Kostenlos

k-punk

Text
0
Kritiken
Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Was ist die Politik der Langeweile?
(Ballard 2003 Remix) 12

»Die blühende Vorstadt war einer der Endzustände der Geschichte. War dieser einmal erreicht, konnten nur Pest, Flut oder Atomkrieg seinen festen Griff gefährden.«13 (J.G. Ballard, Millennium People)

»J.G. Ballard« ist der Name einer Wiederholung.

Das ist etwas anderes als zu sagen, dass sich Ballard wiederholt. Im Gegenteil, es ist sein Formalismus, seine ständige Vertauschung der immer gleichen Begriffe und Fixierungen – Katastrophen, Piloten, willkürliche Gewalt, Mediatisierung, die totale Kolonisierung des Unbewussten durch Bilder – die verhindern, dass man seinen Namen einfach so mit einem Selbst verbindet.

Die obsessive Qualität seiner Betrachtungen und seiner Methodologie weisen darauf hin, dass Ballard den Glauben an seine frühesten Inspirationsquellen niemals verloren hat: Psychoanalyse und Surrealismus. In beiden fand er eine rigoros entpersonalisierte Theorie der Subjektbildung. Das sogenannte Innere hatte eine Logik, die sowohl freigelegt als auch entäußert werden konnte.

Ballards Laufbahn kann als die wiederholte Umschreibung zweier Texte von Sigmund Freud beschrieben werden, Das Unbehagen in der Kultur und Jenseits des Lustprinzips. Die Umweltkatastrophen in seinen frühen Romanen (Paradiese der Sonne, Die Dürre, Kristallwelt) werden von den Figuren meist als Chancen begriffen, als Möglichkeiten, um sich der drögen Routinen und Protokolle der sesshaften Gesellschaft zu entledigen. Die Mitte der 1960er Jahre beginnende und in gewissem Maße bis heute anhaltende, zweite Phase seines Werks setzt diese Logik fort, und zwar insofern, als dass die Katastrophen und Grausamkeiten, die den Charakteren dieser Romane widerfahren, aktiv herbeigesehnt werden. (Oder versuchen die Menschen hier das Ur-Trauma ihres Seins durch Wiederholung zu bewältigen?) Katastrophen sind nun die Katastrophen der Medienlandschaft – jener Raum, in dem sich die Menschen inzwischen primär aufhalten und der von ihren Wünschen und Trieben nicht nur geformt ist, sondern auch konstituiert wird. Dennoch müssen wir diese noch einmal spezifizieren und zwar mit der weiteren Beobachtung, dass die menschlichen Wesen nicht die »Besitzer« ihrer Wünsche und Triebe sind – sie »haben« sie nicht. Vielmehr besteht das Mensch-sein im Ausagieren dieser Impulse, gleich Instrumenten, durch die das Trauma registriert wird.

Seit High-Rise (1975) hat Ballard die größte Aufmerksamkeit auf die superreichen und gelangweilten Bewohner von geschlossenen Gesellschaften gelegt. Mochte Ballards Auseinandersetzung mit den Mores solcher Com­munities auch langsam verblassen, so wurde sie mit Millennium People definitiv wiederbelebt, seinem jüngsten und besten Buch zu diesem Thema.

Die Welt der Millennium People wird »zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit« (doch nicht das erste Mal in Ballards Werk) von »bösartiger Langeweile« beherrscht, »unterbrochen von sinnlosen Gewaltakten«14. Auf den ersten Blick mag der Roman wie ein längst überfälliger Verriss der Mittelklasse wirken, in dem der Leser der brutalen Vernichtung der heiligen Kühe der Bourgeoisie beiwohnen kann. Tate Modern … Pret A Manger … das National Film Theatre … sie alle verbrennen in Ballards Bürgerterror.

»Ich bin Spendensammlerin für die Royal Academy. Es ist ein einfacher Job. Diese Vorstandsvorsitzenden glauben alle, Kunst sei gut für ihr Seelenheil.«

»Ist das nicht so?«

»Es lässt ihre Gehirne verfaulen. Tate Modern, die Royal Academy, die Hayward Gallery … Das ist Walt Disney für die Mittelklassen.«15

Die Mittelklasse-Aufständischen des Romans erscheinen zunächst als Jammerlappen, denen übel mitgespielt wurde und deren Beschwerden über die steigenden Betreuungskosten und Schulgebühren sowie die »Ungerechtigkeit« der zu hohen Mieten ihrer Wohnungen, die ihnen immer noch nicht luxuriös genug sind, das Thema endloser Medienkolumnen sind. »Glaub mir, bei der nächsten Revolution dreht es sich ums Parken«16, sagt eine Figur im Roman, ein Echo der Benzinpreis-Revolten vor vier Jahren und eine Vorwegnahme der Ikea-Unruhen 2005. Sobald ihre Unzufriedenheit aber einmal erregt ist, werden die Ziele dieser Gruppe ehemaliger Professioneller weniger spezifisch, weniger instrumentell.

Wie die Situationisten wollen auch die Aufständischen von Ballards fiktionaler Stadt Chelsea Marina das »20. Jahrhundert zerstören«:

»Ich dachte, das sei vorüber.«

»Es dauert noch an. Es prägt alles, was wir tun, die Art wie wir denken. (…) Genozide, Kriege, die eine Hälfte der Welt mittellos, die andere schlafwandelt durch ihren eigenen Hirntod. Wir haben ihm seine billigen Träume abgekauft und jetzt können wir nicht mehr aufwachen.«17

Millennium People ist in vielerlei Hinsicht die englische Antwort auf Fight Club (unnötig zu sagen, dass die Chancen, in England Millennium People in einer Weise zu verfilmen, die dem Buch auch nur annähernd gerecht wird, noch mehr als verschwindend gering sind – und zwar weil die Filmindustrie in den Händen genau der Nörgler ist, die der Roman attackiert). Wie Fight Club beginnt das Buch mit einer Tirade über den in Stichpunkten sprechenden und markenorientierten Hyper-Kon­formismus im modernen Berufsleben, doch es endet im Über-Faschismus (surfascism).18

Die wichtigste Figur in diesem Zusammenhang ist Richard Gould, der, wie viele der Charaktere bei Ballard, kaum mehr als ein Sprachrohr der Theorien des Autors ist. (Und das ist natürlich in Ordnung: Wir brauchen mehr »gut gezeichnete Charaktere« so wie wir auch mehr »gut durchdachte Sätze« brauchen. Die »Creative Writing«-Mafia der University of East Anglia hat ihr Ende genauso verdient wie all die anderen gemütlich deprimierenden Ziele von Ballards pyromaner Prosa.)

Gould wiederholt im Grunde dieselbe Attacke auf den »vollklimatisierten Totalitarismus« der zeitgenössischen Sicherheitskultur wie sie bei Nietzsche, Mauss, Bataille, Dada, dem Surrealismus, dem Situationismus, dem Lettris­mus, Baudrillard und Lyotard bereits anvisiert wurde:

»Wir leben im Gefängnis eines soften Regimes, das von früheren Generationen von Insassen gebaut wurde. Irgendwie müssen wir uns befreien. Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 war ein mutiger Versuch, Amerika vom zwanzigsten Jahrhundert zu befreien. Die Tode waren tragisch, aber ansonsten war es ein bedeutungsloser Akt. Und das war der Punkt. Wie der Anschlag auf das NFT.«19

Gould wiederholt Nietzsches These, dass die Menschen Grausamkeit, Gefahr und Herausforderungen brauchen, die Zivilisation ihnen aber Sicherheit gibt. Gould erinnert aber ebenso an Fukuyamas Wiederholung von Nietzsches Unbehagen in der Zivilisation wie an Nietzsche selbst.

Es ist Fukuyamas Nietzsche – die Klage über das Übel des faden Egalitarismus und der leeren Inklusion –, der heute am relevantesten ist. Wenn man die entsetzte Beschimpfung des Herdenkultes der verwalteten Sicherheit bei Nietzsche liest (die so schwach und schal ist, dass sie ihren echten Kampfesruf niemals über die Lippen bringt: »Lang lebe das Mittelmaß!«), kann man nicht anders, als an Tony Blair und den Millennium Dome zu denken, dessen blasse und paradoxerweise sich selbst abwertende Großspurigkeit sich unglücklich abhebt von der grausamen Opulenz der Denkmäler, die in den von Nietzsche so geliebten, tragischen und heroischen Gesellschaften der Antike errichtet wurden.

»Demokratische Gesellschaften«, schrieb Francis Fukuyama in Das Ende der Geschichte,

»fordern eher die Überzeugung, daß alle Lebensstile und alle Werte gleich seien. Sie schreiben ihren Bürgern nicht vor, wie sie leben müssen oder was sie glücklich macht, gut oder berühmt. Statt dessen kultivieren sie die Tugend der Toleranz, Toleranz wird zur wichtigsten Tugend überhaupt in demokratischen Gesellschaften. Wenn die Menschen aber nicht mehr anerkennen können, daß eine bestimmte Lebensweise höher steht als eine andere, dann greifen sie darauf zurück, das schiere Leben anzuerkennen, das heißt den Körper, seine Bedürfnisse und seine Ängste. Nicht alle Seelen sind gleich gut oder begabt, aber alle Körper können leiden; daher spielt das Mitleid in demokratischen Gesellschaften eine große Rolle, und die Frage, wie der Körper vor Leiden bewahrt werden kann, erlangt höchste Priorität. Es ist kein Zufall, daß die Menschen in demokratischen Gesellschaften so sehr mit materiellem Erwerb beschäftigt sind und daß ihre Wirtschaft darauf ausgerichtet ist, die Myriaden kleiner Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen. Nietzsche zufolge haben die letzten Menschen ›die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme‹.«20

»Wir müssen Ziele auswählen, die keinen Sinn ergeben.«21

Während die Charaktere in Die Schreckensgalerie versuchen, das mediale, traumatische Gründungsereignis der 1960er Jahre zu reinszenieren – die Ermordung John F. Kennedys – versuchen die Figuren bei Ballard dasselbe für die Nullerjahre mit 9/11. Traven/Tallis/Travis wollen Kennedy noch einmal töten, »nur diesmal soll es Sinn ergeben«. Gould hingegen möchte, dass 9/11 geschieht, aber in einer Weise, die keinen Sinn ergibt.

Für Gould gibt es in der (post)modernen Welt einen Exzess des Sinns, einen Überschuss der Bedeutung. »Bringt man einen Politiker um, ist man an das Motiv gebunden, das einen den Abzug drücken ließ. Oswald und Kennedy, Princip und der Erzherzog. Bringt man jedoch wahllos jemanden um, schießt man in einem McDonald’s mit einem Revolver um sich – tritt das Universum zurück und hält den Atem an. Besser noch, man bringt fünfzehn Leute wahllos um.«22 Insofern ist der Mord an der Fernsehjournalistin Jill Dando eher eine Vorlage für Goulds antipolitischen Aufstand als 9/11, da die Gewalt der Anschläge immer noch (zu) intendiert war, zu sehr mit Bedeutung aufgeladen. Der Mord an Dando hingegen – brutal, bedeutungslos und ohne ein erkennbares Motiv – war ein direkter Angriff auf das BBC, ihr »Regime der Mäßigung und des gesunden Men­schenverstands«23 und die »Festung aus Verpflichtun­gen«24, die es zusammenhielt. Bei einer solchen Tat, deren einziges Motiv ein Angriff auf die Idee eines Motives an sich ist, eröffnet sich ein »leerer Raum, in den wir mit wirklicher Ehrfurcht starren könnten. Widersinnig, unerklärlich, so rätselhaft wie der Grand Canyon.«25

 

Gould ist ein eleganter und eloquenter Vertreter der »Abschaffungslinie« (Deleuze/Guattari), dem faschistischen Drang zur Zerstörung, der in letzter Instanz ein Drang zur Selbstzerstörung ist. Ballard, der – was ihm hoch anzurechnen ist – sich billigen Moralisierungen immer verweigert hat, würde einer solchen Darstellung zweifelsohne widersprechen, da eine Verurteilung oder Zensur Goulds genau die sicherheitspolitischen Werte be­stätigt, die er versucht zu unterlaufen.

Das in politischer Hinsicht Spannendste an Millennium People ist nicht die in vielerlei Hinsicht bekannte, bedeutungslose Gewalt, sondern die Punk-Theorie des Klassenkampfes.

»›Twickenham ist die Maginot-Linie des englischen Klassensystems. Wenn wir hier durchbrechen können, wird alles fallen.‹

›Die Klassensysteme sind also das Ziel. Sind die nicht universell – Amerika, Russland …?‹

›Natürlich. Aber nur hier ist das Klassensystem ein Mittel politischer Kontrolle. Seine wahre Aufgabe ist nicht, die Proleten unten zu halten, sondern die Mittelklasse zu beherrschen, sicherzustellen, dass sie gefügig und unterwürfig sind.‹«26

Ballards »neues Proletariat« («ausgestattet mit Privatschulen und BMWs«) wird zum politischen Subjekt in dem Moment, wo sie aufhören, ihre eigenen Klasseninteressen zu verfolgen. Nur dann kann ihnen die marxistische Erleuchtung zukommen, dass die Klasseninteressen der Bourgeoisie in niemandes Interesse sind.

»›Sie sehen, dass die Privatschulen ihre Kinder einer Gehirnwäsche unterziehen, um sie sozial fügsam zu machen und in einen Berufsstand zu überführen, der für den Konsumkapitalismus den Laden schmeißt.‹

›Die sinistren Mr. Bigs?‹

›Es gibt keine Mr. Bigs. Das System ist selbstregulierend. Es beruht auf unserem Sinn für bürgerliche Verantwortung. Ohne den würde die Gesellschaft zusammenbrechen. Genau genommen hat der Zusammenbruch vielleicht sogar schon begonnen.‹«27

Das System Blairs hat die ideologischen Gewinne des Thatcherismus konsolidiert und übertroffen, indem es den vollständigen Sieg von PR über Punk sichergestellt hat, von Höflichkeit über Antagonismus, vom Nutzwert der Mittelklasse über die proletarische Kunst. Es handelt sich dabei um einen ideologischen Trick, bei dem einerseits alles auf reine Instrumentalität reduziert wird, während andererseits alle Mittel darauf verwendet werden, kulturelle Artefakte herzustellen, die weder einen Nutzen noch eine Funktion haben. Von den Codices der Maya zu den Leitlinien der Unternehmen: Der tägliche Spin erzeugt eine Bedeutungslosigkeit, die in der vorgeschriebenen Banalität ihres ätzenden Nihilismus Goulds Poesie der bezeichnungslosen Unterbrechung merkwürdig nostalgisch wirken lässt.

Unter Blair wurde die Sicherheit der Mittelklasse zum Horizont allen Strebens. Das hyper-aufmerksame, gleißend helle 24-Stunden-Büro der Seele bietet uns lächerlicherweise das Geschäftsleben als der Libido noch am nächsten an. Ballard weiß, dass ein Ausbruch aus diesem Gefängnis der Affekte eine Aufhebung der libidinösen Besetzung des »schönen Hauses« und der »schönen Familie« erfordert, die die bürgerliche Gesellschaft immer noch als Ideal präsentiert.

In der Geschichte des Punks spielt die Mittelklasse eine große Rolle, doch die entscheidende katalytische Funktion einer bestimmten Form der Klassenverweigerung bleibt unterbelichtet. Der Ausbruch der Mittelklasse aus dem reproduktiven Futurismus in Selbstverletzung und Tribalisierung hat nur das Offensichtliche gezeigt: Ihre Karrieren und Privilegien sind leer, langweilig und kraftraubend. Doch heute, mehr als jemals zuvor, kann dieses Offensichtliche nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden.

»Das Interessante ist, dass sie gegen sich selbst protestieren. Es gibt keinen Feind da draußen. Sie wissen, dass sie der Feind sind.«28

Lass mich deine Phantasie sein 29

Ballard, Lacan und Burroughs ist gemeinsam, dass ihnen die Sexualität des Menschen ihrem Wesen nach als pornographisch gilt. Für alle drei geht Sexualität über die biologische Erregbarkeit heraus; streicht man das Halluzinatorische und Phantasmatische weg, verschwindet auch die Sexualität. Wie Renata Salecl in (Per)Versions of Love and Hate30 ausführt, ist es leichter, dass ein Tier in das Reich des Symbolischen eintritt, als dass ein Mensch das Symbolische verlernt und in den Zustand des Animalischen zurückkehrt; eine These, die durch die Nachricht unterstützt wird, dass, als einem Orang-Utan Pornographie gezeigt wurde, er sofort das Interesse an den anderen Affen verlor und den ganzen Tag masturbierte. Durch den »unmenschlichen Partner« wurde der Organ-Utan in die Sexualität des Menschen eingeführt, in das phantasmatische Supplement, auf dem alle menschliche Sexualität beruht.

Die Frage ist also nicht, ob Pornographie ja oder nein, sondern welche Pornographie. Für Burroughs war die Pornosexualität nie etwas anderes als eine kümmerliche Wiederholung, ein negativer Karneval im Sinne Boschs, in dem sich das rostige Riesenrad des Begehrens für immer traurig weiterdreht. Bei Ballards Crash und David Cronenbergs Verfilmung des Romans allerdings gibt es eine positive, geradezu utopische Version der Pornographie.

Cronenbergs Arbeit lässt sich als Antwort auf die Herausforderung verstehen, die Baudrillard in Von der Verführung31 formuliert. Hardcore-Pornographie verfolgt uns im Spätkapitalismus ständig, sie ist die Chiffre einer vermeintlich entmystifizierten, desillusionierten »Wirklichkeit«. »Eine Kultur, die stets das Lösungsverfahren des Realen anstrebt, ist eine Pornokultur schlechthin.« Hier ist Hardcore die Wirklichkeit des Sexes und Sex ist die Wirklichkeit von allem anderen. Hardcore-Pornogra­phie beruht auf einer Art ernsten Buchstäblichkeit, dem Glauben daran, dass es ein empirisch verifizierbares »es« gibt, dass der Sex im Realen / als das Reale darstellt. Wie Baudrillard ironisch bemerkt, ist diese empiristische Bio-Logik auf eine gewisse technische Glaubwürdigkeit fixiert – der Pornofilm muss der (vermeintlich) ungeschmückten, brachialen Mechanik des Sex treu bleiben. Zeichen und Ritual sind jedoch unvermeidlich: Im Hardcore-Porno, vor allem in der Praxis des Bukkakes, ist die Funktion des Spermas vor allem semiotisch. Kein Sex ohne Zeichen. Je höher die Auflösung des Videos, umso näher kommt man den Organen und umso mehr verschwindet das »es« aus dem Blick. Es gibt kein besseres Bild dieser »Orgie des Realismus« als das »japanische Vaginalzyklorama«, das Baudrillard in dem Abschnitt »Stereo-Porno« in Von der Verführung beschreibt. »Mit gespreizten Beinen sitzen Prostituierte am Rande einer Plattform, japanische Arbeiter mit hochgekrempelten Ärmeln … sie dürfen ihre Nasen bis zum Anschlag in die Vagina der Frau stecken, damit sie sehen, damit sie besser sehen – ja, was eigentlich?« »Warum beim Nackten, beim Genitalen stehen bleiben?«, fragt Baudrillard. »[W]er weiß, welche tiefe Lust sich in dieser Entjungferung, im Blick auf Schleimhäute und glatte Muskeln entfalten kann?«32

Cronenbergs frühe Filme – von Parasiten-Mörder und Rabid – Der brüllende Tod bis zu Videodrome – sind Antworten auf genau diese Fragen. Cronenberg hat sie in seiner eigenen Version selbst gestellt: »Warum gibt es keine Schönheitswettbewerbe für das Innere des Körpers?« Parasiten-Mörder und Rabid wiederum konstatieren eine Äquivalenz zwischen dem Horror des Körpers und der Erotik. Die scheinbare Katastrophe, mit der beide Filme enden – die absolute Degeneration der gesellschaftlichen Struktur in eine brodelnde, anorganische Orgie – ist ambivalent. Der Zerfall der organischen Integrität, der Rückfall in einen Zustand vor der Mehrzelligkeit ist eine Art parodierend-utopische Entgegnung auf Freuds Das Unbehagen in der Kultur. Wenn die Kultur und die entfesselte Libido inkommensurabel sind, dann, so wird impliziert, umso schlimmer für die Kultur. Der von stumpfsinnigen Zombies besetzte Apartment-Komplex am Ende von Parasiten-Mörder ist der wahrgewordene Traum der befreiten Sexualität der sechziger Jahre …

Crash stellt nicht nur einen Rückzug aus dieser Bilderwelt dar, sondern es handelt sich vielmehr um ein neues Modell mechanisch-masochistischer Pornographie, in der nicht mehr das sogenannte Innere des Körpers wichtig ist, sondern der Körper als Oberfläche – eine Oberfläche, die mit Kleidern, Narben und durch Einstiche technischer Maschinerie geschmückt werden muss. Von der wahnhaften Leidenschaft besessen, ihren biotischen Code auszutauschen, fallen die Opfer der Sexplage in Parasiten-Mörder gleichsam hinter das Animalische zurück und in einen bakteriell-replikatorischen Rausch. In strengem Kontrast dazu ist Crash so leidenschaftslos wie ein Traum von Delvaux. Hier ist Sex vollständig durch Kultur und Sprache kolonisiert. Alle Sexszenen gleichen einem detailgetreu arrangierten Gemälde, irreduzibel phantasmatisch, und zwar nicht, weil sie »unecht« sind, sondern weil ihr Arrangement und ihre Konsistenz von der Phantasie abhängen.

Die Eröffnungsszene des Films, in der Catherine Ballard in einem Flugzeughangar steht, ist eindeutig die Verwirklichung eines phantasmatischen Szenarios; durch ihre Erzählung an einer späteren Stelle funktioniert sie zudem als das phantasmatische Supplement des ersten sexuellen Zusammentreffens zwischen Catherine und James, das wir sehen. Es gibt kein »es« des Sexes, keinen rohen, nackten Moment, in dem »es« passiert, nur ein (paradoxerweise) erweitertes und verschobenes Plateau, auf dem Worte und Erinnerung stärker nachhallen als jede Penetration.

Crash beruht so sehr auf der Ästhetik Helmut Newtons, dass es zuweilen aussieht, wie eine Aneinanderreihung von Helmut-Newton-Bildern. Oder besser gesagt, in Crash ist den Körpern dieselbe fast leblose Bewegungslosigkeit eigen wie Newtons Mannequins. Die Parallelen zu Newton sind sehr passend, da Ballard Newton für den »größten visuellen Künstler«33 unserer Zeit hielt, ein surrealistischer Bildproduzent, dessen Vision das Mittelmaß derer, die offiziell in den schönen Künsten arbeiteten, bloßstellte. »In Newtons Bildern«, so Ballard, »sehen wir eine neue Rasse des urbanen Menschen, die an einer neuen menschlichen Grenze leben, wo alle Leidenschaft verbraucht sind und alle Ambitionen befriedigt, wo die tiefsten Gefühle sich verschieben und in ein Terrain zurückziehen, das mysteriöser ist als Marienbad.«34

Wenn Cronenberg über die Zukunft der Sexualität der »neuen Rasse urbaner Menschen« in Crash spricht, geht er meistens negativ vor:

»Der Hochmut in einigen der schwierigen oder verwirrenden Aspekte von Crash, das Science-Fiction-hafte des Buches, hängt mit der pathologischen Psychologie der Zukunft zusammen, die Ballard entwirft. Sie entsteht gerade jetzt, aber er antizipiert sie und verlegt sie in die Vergangenheit – das Jetzt – und arbeitet mit ihr, als sei sie schon vollständig entwickelt.«

Die Ehe der Ballards ist in sich vollkommen dysfunktional:

»Einige Vertriebsfirmen sagten: ›Vielleicht sollten sie die Beziehungen am Anfang normaler gestalten, so dass wir sehen, an welchen Stellen es falsch läuft.‹ Mit anderen Worten, sie stellten sich das Ganze eher im Stil von Eine verhängnisvolle Affäre vor. Ein glückliches Paar, ein Hund, vielleicht ein Hase oder ein Kind. Und dann kommen sie durch einen Autounfall mit diesen schrecklichen Leuten in Berührung und alles geht schief. Ich sagte: ›Das geht nicht, denn bei ihnen läuft bereits jetzt etwas schrecklich falsch. Deswegen sind sie zu verletzlich, um überhaupt weiterzumachen.‹«35

 

Und dennoch wirkt die »Pathologie« der Ballards in Crash merkwürdig gesund; die Ehe ist das Vorbild einer vorzüglich angepassten Perversion. Ihre Sexualität ist utopisch, insofern als jeder sexuelle Kontakt frei von jeglicher Sentimentalität oder Schuld ist und nichts mit Reproduktion zu tun hat. Der Mangel an direkten sexuellen Begegnungen der Ballards – über die Cronenberg, wie bereits betont, eher negativ spricht, so als handele es sich um eine Abweichung von einem gesunden, unmittelbaren Sex, in dem die Partner eine harmonische Einheit bilden – weist darauf hin, dass es eine richtige sexuelle Beziehung überhaupt nicht gibt. In der Ehe der Ballards ist das aber kein Problem. Der Mangel an Unmittelbarkeit, die Anerkennung, dass jeder sexuelle Kontakt über die Phantasie laufen muss, ist die Basis all ihrer erotischen Abenteuer.

Man vergleiche die Ehe der Ballards mit der Beziehung der Hartfords in Eyes Wide Shut. Die Ballards nutzen ihre sexuellen Kontakte mit anderen als Stimulus für ihre eigene – teilnahmslose, unbewegliche, traumgleiche – Form der Sexualität, worin ein deutlicher Kontrast zum Stillstand der Ehe der Hartfords besteht, die in Bills Unfähigkeit, mit Alice’ Phantasie umzugehen oder mitzuhalten, offengelegt wird. Während Bill davon schockiert ist, dass Alice ihre Phantasien äußert, wird der Sex bei den Ballards von dem »weiblichen« Drang zu Sprechen regiert; es ist fast so, als ob alle physischen Kontakte nur deswegen geschehen, um sie später in erzählende Geschichten verwandeln zu können.

Die am meisten aufgeladene Szene in Crash findet in einer Autowaschanlage statt, wo James im Rückspiegel Catherine und Vaughan anschaut, die – in den Worten des Drehbuchs von Cronenberg – wie »zwei halb-metal­lische Menschenwesen der Zukunft in einer Chromlaube Liebe machen.« Deborah Unger, der eigentliche Star des Films, beeindruckt hier besonders. Wie eine Art Katzenroboter »spielt sie mit ihrem Haar, macht kleinere Korrekturen und bewegt den Kopf und signalisiert so die Übertragung kleiner Emotionen.«36

Wer benutzt hier wen? Die Antwort ist, dass alle drei Figuren einander benutzen. Catherines Begegnung mit Vaughan erregt James, genauso wie Catherine von dem Gedanken erregt wird, dass James sie mit Vaughan beobachtet. Der wiederum benutzt das Paar für seine eigenen libidinösen Experimente, während die Ballards Vaughan als dritte Figur in ihrer Ehe benutzen. Eine Mis-en-abyme des Begehrens …

Weit entfernt von einem Albtraum gegenseitiger Beherrschung, handelt es sich dabei um Cronenbergs/Bal­lards sexuelle Utopie, ein perverses Gegenstück zu Kants Reich der Zwecke. Das Reich der Zwecke war Kants ideale ethische Gemeinschaft, in der alle einander immer auch als Zweck betrachten. Aus Sicht der Ethik war Sex für Kant ein Problem, denn eine sexuelle Begegnung beruht darauf, den anderen als Mittel zu betrachten. Die einzige Möglichkeit, Sex mit dem kategorischen Imperativ in Einklang zu bekommen – der in einer seiner Versionen besagt, den anderen niemals als Mittel zum Zweck zu betrachten –, bestand darin, Sex in den Kontext der Ehe zu überführen, worin beide ihre jeweiligen Geschlechtsorgane zur gegenseitigen Benutzung einander vertraglich überschreiben.

Begehren wird hier als simple Aneignung gedacht (darin besteht eine weitere Parallele zwischen Kant und de Sade). Doch was Kant und jenen, die ihm darin folgen, indem sie Pornographie als »verdinglichend« denunzieren, entgeht, ist, dass unser tiefstes Begehren nicht darin besteht, einen anderen zu besitzen, sondern von ihm/ihr verdinglicht zu werden, von ihm/ihr in deren Phantasie benutzt zu werden. Darin besteht eine Bedeutung des berühmten Satzes von Lacan, dass »das Begehren das Begehren des anderen« ist. Die perfekte erotische Situation würde weder die Dominanz noch das Verschmelzen mit anderen involvieren; vielmehr würde man von jemandem verdinglicht, den man auch verdinglichen möchte.

Crash folgt natürlich Masoch und Newton darin, dass Sex von Genitalität gelöst wird. Die Libido lebt mehr von der Mis-en-scene statt vom Fleisch, das seine Anziehungskraft fast vollständig aus seiner Nähe zum braven Anorganischen bezieht – Kleidung soviel wie Autos. In der Rolle der Kleidung besteht der Unterschied zwischen der kalten und grausamen Kultivierung der Erscheinung im glamourösen Hochglanzporno und der Leidenschaft für das Reale im Hardcore-Streifen. Ohne Anzüge, Kleider und Schuhe, ohne Fell, Leder und Nylon ist Pornographie kaum mehr als das Arrangement im Schaufenster eines Fleischers. Newton erzählte Ballard, dass er »Cronenbergs Crash liebte«, doch dass ihn eine Sache störte. »Die Kleider«, flüsterte er. »Sie waren so schrecklich.« Mir erscheint das sehr unfair gegenüber der eleganten Kostümierung, die Denise Cronenberg für den Film entworfen hat. (Ein großes Problem von Jonathan Weiss’ Version von Die Schreckensgalerie besteht wiederum darin, dass die Kleider tatsächlich schrecklich sind.) Crash bezieht seine Inspiration aus den Hochglanz-Modemagazinen, deren Bilder den Prunk der schönen Künste geradezu übertreffen und steht mehr in Verbindung mit devianter Erotik als mit Hardcore-Pornographie. Ist unmöglich, eine Pornographie zu denken, die von Dior oder Chanel gesponsert und von einem modernen Masoch oder Ballard geschrieben wurde, deren Phantasien so kunstvoll inszeniert werden wie im besten Glamour-Magazin, das es gibt?