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Wenn die Beschäftigung des Films mit dem Kapitalismus inkohärent ist, inwiefern stellt Batman Begins dann eine Herausforderung für den kapitalistischen Realismus dar? Die Antwort auf diese Frage führt nicht auf die Ebene der Politik, sondern dem Verständnis von Ethik, Hand­lungsmacht und Subjektivität. Žižek klassische Definition der Ideologie in The Sublime Object of Ideology handelt vom Unterschied zwischen Glauben und Handeln. Auf der Ebene des Glaubens werden kapitalistische Ideen – Waren sind belebt; das Kapital ist quasi-natürlich – zurückgewiesen, doch es ist gerade die ironische Dis­tanz von solchen Prinzipien, die uns erlaubt, so zu handeln, als seien sie wahr. Die Zurückweisung des Glaubens erlaubt uns, Handlungen auszuführen. Ideologie beruht dann also auf der Überzeugung, dass es nicht um das geht, was wir tun, sondern um das, »was wir sind« und dass dieses »wir« auf einem »inneren Wesen« beruht. Übertragen auf Begriffe der zeitgenössischen, amerikanischen Kultur findet sich dies in der »therapeutischen« Idee, dass wir »ein guter Mensch« sein können, egal, wie wir uns verhalten.

Die zentrale, ethische Lektion des Films ist eine Umkehr dieser ideologischen Überzeugung. In Waynes Kampf, Gerechtigkeit und Rache auseinanderzuhalten, wird die Rache durch den kompromisslosen R’as al Ghul personifiziert, während Gerechtigkeit durch die Staatsanwältin Rachel Dawes repräsentiert wird. Dawes wird der entscheidende (anti-therapeutische) Slogan des Films in den Mund gelegt: »Aber was man im Inneren ist, zählt nicht. Das, was wir tun, zeigt, wer wir sind.« Das Gute ist möglich, doch nicht ohne eine Entscheidung und ohne die Tat. Indem Batman Begins diese Message stark macht, rückt er den Helden wieder in ein existenzielles Drama, das nicht nur den kapitalistischen, realistischen Nihilismus in die Flucht schlägt, sondern auch die nörgelnden, besserwisserischen Kobolde der postmodernen Reflexivität90, die viel zu lange schon von seinem Blut gelebt haben.

Wenn wir träumen, sind wir dann Joey? 91

»Hey, wenn du träumst, bist du dann noch Joey?«

Carl Garty zu Tom Stall in David Cronenbergs

A History of Violence 92

»In einem Traum ist er ein Schmetterling. […] Tschuang-Tse kann, nachdem er aufgewacht ist, sich fragen, ob nicht der Schmetterling träume, Tschuang Tse zu sein. Er hat recht, und zwar in doppelter Hinsicht, denn erstens beweist das, daß er nicht verrückt ist, er hält sich nicht für absolut mit Tschuang-Tse identisch – und zweitens, weil er sich nicht bewußt ist, daß er mit seiner Aussage so genau ins Schwarze trifft. In der Tat, als er eben Schmetterling war, faßte er sich an einer Wurzel seiner Identität – war er und ist er in seinem Wesen dieser Schmetterling, der sich in seinen eigenen Farben malt – und deshalb ist er im letzten Grunde Tschuang-Tse.«

Jacques Lacan

»Die Unterscheidung zwischen Auge und Blick«93

In der Schlüsselszene in Cronenbergs A History of Violence spricht der örtliche Sheriff mit dem Helden, Tom Stall (Viggo Mortensen), nachdem eine Reihe von brutalen Morden das Leben in der kleinen Stadt im Mittleren Wes­ten durcheinander gebracht hat, wo beide leben: »Es ergibt keinen Sinn.« Auf den ersten Blick handelt es sich bei A History of Violence um Cronenbergs zugänglichsten Film seit The Dead Zone (1983). Doch so ganz mag sich die oberflächliche Plausibilität des Films nicht einstellen. Alle Teile sind vorhanden, doch wenn man genau hinschaut, passen sie nicht zusammen. Irgendetwas funktioniert nicht …

Das bis zum Schluss Beunruhigende von A History of Violence ist das schwierige Verhältnis des Films zum eigenen Genre: Ist es ein Thriller, ein Familiendrama, eine schwarze Komödie oder eine genreübergreifende Allegorie (»die Außenpolitik der Regierung Bushs übertragen auf einen Western«)? Diese Unentschiedenheit des Films weist darauf hin, dass in ihm überall das Unheimliche steckt. Selbst wenn die üblichen Muster des Thrillers oder des Familiendramas durchgespielt werden, ist darin irgendetwas schief, deswegen wirkt A History of Violence am Ende wie ein Thriller, den ein Psychotiker geschrieben hat, jemand der die Konventionen des Genres auswendig kann, sie aber nicht richtig einsetzt. Aber verrückterweise, und darin einem Cronenberg-Film ganz angemessen, ist es gerade dieses »Nicht-richtig-Funk­tio­nie­ren«, das den Film so fesselnd macht.

Den meisten Kritikern ist aufgefallen, dass in A History of Violence die Prothesen und Spezialeffekte, für die Cronenberg berühmt ist, fast völlig abwesend sind (Spuren finden sich nur noch in den exzessiven Aufnahmen von Leichen, denen ins Gesicht geschossen wurde). Tatsächlich war die Abwendung Cronenbergs von dieser Bil­derwelt ein schleichender Prozess, der mindestens bis zu Crash zurückreicht (eXistenZ von 1998 könnte ein letztes Halleluja für Cronenbergs pulsierende, erotisierte Biomaschinerie sein), aber das ontologische Unwohlsein in seinen Filmen ist nicht verschwunden, sondern es wurde subtiler. Der Mythos ist überall in A History of Violence präsent: Nicht nur in der gefährdeten, trügerischen Kleinstadt­normalität oder in der urbanen Unterwelt der organisierten Kriminalität, die ihr zu Leibe rückt und sie zu zerstören droht, sondern vor allem im Konflikt von beiden. Eine Stadt wie Millbrook in Indiana, wo A History of Vio­lence spielt, bietet sich für das amerikanische Kino und die Darstellung zerbrochener Unschuld geradezu an. Vergleiche mit Lynch sind unvermeidlich, doch die wichtigste Parallele ist nicht Lynch, sondern Hitchcock. Der Vergleich mit Hitchcock trägt weiter als bis zu den Details an der Oberfläche, so bedeutsam sie auch sind, wie eine Besprechung im Guardian deutlich macht: »Die Main Street [in A History of Violence] erinnert an die in Phoenix, Arizona, wo sich das Immobilienbüro von Psycho befindet.«94 Die Affinität reicht noch tiefer, was sich zeigt, wenn wir uns an Žižeks bekannte Analyse von Hitchcocks Methode erinnern. In Looking Awry vergleicht Žižek Hitchcocks »phallische« Montage mit der »analen« Montage des konventionellen Kinos:

»Nehmen wir zum Beispiel eine Szene, in der das abgelegene Zuhause einer reichen Familie von einer Verbrechergang umstellt wird, um es anzugreifen; die Szene gewinnt enorm an Intensität, wenn wir den idyllischen Alltag innerhalb des Hauses mit den verbrecherischen Handlungen außerhalb kontrastieren: wenn wir abwechselnd die glückliche Familie beim Abendessen, die umhertollenden Kinder, die gutmütige Ermahnungen des Vaters etc. zeigen, das ›sadistische‹ Lächeln des Verbrechers, ein anderer, der seine Waffe überprüft, ein dritter, der die Balustrade erklimmt. Worin bestände der Übergang zur ›phallischen‹ Phase? Mit anderen Worten, wie würde Hitchcock diese Szene drehen? Zunächst muss man sagen, dass sich der Inhalt dieser Szene nicht für Hitchcocks Art der Spannung eignet, insofern als sie auf der schlichten Entgegensetzung von idyllischem Innen und bedrohlichem Außen beruht. Deswegen sollten wir diese ›flache‹, horizontale Verdopplung zunächst in die Vertikale übertragen: Der schreckliche Horror sollte draußen sein, neben dem idyllischen Interieur, aber auch darin, als seine verdrängte Unterseite. Stellen wir uns zum Beispiel dieselbe glückliche Familie beim Abendessen aus der Perspektive eines reichen Onkels, den sie eingeladen haben, vor. Während des Essens beginnt der Gast (und mit ihm auch wir, die Öffentlichkeit) plötzlich ›zu viel zu sehen‹, er beobachtet, was er nicht hätte beobachten dürfen, irgendein Detail, das nicht passt, das in ihm den Verdacht weckt, dass die Gäste ihn vergiften wollen, um an seinen Reichtum zu kommen. Ein solches ›Überschuss-Wissen‹ hat gewissermaßen einen abyssalen Effekt […] die Handlung ist sozusagen in sich selbst verdoppelt, endlos reflektiert, wie in einem Doppelspiegel … die Dinge erscheinen in einem anderen Licht, obwohl sie identisch bleiben.«95

Das Faszinierende an A History of Violence ist, dass der Film diesen Übergang vom analen zum phallischen im Rahmen seiner eigenen narrativen Entwicklung durchmacht, was einem Film, der, wie Graham Fuller schreibt, von der »Rückkehr des Phallus«96 handelt, völlig angemessen ist.

Der Film beginnt genau mit einer gerade nicht an Hitchcock erinnernden Gegenüberstellung zwischen einem bedrohlichen Außen (einer langen, erdrückenden Einstellung von zwei Mördern, die ein Motel verlassen) und einem friedlichen Innen (das Zuhause der Stalls, wo die sechsjährige Tochter von ihren Eltern und ihrem Bruder getröstet wird, nachdem sie aus einem Albtraum aufgewacht ist). Doch im Fortgang der Geschichte verortet sich der Film gewissermaßen neu, er verinnerlicht die Bedrohung, oder besser gesagt, er zeigt, dass das Außen die ganze Zeit schon innen war.

Der Fleck Hitchcocks, das Ding, das nicht dazu passt, ist der »Held« selbst. Das zentrale Rätsel des Films – ist der biedere, friedliche Tom Stall wirklich der psychopathische Mörder Joey Cusack? – kann in die Frage überführt werden: Welchen Film Hitchcocks schauen wir? Ist A History of Violence eine Neuauflage von Der falsche Mann oder von Im Schatten des Zweifels? Das verstörende Ergebnis ist: beides.

Im Schatten des Zweifels verhandelt eine Familienszene ganz ähnlich wie die von Žižek beschriebene, obwohl es hier der Gast ist, der reiche Onkel, der das häusliche Idyll bedroht. Der Onkel (Joseph Cotten) ermordet reiche Wit­wen und hält sich im Haus der Familie seiner Schwester vor der Polizei versteckt. Der falsche Mann wiederum zeigt, wie eine Familie zerbricht, als der Vater zu Unrecht beschuldigt wird.

 

In Im Schatten des Zweifels bedeutet die Bösartigkeit des Onkels, dass er sterben muss, damit die Idylle der Familie erhalten werden kann. Nur die Figur von Teresa Wright weiß die Wahrheit; der Rest der Familie und das große Andere, die Gesellschaft, bleiben blind. Bei A His­tory of Violence jedoch kann am Ende des Films einzig das jüngste Kind nicht wissen, dass das Leben der Familie schon immer eine Täuschung war. Entscheidend ist in dieser Hinsicht die Antwort von Stalls Frau, Edie (Maria Bello), wie Ballard in einem Artikel über den Film im Guardian herausstellt:

»Ein tiefes Loch hat sich im Wohnzimmer aufgetan und sie sieht den Hunger nach Grausamkeit und Mord, der das Fundament ihres Familienlebens bildet. Die zärtliche Umarmung ihres Mannes versteckt die brutalen Reflexe, die über Ewigkeiten patriarchalischer Gewalt sich eingeschliffen haben. Es handelt sich um eine albtraumhafte Reinszenierung von An einem Tag wie jeder andere, worin geflohene Häftlinge eine Familie in ihrem ruhigen Vorstadtzuhause gefangen nehmen – allerdings mit dem Unterschied, dass die Familie akzeptieren muss, dass ihr bisheriges Leben eine Illusion war. Nun wissen sie die Wahrheit, nun wissen sie, wer sie wirklich sind.«97

Es geht jedoch weniger darum, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist, sondern im Gegenteil, es geht darum, zu akzeptieren, dass die einzige Wirklichkeit, in der man leben kann, eine Simulation ist. Während Edie am Anfang des Films zu Toms sexuellem Vergnügen in die Rolle eines Cheerleaders schlüpft, schauspielert sie am Ende tatsächlich. (Natürlich, natürlich … es gibt keine authentischen Cheerleader, »echte« Cheerleaders spie­len selbst eine Rolle.) Wenn 9/11, wie Žižek in Willkommen in der Wüste des Realen schreibt, die Rekapitulation der »absolute[n] amerikanische[n] Paranoia«, dass »ein Mensch, der in einer idyllischen […] Kleinstadt lebt, einem Konsumparadies, plötzlich zu ahnen beginnt, dass die Welt, in der er lebt, nur ein Schwindel ist«98, eine Art Wiederaufführung von Matrix im echten Leben, dann ist A History of Violence der erste Film seit dem 11. September, in dem das amerikanische Idyll absichtlich und wissentlich ALS Simula­tion rekonstruiert wird. (Unterstrichen wird dies von der Tatsache, dass nicht eine Szene des Films in Amerika gedreht wurde. In dieser Hinsicht ähnelt der Film Kubricks Lolita, dessen Amerika, seine Motels und staubigen Highways, in Gänze in England inszeniert wurde. In seinem Interview mit Salon ist Cronenberg sehr stolz auf die Fähigkeit, das amerikanische Publikum in dem Glauben zu lassen, sie sähen wirklich den Mittleren Westen und Philadelphia.)

»Wenn du träumst, bist du dann noch Joey?«, fragt der Mafiosi Fogarty (Ed Harris) Tom Stall, vielleicht ganz absichtlich wie eine Art Echo-Geschichte von Tschuang-Tse und seinem Traum, er sei ein Schmetterling. Bekanntermaßen weiß Tschuang-Tse am Ende nicht mehr, ob er ein Schmetterling ist, der träumt, Tschuang-Tse zu sein oder Tschuang-Tse, der träumt, ein Schmetterling zu sein. Ist Tom Stall der Traum von Joey Cusack oder ist Joey Cusack der böse Traum von Tom Stall? Es ist nicht überraschend, dass Lacan von dieser Geschichte fasziniert war und Fogartys Frage beruht auch einer Grundannahme des Analytikers: Toms Wirklichkeit befindet sich nicht auf der Ebene des empirischen Alltags, sondern auf der Ebene des Begehrens. Das Reale von Stall/Cusack findet sich entsprechend in der Wüste, dem Raum der subjektiven Armut, wo Stall, wie er sagt, »Joey getötet« hat.

In einem interessanten, aber letztlich nicht überzeugenden Artikel in Sight and Sound schreibt Graham Fuller, dass wir den Film als eine Phantasie Stalls lesen sollen:

»›Wer ist Joey Cusack?‹, fragt der Film in der Mitte der Geschichte, als er das Territorium des Westerns verlässt und die Dunkelheit des Noir eintaucht. Die lohnendere Frage ist aber: ›Wer ist Tom Stall, wenn schon nicht der, für den Fogarty ihn hält, und warum hat er ein Über-Ich als Alter Ego?‹ Der Name ›Stall‹ weist auf Stasis hin. Obwohl er ein gründlicher, sorgsamer Ehemann und Vater ist, weiß Tom, dass er nicht viel aus sich gemacht hat, außerdem hegt er, wie wir erfahren, Ressentiments gegen seinen reichen Bruder, mit dem er sich auseinandergelebt hat und der ihn für einen Dummkopf hält. Es ist dieser Groll, der seine auf Verdrängung beruhenden Tagträume erklärt, was ihn in die Nähe solcher Figuren wie Walter Mitty oder Billy Liar rückt, deren Phantasien von sich selbst als allmächtige Helden von Neurosen und Impotenz nur so überquel­len…«99

So verführerisch diese Deutung auch ist, sie aus einer ganzen Reihe von Gründen unbefriedigend. Sie unterliegt derselben »träumerischen Derealisierung«, die schon die Reaktionen auf Lynchs Mulholland Drive und Kubricks Eyes Wide Shut verzerrt hat, die beide als lange Traumsequenzen gedeutet wurden. Solche Lektüren enden letztlich darin, die ontologische Drohung der Filme ruhig­zustellen, alle Anomalien auszustreichen und sie einem verinnerlichten Delirium zuzuschreiben. Das verleugnet die libidinöse Realität der Träume – wir wachen aus Träumen auf, so Lacan, um vor dem Realen unseres Begehrens zu fliehen – wie es zugleich ignoriert, wie sehr die Alltagswirklichkeit in ihrer Konsistenz von der Phan­tasie abhängt. Eine solche Interpretation begeht außerdem den empirizistischen Fehlschluss, dass das Alltägliche und das Banale von größerer Wirklichkeit sind als die Gewalt; die Botschaft des Films ist eher, dass beide untrennbar verbunden sind.

Am Ende ist Stall als die Phantasie von Cusack viel interessanter als Cusack als Phantasie von Stall. Ist die amerikanische Kleinstadtidylle die Phantasie eines Psychopathen? Nach Guantanamo Bay, nach Abu Ghraib ist dies eine durchaus pikante Frage. Die Herausforderung, vor die A History of Violence das Publikum stellt, entspringt der Tatsache, dass wir uns vollkommen mit der Gewalt von Stall/Joey identifizieren. Es bereitet uns große Freude, wenn die Gangster sich ans Werk machen. Wenn wir träumen, sind wir dann Joey? Träumen wir als Joey? Träumen wir, Tom zu sein, unschuldig, normal, ohne Blut an unseren Händen? Ist unser »echtes« Alltagsleben wirklich nur dieser Traum?

Im selben Moment, in dem wir Joeys hypergewalttätige Morde an den Verbrechern genießen, wissen wir, dass es unmöglich ist, die Gewalt nach außen und Stall/Joey nach innen zu verlegen, womit der Film eine Lektion starkmacht, von der Žižek bereits nach 9/11 glaubte, dass wir sie lernen sollten:

»Wo immer wir so einem rein bösen Äußeren begegnen, sollten wir den Mut haben, die Hegelsche Lektion zu unterstreichen: In diesem reinen Äußeren gilt es, die destillierte Version unseres eigenen Wesens zu erkennen. Der (relative) Wohlstand und Frieden des ›zivilisierten‹ Westens während der letzten fünf Jahrhunderte wurde durch den Export rücksichtsloser Gewalt und Zerstörung in das ›barbarische‹ Äußere erkauft. Es ist die lange Geschichte der Eroberung Amerikas bis zum Gemetzel im Kongo.«100

Das Verstörende der Gewalt in A History of Violence ist nicht das Blut, sondern die reptilische Mechanik, mit der sie ausgeführt wird. Es gibt keine schlauen Einzeiler; stattdessen werden alle Morde mit der autonomen Kraft einer Sprungfeder ausgeführt, gleichsam in animalischer Ruhe, wie eine erschöpfte Maschine. (A History of Violence ist reflexiv, ohne ironisch zu sein, jegliche PoMo-Lockerheit geht dem Film völlig ab. Vielleicht war der Film der letzte Nagel im Sarg von Tarantinos Karriere, falls die spektakuläre Schwelgerei von Kill Bill nicht schon dafür gesorgt hat.)

A History of Violence stellt Amerika im 21. Jahrhundert als ein Land dar, in dem die Gewalt weniger die verdrängte Unterseite darstellt, sondern vielmehr ein Mö­bius­band, das mit äußerster Gewalt beginnt und bei der heimeligen Banalität endet und umgekehrt. In der letzten Szene, als Tom – nun tatsächlich »Tom« – nach Hause zurückkehrt, »erscheint alles in einem anderen Licht, obwohl alles gleichbleibt«. Die Bilder der Häuslichkeit sind nun »Bilder der Häuslichkeit« geworden, der Hackbraten und der Kartoffelbrei ist zu »Hackbraten« und »Kartoffelbrei« geworden, reflexiv platzierte Ikonen der amerikanischen Normalität, die präziseste Bestimmung des Unheimeligen und des Unheimlichen. Das ist das Wesen der »spätkapitalistischen Konsumgesellschaft«, so Žižek in seinem Text über 9/11, wo das »wirkliche gesellschaftliche Leben« die »Züge eines inszenierten Schwindels«101 annimmt. Diese simulierte Szenerie ist um einiges düsterer als in Truman Show oder Dicks Zeit aus den Fugen, denn sie wird von den Subjekten wissentlich, aus freien Stü­cken akzeptiert. Es gibt kein großes »sie« hinter den Kulissen, das die Simulation steuert und choreographiert. Am Ende des Films betrügen alle, doch niemand wird betrogen.

Bemerkungen zu Cronenbergs eXistenZ 102

»Kann das, was dich spielt, es bis zu Level 2 schaffen?«, fragte Nick Land in »Meltdown« (1994), seinem Text über Cybertheorie.103 Lands Vermutung, dass sich Subjektivität und Handlungsmacht im digitalen Zeitalter am besten über Computerspiele verstehen lassen, findet sich auch in David Cronenbergs eXistenZ (1999). Der Film spielt in einer nahen Zukunft, in der Spiele simulierte Umgebungen generieren können, die sich kaum mehr vom echten Leben unterscheiden lassen. Statt Computerblöcken oder Spielkonsolen benutzen die Spieler organische Konsolen, die über »Bioports« direkt mit dem Körper der Spieler verbunden sind.

Die Hauptfiguren sind Ted Pikul (Jude Law) und Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh). Am Anfang soll es so aussehen, als sei Pikul ein Anfänger, der widerwillig von Geller, der vermeintlichen Entwicklerin des Spiels namens eXistenZ, in die digitale Welt eingeführt wird. Die beiden finden sich in einer komplexen Intrige wieder: dem Kampf zweier rivalisierender Spielfirmen und dem Kampf verschiedener Spieler und »Freunden der Realität« untereinander – Realisten sind diejenigen, die glauben, dass das Spiel die Struktur der Wirklichkeit untergräbt. Dieses Untergraben der Wirklichkeit unternimmt der Film selbst und zwar durch etwas, das eine der Figuren als einen »Fall von völlig verrückter Osmose« beschreibt, bei dem die – sowieso kaum zu differenzierenden – Schichten der Realität miteinander verschmelzen und ununterscheidbar werden. Am Ende scheint es, als seien sowohl eXistenZ, das Spiel, und das, was wir für das echte Leben halten, Teil eines anderen Spiels namens tranCendenZ, doch inzwischen können wir uns über gar nichts mehr sicher sein. Der letzte Satz des Films lautet: »Sagt mir die Wahrheit, sind wir immer noch im Spiel?«

Als der Film herauskam, schien er wie ein spätes Beispiel für eine ganze Reihe von Themen und Tropen aus dem Cyberpunk-Genre der 1980er Jahre – Ideen, die Cro­nenberg mit Videodrome selbst mit vorangetrieben hat. In der Rückschau allerdings, kann man eXistenZ in einer kleine Kohorte von Filmen aus den späten 1990er und frühen 2000er Jahren verorten (gemeinsam mit Matrix und Vanilla Sky), an denen sich der Übergang vom »irrationalen Überschwang« (Alan Greenspan) der Wirtschaftsblase der 1990er in die Zeit des Krieg gegen den Terror im neuen Jahrtausend ablesen lässt. Am Ende von eXistenZ gibt es einen abrupten Stimmungswechsel, als ein militärischer Aufstand, mit schwerer Artillerie und Explosionen stattfindet. Mehrheitlich ist die Stimmung des Films jedoch eine alltägliche. Im Vergleich zur geradezu verschwenderischen CGI-Welt von The Matrix, mit dem der Film zumeist verglichen wurde, gibt es in eXis­tenZ kaum Spezialeffekte. Alles sieht gedämpft und auf resolute Art und Weise unspektakulär aus: Die dominierende Farbe ist Braun. Die Farbgebung wirkt wie eine Weigerung gegenüber dem Glanz, der unweigerlich die Artefakte der digitalen Kultur ziert.

Die tristen Forellenzuchten, Skihänge und umfunktionierten Kirchen verleihen der Welt (oder besser gesagt, den Welten) von eXistenZ eine alltägliche, gelebte Qualität. Präziser müsste man von einer Welt der Arbeit sprechen: Große Teile des Films spielen sich an Arbeitsplätzen ab – der Tankstelle, der Fabrik, der Werkstatt – und es ist diese Dimension des Films, die heute als prophetisch erscheint. Obwohl die Arbeit nie explizit diskutiert wird, bildet sie so etwas wie das Ambiente des Films, sie ist allgegenwärtig aber nicht artikuliert. Der Schlüssel zur Selbstreflexivität von eXistenZ ist die Beschäftigung des Films mit seinen eigenen Produktionsbedingungen (und den Produktionsbedingungen von Kultur überhaupt). Der Film liefert uns eine unheimliche Verdichtung, in der die »Vorderseite« der spätkapitalistischen Kultur – die hoch­modernen Unterhaltungssysteme – sich in die normalerweise unsichtbare »Rückseite« zurückfalten (die alltäglichen Fabriken, Labore und Fokusgrippen, in denen solche Systeme hergestellt werden). Der Lärm der kapitalis­tischen Semiotik, die Hektik aus Markensiegeln und -sig­nalen wird ineXistenZ stummgeschaltet. Anstatt das Hintergrundrauschen der Erfahrung zu bilden, was sie sowohl im Alltagsleben als auch in einem typischen Holly­woodfilm sind, tauchen Markennamen nur sehr selten in eXistenZ auf. Wo dies geschieht – meistens handelt es sich um Namen von Spielfirmen – springen sie einem ins Auge. Die generische Benennung des Raumes ist tatsächlich ein Running Gag des Films: eine Tankstelle auf dem Lande heißt einfach »Country Gas Sta­tion«, ein Motel heißt »Motel«. Das ist Teil der eigentümlichen Flachheit, der Tonlosigkeit, die den Film beherrscht.

 

Die Digitalisierung der Kultur, die heute selbstverständlich ist, steckte 1999 noch in ihren Kinderschuhen; bis zur Breitbandtechnologie sollte es noch ein paar Jahre dauern, ebenso der iPod, und auch über die digitale Kommunikation, die die Zeit nach dem Erscheinen des Films dominieren sollte, hat eXistenZ nicht viel zu sagen. Mobile Geräte spielen keine große Rolle – das leuchtende Telefon Pikuls wird von Geller aus dem Autofenster geworfen – und aufgrund seiner Längen, dem Verweilen in toter Zeit, ist der Film weit entfernt von den nervösen, aufmerksamkeitssuchenden Effekten der »Immer erreich­bar«-Mobiltechnik. Die eindrücklichsten Aspekte sind nicht die spezifische Form des Körperhorrors, der damals noch zur Signatur von Cronenberg gehörte – obwohl die Szenen, in denen die Figuren mit ihren organischen Spielkonsolen verbunden werden wie gewohnt gruselig sind. Ebenso wenig finden sie sich in der Ratlosigkeit der Charaktere, ob sie nun innerhalb der Simulation sind oder nicht – dieses Thema gab es schon in Videodrom oder auch Verhoevens Totale Erinnerung, die beide (der erste indirekt, der zweite explizit) von den Romanen Philip K. Dicks inspiriert waren. Am eindrücklichsten an eXistenZ ist stattdessen die Idee – die in vielerlei Hinsicht merkwürdiger und verstörender ist als die Frage, ob die Realität eine Fälschung ist –, dass Subjektivität eine Simulation sein könnte.

Dieses Thema entsteht zunächst aus der Konfrontation verschiedener anderer automatisierter (oder besser gesagt, teilweise automatisierter) Entitäten: Dinge, die autonom scheinen, aber in Wahrheit nur auf bestimmte Reize oder Handlungen reagieren und das Spiel damit vorwärtstreiben. In einer Szene sagt Pikul plötzlich: »Es geht Sie überhaupt nichts an, wer uns geschickt hat. Wir sind hier, nur das zählt.« Er erschreckt über seinen Ausruf, »Oh Gott, was ist passiert? Das wollte ich nicht sagen«. Geller erklärt: »Das hat ihre Figur gesagt. Das ist ein etwas schizophrenes Gefühl, nicht? Sie gewöhnen sich schon dran. Es gibt gewisse Dinge, die gesagt werden müssen, um die Handlung voranzutreiben und die Figuren festzulegen, und diese Dinge werden gesagt, ob Sie wollen oder nicht. Wehren Sie sich nicht, lassen Sie es geschehen.« Verbittert stellt Pikul später fest, dass es sinnlos ist, sich den »Impulsen« des Spiels zu widersetzen.

Diese Konzentration auf die Einschränkung des freien Willens ist ein Grund dafür, warum Cronenbergs Behauptung, bei dem Film handele es sich um »existenzia­lis­tische Propaganda« merkwürdig ist. Der Existenzialismus war jene Philosophie, die darauf basierte, dass die Menschen (was Sartre das »Für-sich-Sein« nennt) zur »Freiheit verurteilt« sind und dass jeder Versuch, sich dieser Verantwortung zu entziehen, unredlich ist. Es gibt eine absolute Differenz zwischen dem Für-sich« und dem »An-sich« – der leblosen Welt der Dinge, frei von Bewusstsein. Aber eXistenZ, wie überhaupt ein Großteil von Cronenbergs Werk, unterläuft und verwischt den Unterschied zwischen beiden: Maschinen sind auf einmal alles andere als leblos, genauso wie Menschen sich plötzlich wie passive Automaten benehmen. Wie schon in Videodrome lotet auch eXistenZ die gesamte Ambiguität der Idee des Spielers aus. Auf der einen Seite ist der Spieler derjenige, der die Kontrolle hat; auf der anderen Seite ist er derjenige, der gespielt wird, die passive, von äußeren Mächten gesteuerte Substanz. Zu Beginn scheint es, als seien Pikul und Geller im Zustand des Für-sich, insofern als sie Entscheidungen treffen können, wenngleich unter bestimmten Bedingungen (anders als in Matrix unterliegen sie den Regeln der Welt, in die sie geworfen werden). Doch die Figuren des Spiels sind im Status des An-sich. Wenn Pikul »Impulse« verspürt, dann ist er sowohl an-sich (ein passives Instrument, ein Sklave des Triebes) und für-sich (ein Bewusstsein, dass über diesen Automatismus erschrecken kann).

Um ermessen zu können, wie zeitgemäß eXistenZ ist, muss man das manifeste Thema von künstlichem und kontrolliertem Bewusstsein mit dem latenten, der Arbeit, verbinden. Denn was ist die Welt, in der die Figuren in Fugen und unfreiwilligen Verhaltensmustern gefangen sind und in denen quasi-automatisiertes Handeln von ihnen verlangt wird, anderes als die Welt des Call Centers, die Welt der Arbeit im 21. Jahrhundert, wo die unausgesprochene Bedingung der Anstellung darin besteht, die Subjektivität abzuschalten und zu einem bio-linguis­ti­schen Anhängsel zu regredieren, das gestanzte Phrasen wiederholen muss und alles andere als ein echtes Gespräch führt? Der Unterschied zwischen der »Interak­tion« mit einer Speicherplatte und nichts anderes als eine Speicherplatte zu sein, schrumpft auf den Unterschied, in einem Call Center anzurufen und in einem zu arbeiten.

In Das Sein und das Nichts benutzt Sartre bekanntlich das Bild eines Kellners: Jemand übertreibt die Rolle des Kellners dermaßen, dass er (für die Außenstehenden zumindest) seine Subjektivität völlig durchstreicht. Das Beispiel bezieht seine Kraft aus der Spannung zwischen dem Quasi-Automatismus im Verhalten des Kellners und der Gewissheit, dass hinter den mechanischen Ritualen der übertriebenen Darstellung sich ein Bewusstsein verbirgt, das von der Rolle, die gespielt wird, unterschieden ist. In eXistenZ hingegen wird uns die Möglichkeit vor Augen geführt, dass unser Handeln ständig von der »unflexiblen Steifheit einer Art Automat« unterbrochen werden kann. eXistenZ zwingt uns dazu, Sartres Beschreibung des Kellners noch einmal unter veränderten Bedingungen zu lesen, vor allem, weil in einer der schreck­lichs­ten Szenen, in denen jemand von außen gesteuert wird, ein Kellner auftritt. Pikul und Geller sitzen in einem Restaurant, als Pikul einen »Impuls« des Spiels verspürt:

»Pikul: Aber weißt du, ich fühle einen Drang, hier jemanden umzubringen.

Geller: Wen?

Pikul: Ich muss den chinesischen Kellner töten.

Geller: Oh. Das erscheint mir logisch. Kellner, Kellner!

[Sie ruft den Kellner]

Geller: Wenn er herkommt, tu es, ohne zu zögern!

Pikul: Aber … in diesem Spiel wirkt alles so realis­tisch, ich – in Wirklichkeit könnt’ ich das nicht.

Geller: Du wirst es nicht schaffen, dich davon abzuhalten, also koste es aus.

Pikul: Der freie Wille … zählt offensichtlich nicht besonders viel in dieser kleinen Welt hier.

Geller: Genau wie im richtigen Leben, du hast gerade so viel Freiheit, dass es interessant ist.«

»Du wirst dich nicht davon abhalten können, also koste es aus« – dieser Satz enthält den ganzen Fatalismus derer, die die Hoffnung aufgegeben haben, irgendeine Kontrolle über ihr Leben und ihre Arbeit haben zu können. In dieser Hinsicht ist eXistenZ keine »existenzialistische Propaganda«, sondern entschieden anti-existenzialistisch. Der freie Wille ist kein irreduzibles Faktum der menschlichen Existenz: Es ist lediglich die nicht vorherprogrammierte Sequenz, die notwendig ist, um das bereits geschriebene Narrativ zusammenzukleben. Laut eXistenZ haben wir in den wirklich wichtigen Dingen unseres Lebens keine Wahl: Wir können uns entscheiden, das An-sich zu akzeptieren und zu genießen oder es (vielleicht vergeblich) ablehnen. Dies ist eine Absage an all die Behauptungen der »Interaktivität«, die mit dem kommunikativen Kapitalismus in den zehn Jahren nach dem Erscheinen des Films einhergehen sollten.