹ mit ›dir‹. Das ›ich‹ wechselt auch, wie in ›ich und ich‹. Es könnte ›ich‹ sein, aber es könnte auch das ›ich‹ sein, das mich erschaffen hat. Und genausogut könnte es jemand anderes sein, der ›ich‹ sagt. Selbst wenn ich jetzt gerade ›ich‹ sage, weiß ich nicht, über wen ich spreche.«

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Ma

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