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Fußball / Kapitalistischer Realismus / Utopie 270

Fußball und neoliberaler Anti-Utopismus

»Der englische Fußball«, so der Autor Robin Carmody auf seiner LiveJournal-Website, »ist eine Metapher für das, was die Neoliberalen aus England gemacht haben.« Aber es handelt sich um mehr als das. Fußball war die vorderste Front der absoluten Umstrukturierung der englischen Kultur, Gesellschaft und Ökonomie, die der Neoliberalismus in den letzten dreißig Jahren vorgenommen hat. Der Neoliberalismus gibt sich selbst als ultimativ realistisch – als der einzig mögliche Realismus. Man erzählt uns, dass die Utopie unmöglich ist, weil es so etwas wie die Gesellschaft nicht gibt, sondern nur Individuen, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Gibt es ein besseres Bild für diesen Anti-Utopismus als die Premier League mit ihren imperialen, unantastbaren Eliteklubs, den Synergien aus der Zusammenarbeit mit multinationalen Medienkonglomeraten, den verschwenderisch konsumierenden Spielern, den gierigen Klubbesitzern, die sich Erfolg wie die nächste Yacht kaufen? Konkurrenz, Ausbeutung, die Herrschaft der Starken über die Schwachen, Paparazzi-Schnappschüsse der unglaublich reichen Götter des Spieleruniversums, wie sie aus dem Nachtclub kommen und mit ihrem ganz neuen Geld angeben: Fußball als anti-egalitärer, nietzscheanischer Kampf. Vergiss die Utopie: Träum stattdessen davon – wenn du jung genug bist –, so zu werden wie sie, mit einer Villa in Cheshire und einer aalglatten Cyborg-Spielerfrau; und wenn du zu alt bist, um dir die teuren Markenschuhe anzuziehen, dann gewöhn dich an den Gedanken, dass du es nicht wert bist, Erfolg zu haben – träum stattdessen von einer Medienverwandlung im Reality TV oder einem Lotteriegewinn …

Trotzdem wird oft so getan, als sei die Premier League die Ursache statt die Wirkung. Ohne eine kohärente und umfassende Kapitalismuskritik macht es keinen Sinn, sich über die Inflation der Spielergehälter zu beschweren. Immerhin geht es hier nicht um Geld aus der öffentlichen Hand. Dass die Spielergehälter in die Höhe schießen ist die Folge derselben Marktdynamik, die bis zur Bankenkrise im letzten Jahr für sakrosankt gehalten wurde. Man spürt das bittere Anti-Arbeiterklasse-Ressentiment – das es auch unter selbsthassenden Teilen der Arbeiterklasse selbst gibt – in den Angriffen auf die reichen Fußballspieler, die es »nicht verdienen«. Aber all das – die hohen Gehälter und die exorbitanten Ticketpreise – sind ein Effekt der totalen Unterwerfung des Fußballs unter das postfordistische Kapital. Aber was, wenn es anders wäre? Was, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte?

Des Fußballs letzte Utopie (in Nottingham)

Es gibt eine prägnante Stelle in Duncan Hamiltons Biographie über Brian Clough – die Anekdote taucht auch in David Peaces Damned United auf –, als Clough und Peter Taylor (der wollte, dass die »Schiffsbauer so viele verdienen wie die Schiffsbesitzer«) zu einer Rede von Harold Wilson gehen und enthusiastisch, aufgewärmt von der weißen Hitze des Old-Labour-Optimismus zurückkehren und auf eine neue Ära des Proletariats hoffen. »Man hörte die Leidenschaft einer möglichen Veränderung in seinen Worten«, erzählt Clough Hamilton. »Wir kehrten in Taylors Haus zurück und brannten geradezu für die Sache.« Es ist wie eine Szene aus der Serie Our Friends in the North: vielleicht eher »Unsere Freunde aus den Midlands«. Natürlich sollte die Zukunft, von der Clough und Taylor träumten, niemals kommen. Aber es gibt vielleicht eine Parallele zu einer ähnlich schmerzhaften Szene in Hamiltons Buch, nämlich als Peter Taylor sich nach dem zweiten Sieg von Forest Nottingham beim Europacup äußert und sagt, dass das nur der Anfang sei … Tatsächlich folgten Misserfolg und überteuerte Spieler, Verfall und Mittelmaß sowie die Auflösung der unbeständigen Partnerschaft von Clough und Taylor, zwischen denen es zum Bruch kommt, der bis zum Tod Taylors bestehen blieb. Wer von uns bemerkt, wenn der Moment unseres größten Erfolges vorbei ist? Und wäre das Leben erträglich, wenn wir es könnten?

Für die Arbeiterklasse kam die schöne neue Welt nicht, aber für Clough persönlich schon. Statt Avantgarde einer selbstbewussten Arbeiterklasse, fiel die Zeit seines größten Erfolges mit dem Abflauen des proletarischen Kollektivismus in der Nachkriegszeit zusammen. Zuweilen wurde Clough als »Champagner-Sozialist« verspottet, weil er keinen Widerspruch sah zwischen Erfolg und linker Politik. Wie viele Menschen, die in ärmlichen Ver­hältnissen aufgewachsen sind, glaubte Clough niemals daran, dass er der Armut vollständig entkommen war – deswegen die ganzen Fernsehauftritte, die Kolumnen und Bestechungsgerüchte. In seiner Besprechung von Damned United im Guardian schrieb Chris Petit, Clough »verkörpert viele der zukünftigen Probleme von Thatchers Großbritannien, seine Karriere ist ein ständiger Streit zwischen Selbstbehauptung und Zusammenarbeit zwischen Redlichkeit und krummen Dingern, zwischen finanziellen Ungereimtheiten und dem Glauben, dass es im Fußball um mehr geht als ums Geldverdienen.«271 Die Premier League hat dem ein Ende gemacht und zerstört, was von Cloughs zusammenstürzender Welt noch übrig war – eine Welt, in der Trainer aus der Arbeiterklasse aufgeplusterte Patrizierpatriarchen überlisten und besiegen konnten, eine Welt, in der unbeliebte Provinzclubs die etablierten Riesen übertrumpfen konnten – und sein finanzieller Absturz war mehr als zeitgemäß. Mit Clough als angeschlagenem Lear am Steuer, stieg Forest 1993 ab, nach der ersten Saison in der Premier League.

Das Ende einer Ära

Mai 2009. Das extravagante Team aus Barcelona führen Manchester United im Finale der Champions League vor. United sind zum Symbol des harschen, kapitalistischen Realitätsprinzip im modernen Fußball geworden. Nur die schon erfolgreichen und wohlhabenden können gewinnen. Die Fans träumen nicht mehr davon, dass ihr Klub von einem Trainergenie zu neuem Leben erweckt werden, sondern dass er von der Freigiebigkeit eines gelangweilten Plutokraten gerettet wird. Bekanntlich hat Barcelona keinen Trikotsponsor272 und die Spieler führen das Logo von UNICEF auf der Brust. Der Sponsor von United ist AIG, die Versicherungsfirma aus dem Herzen der Finanzkrise (laut dem Economist reichen die »Tentakel« von AIG »in jeden erdenklichen Bereich der Wirtschaft.«) Die neoliberale Anti-Utopie ging mit der Bankenrettung zugrunde, wenngleich sie in zombiehafter Gestalt als eine Reihe von Normen überlebt, die immer noch die gesellschaftliche Realität bestimmen.

Barcelona, ein gemeinnütziger Verein, in Besitz und unter Kontrolle der Mitglieder, vertritt das Motto, es sei »mehr als ein Klub«. Gibt uns Barcelona, mit ihren Stiftungen und Bildungsinitiativen, einen Hinweis darauf, wie Fußball in einer Utopie funktionieren könnte? Proletarische Kunstfertigkeit, die Schönheit des Teamworks, Konkurrenz, ja, aber nicht im Stile des Jeder-gegen-Jeden wie im kapitalistischen Realismus. Es gibt sicherlich keine Utopie, in der es so etwas nicht gibt …

Die Zukunft gehört immer noch uns:
Autonomie und Post-Kapitalismus273

In der von Adam Curtis produzierten Dokumentarserie All Watched Over by Machines of Loving Grace wird die These vertreten, dass der Diskurs der Selbstorganisation, den man früher mit der Gegenkultur in Verbindung brachte, inzwischen von der herrschenden Ideologie aufgesogen wurde. Hierarchie ist schlecht, Netzwerke sind gut. Organisation als solche – verstanden als Kontrolle von oben nach unten – sei sowohl repressiv als auch in­effektiv.

Curtis trifft damit durchaus einen Punkt. Fast der gesamte Mainstreamdiskurs steht dem Staat, der Planung und den Möglichkeiten einer organisierten politischen Veränderung misstrauisch oder skeptisch gegenüber. Dies fügt sich in den ideologischen Rahmen ein, den ich kapitalistischer Realismus genannt habe: Wenn ein Sys­temwandel unmöglich ist, bleibt uns nichts übrig, als das Beste aus dem Kapitalismus zu machen.

Ohne Zweifel hat die Rechte davon profitiert, dass die Linke mit einer vermeintlich überholten Politik assoziiert wird, die von oben nach unten verläuft. Der Neoliberalismus hat ein Geschichtsmodell installiert, in dem bürokratische Zentralisierung der Vergangenheit angehört, während »Modernisierung« mit »Flexibilität« und »individueller Wahl« gleichgesetzt wird. Die jüngst geäußerte und viel gescholtene Idee der Big Society, ist im Grunde eine rechte Version des Autonomismus. Die Arbeiten von Phillip Blond, einem der Architekten der Big Society sind voll von der Rhetorik der Selbstorganisation. In dem Bericht »The Ownership State«274, den er für ResPublica geschrieben hat, spricht Blond von »offenen Systemen«, die »anerkennen, dass Unsicherheit und Veränderung traditionelle Führungsmodelle ineffektiv machen«. Während viele Blonds Ideen als verschleierte Rechtfertigungen der neoliberalen Privatisierungsagenda verstehen, stellt Blond selbst seine Position als kritisch gegenüber dem Neoliberalismus dar.

Blond erwähnt ein Paradox, das ich auch in Kapitalistischer Realismus diskutiere: Statt, wie versprochen, die Bürokratie abzuschaffen, hat der Neoliberalismus sie ausgebaut. Da der öffentliche Sektor nie wie ein »echter« Markt funktionieren kann, verursacht die Einführung von »Marktlösungen« im Gesundheits- und Bildungssystem »eine große und teure Bürokratie von Buchhaltern, Prüfern, Inspektoren, Assessoren und Controllern, die alle damit beschäftigt sind, Qualität zu sichern und Kontrolle auszuüben, was Innovationen und Experimente verhindert und sehr kostenintensiv ist.« Solche Systeme, schreibt Blond, sind

 

»organisch statt mechanisch und sie erfordern ein vollkommen anderes Verständnis von Management. Strategie und das aus Handlungen heraus entstehende Feedback sind wichtiger als detaillierte Planung (›Feuer – Zielen – Fertig!‹ wie Tom Peters geschrieben hat); Netzwerke treten an die Stelle von Hierarchien; die Peripherie wird genauso wichtig wie das Zentrum; Eigeninteresse und Konkurrenz werden durch Vertrauen und Kooperation ausbalanciert; es braucht Initiative und Erfindungsreichtum statt Gehorsam; Intelligenz statt Verflachung.«

Seit die Rechte in solchen Begriffen spricht, ist klar, dass Netzwerke und offene Systeme allein uns nicht retten werden. Stattdessen sind Netzwerke, wie Gilles Deleuze in seinem wichtigen Essay »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft«275 schreibt, einfach der Modus der Macht, der in jenen »Kontroll«-Gesellschaften operiert, die an die Stelle der alte »Disziplinar«-Gesellschaften getreten sind.

Bedeutet dies, dass die Ideen der Autonomie und der Selbstorganisation unvermeidlich von der Rechten übernommen werden und sie kein Potenzial für die Linke mehr darstellen? Auf keinen Fall – die Übernahme durch die Rechten zeigt nicht, dass diese Ideen fehlerhaft sind, sondern dass sie immer noch Kraft in sich tragen. Wenn wir verstehen, was bei Blond und seinen Kreisen das Problem ihrer Aneignung des Autonomismus ist, dann zeigt uns das etwas über den Unterschied zwischen rechts und links in der Zukunft.

Curtis hat recht, wenn er schreibt, dass die autonomistischen Ideen neutralisiert wurden, in dem man sie gegen die Vorstellung der politischen Organisation gewendet hat. Und dennoch bleiben autonomistischen Theorien wichtig, weil sie uns die Werkzeuge an die Hand geben, für ein Modell linker politischer Organisation unter postfordistischen Bedingungen der vorgeschriebenen Flexibilität, der Globalisierung und der Just-in-time-Pro­duk­tion. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Verhältnisse, die zum Aufstieg der »alten Linken« im globalen Norden beigetragen haben, zusammengebrochen sind, aber wir müssen uns trauen, nicht nostalgisch auf die verlorene Welt des Fordismus, der langweiligen Fabrikarbeit und einem von männlichen Industriearbeitern dominierten Proletariat zurückzublicken. Wie Antonio Negri es präzise in einem der Briefe in Art and Multitude ausgedrückt hat:

»Wir müssen den Tod der Wahrheit, unserer Wahrheit, leben und erleiden. Wir müssen ihre Repräsentation, ihre Kontinuität und Erinnerung zerstören. Jede Verleugnung, dass die Wirklichkeit sich geändert hat und damit auch die Wahrheit, muss abgelehnt werden. Das Blut in unseren Adern muss ausgetauscht werden.«276

Die Verschiebung hin zur sogenannten »kognitiven« Arbeit wurde durchaus überbetont – nur weil Arbeit einschließt, auch zu sprechen, heißt das nicht, dass sie »kognitiv« ist; die Arbeit eines Angestellten im Call Center, der mechanisch immer wieder dieselben Routinesätze wiederholt, ist kaum »kognitiver« als die Arbeit am Fließband. Dennoch hat Negri recht damit, dass die Befreiung von der repetitiven Industriearbeit ein Sieg war. Und dennoch, wie Christian Marazzi geschrieben hat, den Arbeitern ging es wie den Juden im Alten Testament: Sie sind den Fesseln der fordistischen Fabrik entkommen und wurden nun in der Wüste ausgesetzt. Laut Franco Berardi bringt die prekäre Arbeit neue Formen des Elends mit sich: Aufgrund der mobilen Kommunikationstechnologie muss man immer verfügbar sein und der Arbeitstag hört niemals auf. Die ständig verfügbare Bevölkerung lebt in einem Zustand der schlaflosen Depression, unfähig jemals abzuschalten.

Was die Linke jedoch von der Rechten unterscheiden muss, ist die Überzeugung, dass die Befreiung in der Zukunft liegt und nicht in der Vergangenheit. Wir müssen daran glauben, dass das derzeit zusammenbrechende Realitätssystem nicht die einzig mögliche Form der Moderne ist; sondern dass, im Gegenteil, es sich um eine unheimliche Form der Cyber-Barbarei handelt, die die neuesten Technologien nutzt, um die alten Eliten zu stützen. Es ist möglich, dass Technologie und Arbeit auf völlig andere Weise organisiert werden als heute. Dieser Glaube an die Zukunft ist unser Vorteil gegenüber der Rechten. Phillip Blonds vernetzte Institutionen kommen zwar kybernetisch daher, aber er schreibt zugleich, dass sie in einem gesellschaftlichen Umfeld verankert sein müssen, das an »traditionellen« Werten aus dem Bereich der Familie und der Religion orientiert ist. Im Gegensatz dazu müssen wir den Zerfall dieser »Werte« als notwendige Vorbedingung neuer Formen der Solidarität feiern. Diese Solidarität entsteht nicht automatisch. Es müssen neue Institutionen erfunden und alte transformiert werden, wie beispielsweise die Gewerkschaften. Eine der wichtigsten Fragen, die Deleuze in dem Essay über Kontrollgesellschaften stellt, betrifft die »Untauglichkeit der Gewerkschaften«:

»In ihrer ganzen Geschichte waren sie gebunden an den Kampf in den Einschließungsmilieus oder gegen die Disziplinierungen. Können sie sich der neuen Situation anpassen oder machen sie neuen Widerstandsformen gegen die Kontrollgesellschaften Platz? Lassen sich schon Ansätze dieser künftigen Formen sehen, die in der Lage wären, die Freuden des Marketings anzugreifen?«

Vielleicht sehen wir die Umrisse dieser Zukunft in Lateinamerika, wo linke Regierungen von Arbeitern kontrollierte Kollektive unterstützen. Die Frage ist nicht, ob wir den Staat, die Regierung oder Planung abschaffen, sondern ob wir sie in ein neues Feedback-System integrieren können, das auf kollektiver Intelligenz beruht – und sie zugleich hervorbringt. Eine Bewegung, die den globalen Kapitalismus abschaffen möchte, braucht keine Zentralisierung, sondern Koordinierung. Welche Form wird diese Koordinierung annehmen? Wie können verschiedene autonome Kämpfe zusammenarbeiten? Dies sind die entscheidenden Fragen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir beginnen wollen, eine postkapitalistische Welt zu schaffen.

Ästhetische Armut 277

»Ein hervorstechendes Merkmal dieser Unruhen«, schreibt der Designer Adrian Shaughnessy über die jüngs­ten Ausschreitungen in England, »ist die Tatsache, dass das Hauptziel der Angriffe die Läden von großen britischen Marken waren.«278 In seinem Text auf der Website des Design Observer notiert Shaughnessy weiter, dass die angegriffen Shops – Sportläden und Handyläden – »viel Geld für Markenbildung, das Design des Ladens, die Schaufensterauslage und schicke Werbung ausgeben.« Die Kommentare unter seinem Artikel waren vielsagend: Viele der Designerkollegen fanden den Post entweder falsch oder im schlimmsten Falle beleidigend. Sollten die Demonstranten nicht die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen? Welche Rolle könnte das Design als Ursache solcher »kriminellen« Handlungen gespielt haben?

Die reaktionären Kommentare über die Unruhen haben versucht, die Idee herunterzuspielen, dass die Demons­tranten sozial benachteiligt waren. Sie hatten teure Smartphones und trugen Sportkleidung von den besten Marken – wie können sie also arm sein? Obwohl diese Tatsache überbewertet wurde – die Orte, an denen es zu Ausschreitungen kam, waren mehrheitlich arme Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit –, so stimmt es doch, dass die meisten Demonstranten, soweit wir das beurteilen können, nicht obdachlos oder arm waren. Es gibt jedoch noch eine andere Formen des Elends als diese. Es gibt nicht nur eine »physische«, sondern auch eine ästhetische Armut, die jedem offensichtlich sein muss, der einen zweiten Blick auf das düstere Bild wirft, das sich in Englands teuren Luxusmeilen zeigt. Während die Reichen die kulturellen und materiellen Mittel haben, aus der trüben Banalität dieser geklonten Räume »auszusteigen«, sind die Armen viel mehr in ihnen verwurzelt. Diese Verankerung in streng definierten Medienumgebungen sowie gesellschaftlichen und physischen Räumen ist tatsächlich ein wesentliches Symptom ästhetischer Armut.

Ein Kennzeichnen der moralischen Panik bezüglich der Ausschreitungen war die Behauptung, dass die Demons­tranten »ihre eigenen Communities zerstören«. Das setzt aber voraus, dass die Protestierenden zu einer »Community« gehören und das die Ladenketten überhaupt irgendeine Form von »Community« darstellen. (Es stimmt, dass die Demonstranten nicht nur die Läden großer Firmen angegriffen haben, und ich möchte auf keinen Fall den Schaden herunterspielen, den kleine Geschäfte und die Wohnungen vieler Leute erlitten haben, aber es bleibt eine Tatsache, dass sich die Zerstörung und die Plünderungen vornehmlich gegen Ladenketten richteten.) Geht es nicht vielmehr darum, dass die Demonstranten eigentlich von außen kamen und nicht aus irgendeiner »Community«, da es so etwas in Zeiten des Spätkapitalismus sowieso immer weniger gibt, sondern stattdessen stille Verzweiflung und elende Resignation vorherrschen, die das Arbeitsleben vieler Menschen dominieren? Dass eini­ge der Demonstranten Arbeit hatten, heißt nicht, dass diese Unruhen nicht von der Unterschicht ausgingen. Viele der Jobs, die die britischen Medien immer wieder erwähnten – einer der Demonstranten war Vorschulassis­tent, ein anderer war interessanterweise ein Graphik­designer – sind gerade solche, in denen es keine ernsthaften, langfristigen Aussichten gibt. Solche Beschäftigungen, oft Kurzzeitanstellungen oder Teilzeitjobs, sind typisch für die »Prekarität«, in der immer mehr junge Menschen dahinvegetieren – sowohl Leute mit Abschluss als auch ohne jede Ausbildung. Diejenigen, die glauben, dass man als Graphikdesigner vor Armut oder Hoffnungslosigkeit sicher ist, zeigen nur, wie wenig sie von der Realität verstehen.

Es lohnt sich, über die Bemerkungen zu den Smartphones weiter nachzudenken. Im, wie die Theoretikerin Jodie Dean es nennt, »kommunikativen Kapitalismus« ist ein Smartphone nicht einfach mehr ein »Luxusgegenstand«. Im kommunikativen Kapitalismus geht es nicht um die Produktion von materiellen Dingen, sondern um die endlose Zirkulation von Nachrichten. Der »Inhalt« kommt von den Benutzern selbst; wenn man also dafür bezahlt, Teil der kommunikativen Matrix sein zu können, dann ist das eher wie wenn man in seinem Job sein eigenes Werkzeug kaufen müsste, statt dass man einen Luxusgegenstand erwirbt.

Überhaupt verschwindet die Trennung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen Unterhaltung und Job. Es gibt keine Bürozeiten mehr und kein Ausstempeln. Abgesehen davon, dass wir immer in der kommunikativen Matrix sind, sorgen die Smartphones für eine stärkere Bindung an den Arbeitgeber, weil der von einem auf den anderen Moment den Angestellten zur Arbeit rufen kann. Doch die notorische Verwendung von sozialen Netzwerken und dem BlackBerry-Messenger zur Verbreitung der Ausschreitungen zeigt, dass das Potenzial dieser Maschinen und Webseiten im kommunikativen Kapitalismus nicht aufgeht. Es wurde berichtet, dass sich die Unruhen in London deswegen ausweiten konnten, weil Gruppen, die normalerweise um Territorium kämpfen, einen Waffenstillstand ausgerufen haben, um sich gegen die Behörden zu verbünden. Die Ausschreitungen in England waren zwar alles andere als ein kohärentes politisches Statement, aber vielleicht bildet dieser Gebrauch der sozialen Medien den Anfang von so etwas ähnlichem wie Klassenbewusstsein. Und ist es so absurd, in der Zerstörung der traurigen Fassaden der großen Markenshops eine Ablehnung der ästhetischen Armut zu sehen, die der zeitgenössische Kapitalismus uns auferlegt?