Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Am Tag ihrer Einschulung im September 1934 wohnte Selma schon in der Bilaergasse 34 (Strada Bilei 34), die nichts mehr vom Charme der Rapfgasse hatte.

Die Mieten stiegen in diesen Jahren rasant. Wenn die Mieter auch noch Juden waren, wurde die Pacht künstlich hochgeschraubt, so dass eine Flut von Kündigungen jüdische Familien aus den guten Wohnungen der besseren Wohngegend in immer billigere Unterkünfte drängte, immer weiter aus der Stadt heraus, immer tiefer den Hügel hinunter, dem Fluss und dem Armenviertel entgegen. Bis Selma und ihre Mutter in der Bilaergasse 34 gelandet waren – einer Verlängerung der feineren Franzengasse, in der Nähe des Güterbahnhofs.

Dort unten am Fuße der »Habsburghöhe« und nur durch die Brücke über den Pruth von den Czernowitzer Vororten getrennt, war Wohnen billig, denn der Grund war günstig. Besitzer von Zucker- und Textilfabriken, Brauereien und Molkereien profitierten davon. Viele Gerber und Schuster hatten sich in ehemaligen Streuobstwiesen angesiedelt. Auch Abraham Meerbaum hatte dort gewohnt, bevor er sich in der Bahnhofstraße ein größeres Haus leisten konnte. Seine Molkerei stand weiterhin auf der grünen Wiese Bilaergasse 16. Den Handeltreibenden war die gute Anbindung an den Güterbahnhof im Norden der Stadt wichtig. Die Eisenbahnstation »Volksgarten«, die den Personenverkehr abwickelte, lag im Süden von Czernowitz.

Das Haus, in dem Selma wohnte, lag direkt im Knie der Straßenbiegung der Bilaergasse – ein imposanter Bau, der mit seinem Jugendstil-Zierrat eigentlich nicht ärmlich wirkte. Von der Straße aus gesehen zumindest nicht. Doch viele Czernowitzer Häuser verfügten über kleine einfache Wohnungen ohne Komfort im Parterre oder Hinterhof. Und so hausten Selma und ihre Mutter in einer Einzimmerwohnung, die »[…] bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief; dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.«57

Wenigstens war ein öffentlicher Brunnen unmittelbar gegenüber der Bleibe, sodass Selma und ihre Mutter keine langen Wege in Kauf nehmen mussten, um Wasser zu beschaffen. Solche armseligen Wohnverhältnisse, wie sie Selmas Freundin Renée beschrieben hat, ergaben sich, wenn Witwen nicht länger beanspruchte Zimmer ihrer großen Wohnung abtrennten und untervermieteten. Vor allem, wenn sie über eine zweite Küche verfügten, die ehemals zu einer Dienstpersonalwohnung gehörte.

Lebte Selma in der kleinen Wohnung in der Bilaergasse möglicherweise nur mit ihrer Mutter? Laut Adressbuch war Leo Eisinger auch 1936 noch in der Steingasse 6 gemeldet in direkter Nachbarschaft zu seinem Vater Moses.


Selmas Wohnhaus Bilaerstraße mit Plakette

»In diesem Haus wohnte die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger. Czernowitz 5. 2. 1924 – Lager Michailovka 16. 12. 1942.« Auf Deutsch und Ukrainisch informiert heute eine Gedenktafel über die Lebensdaten der so jung umgekommenen Dichterin der Bukowina. Die ehemalige Bilaergasse heißt jetzt Tschernischewskoho-Straße und das Haus trägt nicht mehr die Nummer 34, sondern die Nummer 38. Es präsentiert sich in feschem Orangerosa und Weiß – Farben, die in Czernowitz gerne für Renovierungen von Gebäuden mit Denkmalpotenzial eingesetzt werden. Der Putz bröckelt – die Spuren der Vergangenheit wurden zu hastig übertüncht.58


Gedenktafel in der Bilaerstr. 38

Selmas Schulweg verlangte gute Kondition. Dass Mirabellen-, Nuss-, Holunder- und Kastanienbäume ihn säumten, wird ihn ihr nicht schmackhafter gemacht haben: Der Anstieg war steil und beschwerlich und im Winter sicherlich eine Herausforderung. Ein Ansporn war, dass Renée oben in der Rapfgasse 4 schon vor der Haustüre wartete – immer geduldig, selbst wenn sich Selma verspätete. Und das passierte oft genug. Dann kam Selma abgehetzt, atemlos und verdrossen bei Renée an. Wieder einmal hatte sie mit ihrer Mutter einen Kampf um ihre Zöpfe ausgefochten. Jeden Morgen dieselbe Prozedur. Jeden Morgen derselbe Ärger, wenn die Mutter das dichte krause Haar der Tochter bändigen und für die Schule zu ordentlichen Zöpfen flechten wollte. Selma zeigte sich dann so widerborstig wie ihre Haare. »Die Prozedur war zeitraubend.«59 Und schmerzhaft. Immer wieder wird Selma deshalb ihrer Mutter damit in den Ohren gelegen haben, dass alle Klassenkameradinnen schon den modischen Bubikopf trugen. Selma hasste diese Zöpfe und würde gegen sie aufbegehren. Bis zur Pubertät. Dann hatte sie den Kampf um ihre Haare gewonnen: Die Zöpfe fielen.

Selma und Renée waren für die Klasse 1A eingeteilt worden, die damit eine Klassenstärke von vierundvierzig Schülerinnen erreichte. Zehn Mädchen weniger machte die Parallelklasse schon übersichtlicher.


Klassenfoto 1935. Selma, 1. Reihe, 1. von rechts. Letzte Reihe: Margit, 3. von links; Renée, 4. von links

Zum Schuljahresende scharten sich die Mädchen zum obligatorischen Klassenfoto wie Küken um drei ihrer Lehrer: Streng und scharf gescheitelt thront Selmas Klassen- und Rumänischlehrerin Alma Bogdan in der Mitte. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Dominanz manifestierte sie mit jeder ihrer Unterschriften. Bogdan wird flankiert von Professor Schulman, den die Mädchen liebten. Der Fachlehrer für Biologie war gutmütig und ausgeglichen und brachte ihnen die Natur nahe. Selma wird ihn auch verehrt haben.

Selma war nicht nur eine der Jüngsten in der Klasse, sondern gehörte auch zu den Kleinen und sitzt deshalb in der ersten Reihe auf dem Boden. Sie hat das zaghafte Lächeln ihrer Mutter und ist eine der wenigen, deren Haar zu strengen Zöpfen geflochten ist. Margit und Renée waren nicht nur ein Jahr älter als Selma, sondern auch größer und stehen auf Klassenfotos immer in der letzten Reihe. Renée und Margit wurden Selmas Freundinnen. Renée ihre liebste und vertrauteste.

Dieses Klassenfoto des Schuljahres 1934/​35 nimmt Strenge und Tristesse von Selmas Schulalltag auf. Ausgerechnet vor der unschönen Fensterfront mit schweren Eisengittern im Hof ihrer Schule wurden die Mädchen aufgenommen. Dabei war das Lyzeum ein imposantes klassizistisches Gebäude mit großzügiger Außentreppe und Grünanlage.

Drei Jahre später bietet das aktuelle Klassenfoto keinen neuen Aspekt. Wieder wenden sich die Mädchen wenig heiter dem Fotografen zu. Immerhin ist die hässliche Wand des Innenhofes diesmal mit einem großen Wandteppich verhängt. Selma sitzt wieder in der ersten Reihe vor ihren Mitschülerinnen auf der Erde. Ihre Haare sind immer noch zu Zöpfen nach hinten geflochten. Die dunkle Schuluniform dämpft jeden Ansatz von Fröhlichkeit: schwarz die Röcke und die Blusen. Schwarz die Strümpfe und die Schuhe. Aufpeppen konnten die Mädchen die Schulkleidung mit den weißen Kragen – runde Ecken, spitz auslaufende, geklöppelte, mit Knöpfen verzierte – oder den Pepita-Schleifen. Mal groß gebunden, mal klein geschlungen. Die Fantasie stieß schnell an kleinkarierte Grenzen. Koketterie war eben verpönt: Selmas Klassenkameradin Margit vergaß ihr Leben lang nicht, wie eine Schulinspektorin sie zum Waschbecken zerrte und ihren Kopf grob unter das Wasser tauchte: »Wollen wir doch einmal sehen, ob Deine schönen Locken auch wirklich natürlich sind.«60


Selmas Klasse 1937/​38. Selma, 1. Reihe, 4. v. rechts; letzte Reihe: Erna Isser, 1. v. rechts; Blanka End, 3. v. rechts; Renée Abramovici, 6. v. rechts

Der Schulalltag war bedrückend und da war es schwer, leicht zu sein. Unangekündigte Prüfungen von externen Kommissionen drangsalierten die überwiegend jüdischen Schülerinnen in besonderem Maße. Bei diesen sogenannten »Extemporalen« erschienen die Lehrer morgens mit einheitlichen Fragebögen und hörten ab. Auf Rumänisch, was für viele Mädchen schon schlimm genug war. Doch dass diese Prüfungen vorzugsweise samstags stattfanden, war eine gezielte Diskriminierung: Orthodox erzogene Jüdinnen schrieben am Sabbat nicht – und ernteten zur Häme noch schlechte Noten.

Nicht alle verweigerten sich der Rumänisierung. Margit und Renée zeigten sich auf Fotos schon mal in der rumänischen Nationaltracht: in feinen »ie«, den aufwändig bestickten Trachten-Blusen, zu denen bunte Röcke getragen wurden. Nur wenige Jahre später wird sich Margit erneut einer fremden Kultur beugen müssen, in die sie wieder ungefragt hineingestoßen worden war. Sich beugen heißt nachgeben, um nicht zu zerbrechen. Deshalb spielt Margit 1954 in »moldauischer« Tracht mit ihrem Akkordeon zum Tanz auf, als sie das sibirische Wassjugan nach der Deportation als Heimatersatz annehmen musste.61

Selma sperrte sich nicht gegen die rumänische Kultur. Sie suchte die Begegnung mit deren Literatur, denn offensichtlich beherrschte sie die rumänische Sprache gut. Und zwar so gut, dass sie im Schulfach »limba romănă« fast durchweg gute bis sehr gute Noten erreichte: 9,4 von 10 möglichen Punkten im Endzeugnis von 1936/​37. Das war beachtlich. Selma las Romane und Gedichte von zeitgenössischen rumänischen Schriftstellern.

 

Die Verse des Dichters Discipol Mihnea erschienen 1940 in Czernowitz. Selma wird sie übersetzen. Ihrem Gedichtband Blütenlese wird sie Worte des rumänischen Schriftstellers und Anwalts Ionel Teodoreanu als Motto voransetzen. Dass Selmas Rumänisch-Zensuren 1940 abrupt absackten, war den politischen Umständen geschuldet.

Französisch war Selmas erste Fremdsprache und wurde mit Rumänisch ab der ersten Klasse im Lyzeum unterrichtet. Doch »limba francezâ« gehörte wohl nicht unbedingt zu Selmas Stärken. Andererseits drohte sie auch nie unter die magische Marke »5« zu rutschen, die eine Sonderprüfung erforderlich machte. Bei Latein war das schon eher der Fall, das ab der dritten Klasse dazukam und in der sechsten Klasse tatsächlich nachgeprüft werden musste. Die »Situația în Iunie« 1940 bedeutete für Selma »corig. Latina, Matematica«.62 Doch im Juni 1940 war sowieso alles in Auflösung begriffen.

Selma wird bedauert haben, dass »Limba germană« erst 1938, im fünften Jahr auf dem Lyzeum als Fach dazukam. Denn Deutsch war ihre Stärke. Endlich konnte sie die Sprache, in der sie sich wirklich zuhause fühlte, auch in der Schule anwenden. In allen schriftlichen Deutsch-Prüfungen hatte Selma die Bestnote erreicht. Dass ausgerechnet in der mündlichen Prüfung eine »9« ihr im Zeugnis die volle Punktzahl 10 verhagelte, wird Selma geärgert haben.

Unbehaglich blieb die ganze Schulzeit. Die Lehrer fühlten sich nicht besser. Selma und ihren Mitschülerinnen entging nicht, dass einige der verbliebenen jüdischen Lehrer übertriebene Anpassung und Strenge an den Tag legten, um der rumänischen Führung ihre Loyalität zu demonstrieren.

Uneingeschränkte Sympathie brachten alle Mädchen Panja Butschakowska entgegen. Sie war der pittoreske Lichtblick im düsteren Schulalltag. Die Schuldienerin hatte ihre dicken Zöpfe mit einem Kopftuch festgezurrt, das doppelt unter ihrem Kinn verknotet war. Drei bis vier farbenprächtige Röcke trug die füllige Polin stets übereinander, die sich vielschichtig über ihren Knien bauschten und den Blick auf derbe Hosen freigaben, wenn Panja breitbeinig am Ende der großen Aufgangstreppe des »Hofmann-Lyzeums« thronte, ja, dort regelrecht Hof hielt. Eine entwurzelte Vertreterin der »Rzeczpospolita«, der polnischen Adelsrepublik, die die Bukowina – vor der Habsburgischen Monarchie – hundertfünfzig Jahre lang geprägt hatte. Panja – die Herrin der Zeit. Mit einer schweren Messingglocke läutete sie die Schulstunden ein und beendete damit auch den Unterricht. Panja – die Herrin für süße Momente. Jeden Morgen schoben sich die Mädchen zwei und zwei durch den engen Toreingang an Panja vorbei und hatten schon das selbstgezimmerte Holzkistchen auf ihrem Schoß im Blick. Denn dort lagen die runden Himbeerbonbons, die sie den Mädchen zusteckte. Jedem nur eines. Ausnahmen machte sie nicht.63

Später, in der großen Pause, baute sich Panja im Foyer des Eingangsbereiches auf. Die Fenstersimse zweckentfremdete sie als Auslage für ihre hausgemachten »Leberknödelchen« und platzierte darauf die scharf gewürzten Fleischbällchen auf kleinen Papieruntersetzern. Für einen Lei war diese Herrlichkeit zu haben.64 Eigentlich nicht überteuert, denn schon eine Kugel Eis kostete einen Lei. Für Margit waren die Fleischknödelchen die Würze im fad gewordenen Schulalltag des »Hofmann-Lyzeums«.

Der in den meisten Fällen aber eine Qual blieb. Selma war nicht die einzige, die sich in den höheren Klassen dem Unterricht entzog, indem sie sich in ihre eigene Welt flüchtete. Jüdischen Schülerinnen erging es an anderen Schulen ähnlich. Auch Liane Schindler, die sich später Ilana Shmueli nannte, verdämmerte ihre Schulzeit mit einem »phantasiereichen Halbschlaf«65. Und erzählte man nicht auch von Cousin Paul, dass er einfach geistig abtauchte, um sich der missliebigen Realität zu entziehen? Selma machte es ihm gleich: Sie rutschte während des Unterrichts einfach unter die Schulbank. Nicht, weil sie schüchtern war, sondern weil sie dort ihre Ruhe hatte und lesen konnte, was ihr behagte. Sehr früh schon begann sie mit »Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Paul Verlaine und den damals populären indischen Weisheiten des Rabindranath Tagore«66. Renée erinnerte sich noch viele Jahre später, dass sie dabei Schützenhilfe leistete und die Lehrer so gut sie konnte von Selmas Versteck ablenkte.

Renée und Selma hatten die gemeinsamen Schuljahre zusammengeschweißt, sie zu besten Freundinnen gemacht. Die beiden Mädchen hatten den gleichen Schulweg. Im Unterricht saßen sie in derselben Bank. Ob auch der Verlust eines Elternteils die beiden Mädchen von Anfang an so schnell zueinanderfinden ließ? Renée hatte eine Stiefmutter, nachdem ihre leibliche Mutter an Blutvergiftung gestorben war.67

Die rumänischen Pädagogen nahmen wenig Anteil am Schicksal ihrer Zöglinge. Auch ihrem Lernverhalten standen sie eher gleichgültig gegenüber. Nur Fehlzeiten vermerkten sie penibel in den Klassenlisten. Doch sie scherten sich wenig darum, dass sich die Mädchen stunden- und tagelang dem Unterricht entzogen. Fast schien es dem Lehrpersonal entgegenzukommen, dass jüdische Schülerinnen durch Leistung nicht hervorstachen. Deshalb wurde keine neue Klasse eingerichtet, sondern der Klassenteiler angehoben, als ab 1937 immer mehr jüdische Mädchen aus rumänischen Gymnasien ins »Hofmann-Lyzeum« drängten. Im antisemitischer werdenden Klima schien es Eltern noch ein geschützter Hort zu sein. Im Schuljahr 1937/​38 – im für Juden so dramatischen Goga-Cuza-Jahr – saßen in Selmas Klasse schließlich achtundfünfzig Schülerinnen. Doch das Lerntempo wurde der erschwerten Unterrichtssituation weder angepasst noch wurde den ungenügenden rumänischen Sprachkenntnissen vieler Mädchen Rechnung getragen: Die rumänischen Lehrer erklärten grundsätzlich nur ein einziges Mal. Wer nicht verstanden hatte, musste zu Hause eben nacharbeiten. Vierteljährliche Zeugnisse kontrollierten den Lernerfolg.68 Reichte die Notenskala auch von 1 bis 10, so waren viele jüdische Schüler, die die rumänischen Gymnasien besuchten, überzeugt: »10 kriegt nur der liebe Gott.«69 Juden erreichten dort selten mehr als 7, auch wenn sie sich noch so sehr bemühten. Einzig der Rabbi, der die Mädchen in jüdischer Religion unterrichtete, unterlief das System: Alle Mädchen mosaischen Glaubens bedachte er die Schuljahre hindurch mit der Bestnote 10. Andere Fachlehrer schmälerten gute Leistungen, indem sie den Schnitt ungeniert drückten. Kurz und gut: »Das jüdische Schulkind zog durch die Schule wie durch die Hölle.«70

Dagegen konnten sich rumänische Mädchen im Himmel wähnen: Bei ihnen drückten die Lehrer beide Augen zu. Die aufreizende Graziella Barbuzza in Selmas Klasse war ein Paradebeispiel dafür. Die Tochter eines rumänischen Offiziers war 1937/​38 neu in die Klasse gekommen, nachdem die Goga-Cuza-Regierung verstärkt regimetreue Landsleute in die Bukowina versetzt hatte, deren Kinder die Czernowitzer Schulen bevölkerten. Graziella hatte schon Klassen wiederholt und war zwei Jahre älter als Selma. Dass sie römisch-katholisch war, demonstrierte ein großes silbernes Kreuz an ihrer Halskette, das wenig unschuldig in den tiefen Ausschnitt ihres körperbetonten Kleides rutschte. Denn Graziella blieb die Schuluniform erspart: Sie kam in Seidenstrümpfen und auf extravaganten Pumps zur Schule gestöckelt. Ihr Kleid hatte einen durchgehenden Reißverschluss – und mit einem Ruck konnte Zuki, so ihr Kosename, zur Verblüffung ihrer Klassenkameradinnen entblößt vor ihnen dastehen. Mit diesem Auftritt hatte Zuki auch manch jungem Offiziersanwärter den Kopf verdreht. Gegen entsprechendes Entgelt bot Graziella ihren Mitschülerinnen an, ihre Tête-à-Têtes mit jungen Offizieren zu belauschen.71 Mit Wissen punktete die kokette Rumänin eher weniger, aber mit ihren legendären Liebesabenteuern blieb sie ihren Mitschülerinnen trotz des kurzen Gastspiels im Gedächtnis. Denn mit dem Ende der Goga-Cuza-Regierung wurde Vater Barbuzza aus Czernowitz abgezogen und Graziella hatte die Schule verlassen.

Zur Schuluniform gehörte ein Barett als Kopfbedeckung. »LPF«–»Liceul Particular de Fete« prangte auf der Stirnseite in goldenen Lettern. Golden schimmerten auch die Nummern auf den Ärmelaufschlägen der Uniformen. Fadenscheiniger Glanz. Die Ziffern dienten in erster Linie dazu, Bespitzelung zu erleichtern, die die Inspektoren auch außerhalb des Schulbereiches fortsetzten. Selbst vor dem Privatleben der Mädchen machten sie nicht halt. Wer ohne Uniform auf der Straße ertappt wurde, musste Strafe befürchten. Wer in der Öffentlichkeit Deutsch sprach, musste Strafe befürchten. Zu den Kardinalsünden zählte, sich ohne Uniform in Gesellschaft eines Jungen erwischen zu lassen. Eine Möglichkeit, die Strafe abzuwenden, fand sich dennoch immer: »Bakschisch« hieß das Zauberwort, das nachsichtig stimmte. Diese lukrative Möglichkeit der Nebeneinkünfte machte Schulkontrolleure und selbst Polizisten blind gegenüber Verfehlungen.

Leistung und Bildung – für die Freizeit blieb den meisten Mädchen nicht viel Luft. Vor allem nicht, wenn sie aus besseren Kreisen stammten: Französischunterricht bei Fräulein Harnik. Sportunterricht im Makkabi-Turnverein. Musikunterricht, Kunststunden. Die Nachmittage waren ausgefüllt. Bereits ab dem fünften Lebensjahr fingen Kinder des wohlhabenden Bildungsbürgertums mit dem Privatunterricht in Französisch an.

Selma zählte nicht zu den besseren Kreisen. Von teuer bezahltem Privatunterricht ist nichts bekannt. Selma ist auch nie auf den Fotos der feinen Kindergeburtstage ihrer Klassenkameradinnen zu sehen.

Man blieb auch bei Ausflügen in die nähere Umgebung unter sich, wenn es zum Schwimmen an den Pruth ging oder wenn Margits Mutter eine Kinderschar mit Picknick-Korb zum Fluss begleitete. Umso wichtiger wurde Selma ihre Freundschaft zu Renée. Mit ihr tauschte sie auf dem gemeinsamen Schulweg Privates aus. Da mussten sie nicht die Kontrolle der rumänischen Schulinspektoren fürchten. Liane Schindler beneidete Klassenkameradinnen um diese Intimität. Sie wurde jeden Morgen mit dem »Sandläufer«, einem eleganten Einspänner, zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt, was sie nicht nur »stets aufs Neue in Verlegenheit brachte«72, sondern eben auch ausgrenzte. Liane sollte erst im sogenannten »Russenjahr« in der Jiddischen Schule mit Selma und anderen gleichaltrigen Mädchen intensiveren Kontakt aufnehmen. Ohne die Wirren der Zeitgeschichte wären sich Selma und Liane wohl nicht begegnet.

Doch Selma genügte Renées Gesellschaft. Weil Selma wohlerzogen und belesen war, hatte die Familie Abramovici sie gerne zu Gast. Selma verkroch sich dann in der üppig ausgestatteten Bibliothek, las, was ihr in die Finger kam, oder saß Renée zu Füßen, wenn die Freundin Klavier spielte. Zusammensitzen ohne zu reden, Nachmittage lang. Vertrautheit ohne Worte. Selma und Renée wussten auch im Schweigen, wie es jeder von ihnen zumute war.73

Margit konnte sich nicht in den Schulweg der beiden einklinken; er lag in der entgegengesetzten Richtung. Gemeinsame Unternehmungen zu dritt blieben Margit dennoch im Gedächtnis. So wie das »Striezelchen-backen«. Das war Thema der morgendlichen »gospodăriă«, der Hauswirtschaftslehre, gewesen. Die drei Mädchen hatten am Nachmittag bei Margit zu Hause in die Praxis umgesetzt, was ihnen vormittags in der Schule als Theorie serviert worden war. Wirkliche Back-Kunst kam an jenem Nachmittag nicht recht zum Einsatz, die fertigen Striezel hatte Margit beim Bäcker gekauft. Die Mädchen höhlten dann nur noch die Teigtaschen aus und füllten sie mit »Zwiebelchen und Kräutern«, um sie anschließend im Ofen zu überbacken.74 Hauswirtschaft und Handarbeit –»gospodăriă« und »lucrul de mănă«– schien Selma gerne gemacht zu haben. Dass sie 1938 laut ärztlichem Attest verletzt und ausgerechnet von diesen beiden Fächern befreit gewesen war, musste sie betrübt haben.

 

Margit hat etliche Schnappschüsse aus ihrer Kindheit und Jugend von gemeinsamen Ausflügen mit Freundinnen gerettet: Mal ist sie mit fein herausgeputzten Mädchen in rumänischer Nationaltracht zu sehen, mal inmitten einer fröhlichen Mädchenschar in einem der Strandbäder am Pruth. Selma ist nie dabei, Renée hin und wieder. Zu Margits festem Freundeskreis gehörten aber Livia und Ruth Segal. Schon allein weil die Familien eng befreundet waren. Nathan Segal, der Vater der beiden Mädchen, war der Geschäftspartner von Margits Vater Moritz. Die Mütter fuhren mit den Kindern regelmäßig zur Sommerfrische in die nahen Waldkarpaten. Selma hat Ruth gekannt, ein Jahr lang waren die beiden Klassenkameradinnen, davor hatte Ruth Selmas Parallelklasse besucht. Auch Ruths Schwester, die zwei Jahre jüngere Livia, wird Selma zumindest vom Sehen vertraut gewesen sein, denn auch sie war Schülerin des »Hofmann-Lyzeums«. Selbst wenn Ruth, Livia und Selma während der Schulzeit eher getrennte Wege gegangen waren – das Jahr 1942 wird sie unter den unglücklichsten Umständen zusammenführen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?