Wagen 8

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Kapitel 8

10.27 Uhr. Im selben Moment saß der Innenminister des Landes bei einem Arbeitsfrühstück mit seinen Amtskollegen aus den anderen Bundesländern in Cochem an der Mosel zusammen, um die Möglichkeiten einer stärkeren Zusammenarbeit im Bereich der Absicherung von Demonstrationen auszuloten. Als man ihm mitteilte, dass in diesen Minuten ein von Hijackern gekaperter Zug durch die Wälder des Harzes dröhnte, war sein erster Gedanke der an einen terroristischen Akt. Möglicherweise benutzten die Täter diesmal keine Flugzeuge als Waffe, sondern die Eisenbahn. Besorgt fragte er nach, ob bei der Aktion der Ruf »Allahu akbar« gefallen sei. Niemand wusste etwas davon, doch das musste noch nichts heißen. –

Robert Königs Job war es nicht, über den Innenminister nachzudenken. Das sollten andere tun. Robert war nur für seine Männer verantwortlich. Er drehte sich in diesem Moment um und bekam gerade noch mit, dass der Zug, der vielleicht zweihundert Meter Luftlinie von seinem Standort entfernt vorüberzog, tatsächlich die Geschwindigkeit verringerte. Wittichs Botschaft auf dem Waldboden musste der Rangierer also verstanden haben. Eine Minute bliebe ihnen noch, vielleicht zwei, bis der Zug den Bahnhof Steinerne Renne passieren würde.

Doch sie hatten verloren.

Ihre Einsatzfahrzeuge steckten beide fest. Außer Gefecht gesetzt von einem Sattelschlepper, der gerade die Batteriefabrik verlassen hatte und nun die schmale Straße hinauf zur Bahnstation blockierte. Vierhundert Meter vor ihrem Ziel. Robert war ausgestiegen und lehnte sich resigniert an das Dach des schwarzen Vans, der von den beiden der hintere war. Es hatte keinen Sinn, den Truck zurückzuwinken; bis die Straße wieder frei war, hatte der Zug Steinerne Renne längst verlassen.

Der Wind pfiff hier oben schon bedrohlich. Er musste plötzlich an seine Tochter denken. Er konnte schon verstehen, dass man für die Truppe am liebsten Männer auswählte, die ungebunden waren. Am besten sogar ohne feste Freundin.

Seine Emily war jetzt gerade einmal vier Wochen alt. Es war eine komplizierte Geburt gewesen. Beckenendlage, hatte der Arzt erklärt und sich dennoch gegen einen Kaiserschnitt entschieden. Die Schreie von Bella, seiner Frau, setzten ihm damals weit mehr zu als dieser Einsatz hier. Alles, was sie heute taten, hatten sie immer wieder trainiert. Es gab keine wirklich neuen Situationen.

Die Ironie bei der ganzen Angelegenheit war, dass der Zug in wenigen Augenblicken direkt an Robert und seinen Männern vorbeifahren würde. Die Strecke verlief in einer relativ starken Steigung etwa fünfzehn Meter oberhalb der Straße. Doch von hier unten war sie weder einsehbar noch erreichbar. Den Hang bedeckte undurchdringliches Dickicht. Man benötigte schon eine Machete, wollte man es bezwingen.

»Schmieder ist auf dem Weg zum Zug!«

Einer seiner Männer aus dem vorderen Wagen war ausgestiegen und hatte ihm diese Worte zugerufen.

Robert verstand nicht. Sein Befehl per Funk, die Aktion abzubrechen, war doch eindeutig gewesen. Sein Kollege klärte ihn auf. Als der Funkspruch kam, war Schmieder bereits losgelaufen, gerade noch an dem Truck vorbei.

Sören Schmieder. Im Alleingang, im Vollsprint, mit kompletter Ausrüstung und gegen das stürmische Wetter. Zweifellos ein guter Mann, einer seiner besten, der jedoch bisweilen zu nicht ganz ungefährlichen Alleingängen neigte. Bis an den Bahnsteig war es eine Strecke von etwa einem halben Kilometer. Und zusätzlich musste er noch aufpassen, von den Tätern nicht frühzeitig entdeckt zu werden. Roberts Aufgabe wäre es jetzt eigentlich gewesen, zum Funkgerät zu greifen und Schmieder zurückzupfeifen. Doch er tat es nicht. Auch wenn es nur eine kleine Chance war, es war immerhin eine.

Der Lkw-Fahrer hupte und winkte ihm zu, die Straße freizugeben. Er wollte weiterfahren. Robert ignorierte ihn einfach, griff stattdessen wieder zum Funkgerät, um Mölter Meldung zu machen, dass die Aktion gescheitert war. Der konnte es kaum fassen. Stille in der Leitung. Robert meinte, die Enttäuschung des Einsatzleiters geradezu spüren zu können. Nach ein paar Sekunden war Mölter aber wieder da. »König, Sie kehren um und verfolgen den Zug über die L 100 in südlicher Richtung bis zum Gasthaus Drei Annen. Da ist eine kleine Lichtung. An dieser Stelle überqueren die Gleise die Straße. Der Zug muss etwas langsamer fahren. Ihr neuer Einsatzbefehl lautet: Versuchen Sie, auf die führerlose Lok zu kommen und die Maschine zum Stehen zu bringen, bevor der Zug den Bahnhof Drei Annen Hohne erreicht. Fahren Sie mit Sondersignal. Ihnen bleiben genau fünfzehn Minuten, dann passiert der Zug das Gasthaus! Es wird knapp, aber Sie können es schaffen!«

»Einer meiner Männer ist noch draußen. Er versucht, den Zug zu erreichen.«

»Allein?«

»Ja.«

»Wie konnte das passieren?«

»Er war schon weg, bevor der Befehl zum Abbruch kam. Vielleicht hat er eine Chance.«

»Was meinen Sie?«

»Schwer zu sagen. Fünfzig-fünfzig, würde ich sagen.«

»Also gut. Lassen Sie einen der beiden Wagen zurück und teilen Sie Ihr Team. Aber bleiben Sie auch in ständigem Kontakt mit den anderen Männern.«

Robert ließ fünf seiner Leute in den hinteren Gruppenwagen einsteigen und losfahren. Wittich, der dem Rangierer das Zeichen gegeben hatte, war bereits wieder zu ihnen gestoßen, also konnten sie sofort abrücken. Er selbst blieb zurück, um mit den restlichen beiden Männern Schmieder zu folgen. Der hupende Truck, der weiterfahren wollte und dem der andere Van noch immer direkt vor der Motorhaube stand, interessierte ihn jetzt einen Dreck. Er hörte das Pfeifen der Diesellok, der Hinweis darauf, dass sie in diesem Augenblick in einer engen Linkskurve den kleinen Bahnübergang direkt auf der Höhe des Wasserwerks passierte, den nur Wanderer benutzten. Am Ende dieser Kurve lag die Einfahrweiche für den Bahnhof.

Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Soeben hatte der Gegenzug aus Richtung Drei Annen Hohne einen Warnpfiff abgegeben. Das hieß, er war bisher nicht im Bahnhof eingetroffen! Er war so nahe, dass man ihn schon hören konnte, trotzdem nach Roberts Schätzung noch mindestens einen halben Kilometer entfernt. Und ohne Mühe, mit stoischer Gleichförmigkeit zog die klobige weinrote Maschine langsam, aber unverdrossen ihre Wagenschlange aus der Linkskurve die beginnende Steigung hinauf in den Bahnhof. Noch dreihundert Meter, dann würde sie auch die Ausfahrweiche von Steinerne Renne passieren und die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. Es musste zur Kollision kommen.

König und seine beiden Männer rannten los.

Kapitel 9

10.28 Uhr. Im Zug 8925 hatten die Fahrgäste, die den zweiten Teil dieses Wortes derzeit wohl eher als Hohn begriffen, ebenfalls längst bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Keinem von ihnen war das ständige aufgeregte Pfeifen der beiden Loks entgangen. Kirsten Seibt, Kellnerin in einem Schierker Gasthaus und eigentlich auf dem Weg zur Arbeit, wurde plötzlich bleich und sackte wenige Augenblicke später auf ihrem Sitz zusammen. –

Ulrich Medow hatte im selben Moment, als der Zug die letzte Kurve vor dem Bahnhof nahm, erkannt, dass der zweite Bahnsteig leer war. Der Gegenzug befand sich noch auf der Strecke. Der Rangierer hatte mit seiner Warnung recht gehabt. Da stand Ulrich nun, mit einer Knarre in der Hand und entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen, doch er musste einsehen, wie endlich seine Macht war. Ihr Zug erreichte den Bahnsteig, fuhr immer weiter. Wenn er nicht in der nächsten Sekunde eine Entscheidung traf, war es danach gleichgültig, wie diese ausfiel. Dann gab es nichts mehr zu entscheiden.

Der Rangierer sah zu ihm herüber, mit dem Handballen über dem dicken roten Notschalter, und im nächsten Augenblick quietschten die Bremsen. Er hatte ihm die Entscheidung einfach abgenommen.

Wieder flog alles, was nicht so stark war wie die Fliehkraft, nach vorne, doch ganz so schlimm wie beim ersten Mal war es nicht, denn der Zug war diesmal langsamer unterwegs. Ulrich, die Faust an der Haltestange, konnte den Stoß abfangen. Und abermals gab es, als ihr Waggon endlich stand, diesen Moment aufatmender Ruhe, die Gewissheit, der Katastrophe entkommen zu sein.

»Wie heißt du?«, fragte Ulrich leise.

»Urbanek.«

»Und mit Vornamen?«

»Ernst.«

»Ernst also.«

Ihre Blicke trafen sich erneut. Ernst nickte ein wenig.

»Weiterfahren, Ernst!« Ulrich hatte am oberen Bahnhofsende die schwarze Dampflok des Gegenzuges ausgemacht. Sie würde jeden Augenblick die Weiche zum Nachbargleis passieren. Nur zehn Sekunden, lächerliche zehn Sekunden hatten gefehlt.

Da wurde die Waggontür aufgerissen, Rick fuchtelte mit der Beretta in der Hand herum. »Ich glaube, die eine von den Frauen hier klappt uns gleich zusammen. Wir müssen sie rauslassen, Ulrich!« Als dieser nicht sofort reagierte, suchte sein Schwager nach weiteren Argumenten. »Die Gelegenheit ist doch gut. Die Bullen haben wir abgehängt!«

»Steck die Knarre weg, sonst passiert noch was!« Ulrich sah ihm über die Schulter, steckte den Kopf durch die Tür. In der Tat lag eine der Frauen auf der Sitzbank und atmete schwer.

Draußen ertönte ein langer Pfiff, am Fenster huschte der Gegenzug vorbei und kam mit der Dampflok unmittelbar neben ihrem Wagen zum Stehen.

»Was ist denn mit euch los, Ernst? Ihr seid doch viel zu früh!« Der Heizer hatte den Kopf aus dem Führerhaus gesteckt. Trotz des Wetters schien er ein Schwätzchen mit seinem Kollegen halten zu wollen. Ulrich hatte er noch nicht wahrgenommen und anscheinend ebenso wenig begriffen, dass Urbanek den Zug steuerte. Ulrich konnte jetzt nicht noch ein Problem gebrauchen, so zückte er seine Waffe und nötigte die Besatzung des Gegenzuges mit wenigen, aber energischen Worten dazu, ihre Fahrt unverzüglich fortzusetzen.

 

»Dem haben Sie jetzt aber einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn das mal gutgeht. Paul hat ein schwaches Herz«, kommentierte der Rangierer den Vorfall trocken und fast amüsiert.

Ulrich ging nicht darauf ein. Das eben war nichts als Theater gewesen. Niemand konnte ihm erzählen, dass die Besatzung des Gegenzuges nicht über die Entführung Bescheid wusste. Aber das spielte keine Rolle. Er musste die Sache mit den Geiseln zu einem Ende bringen. Gut, er war einverstanden. Die Frau sollte raus. Und noch ein paar von den anderen. Rick krauste die Stirn und sah ihn fragend an. Er verstand mal wieder nichts. Ja, Ulrich hatte seine Meinung geändert. Aber das war jetzt nicht wichtig. Er konnte es ihm später erklären.

Die Rentnerin, die den Eindruck machte, als wäre sie die nächste Kandidatin für einen Kreislaufkollaps, die kranke Frau und ihre Freundin, den Kerl in der Lederjacke, den anderen daneben und den Trottel mit dem karierten Koffer – sie alle winkte er mit einem Kopfnicken zur Tür. Die zickige Kleine, die ihn ansah, als wäre sie eine Hexe und könnte ihn in einen Hammel verwandeln, und die Frau mit dem Lockenkopf fuhren weiter mit ihnen. Das Wanderpärchen auch, die waren harmlos. Man wusste nie, wofür es gut war.

Alle konnte er nicht gehen lassen. Ohne Geiseln würde es leicht sein, ihn und Rick zu überwinden. Es war nicht abzusehen, was sich die Bullen noch ausdachten. Vielleicht ließen sie den Zug entgleisen und lauerten ihnen an einem der zahlreichen Waldwege auf.

Und er musste Frauen als Geiseln behalten. Ulrich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass Henning Gabler immer genau wusste, was sie gerade taten. Vielleicht war Gabler auf die Idee gekommen, einen von seinen Kumpanen als ganz normalen Fahrgast auftreten zu lassen. Nur hätte der Kerl dafür ganz gewiss keine Frau ausgewählt.

Als der Rangierer sah, dass alle Freigelassenen wieder festen Boden unter den Füßen hatten, schien er zum ersten Mal auf dieser Reise zufrieden zu sein, ließ die Lok pfeifen und drückte den Joystick nach vorne, um der Maschine langsam ihre Bewegungsenergie zurückzugeben.

Kapitel 10

10.30 Uhr. Dann war da noch Franz Berger, eine der Geiseln in Wagen 8. Derjenige, dessen Frau am Bahnhof Wernigerode zurückgeblieben war. Dass Kleider Leute machten, wusste schon Gottfried Keller, und Franz war froh darüber, dieser bescheidenen Erkenntnis auch diesmal die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Denn die Tatsache, dass die Entführer ihn während der gesamten Zugfahrt in Ruhe gelassen und nun zur Freilassung im Bahnhof Steinerne Renne ausgewählt hatten, dürfte vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass er in seinem grauen Trenchcoat daherkam wie ein harmloser Pauschalreisender. Niemand hatte sich für seinen Koffer interessiert. Dabei enthielt er Amphetamine im Wert von achtzigtausend Euro, die Berger bei einem Abnehmer alsbald zu Geld machen musste, sonst konnte er das Haus nicht mehr halten. –

Marvin Mölter wusste davon nichts; er blickte wie alle anderen im Stellwerk auf Fichtes Bildschirm und atmete tief durch. Sein Hals war nun feuerrot und der Puls schlug so heftig, dass er meinte, die Menschen neben ihm müssten ihn hören. Das hätte gerade verdammt ins Auge gehen können.

Der 8925 stand.

Alles andere war nachrangig.

Fichte, der unermüdliche Stellwerker, den er für verlässlich und absolut loyal hielt, war von seinem Platz aufgesprungen und konnte nicht mehr an sich halten. »Das machen Sie kein zweites Mal mit mir, verstanden? Auch wenn Sie hier die …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… Befehlsgewalt haben, bin ich doch letztlich für den Zugbetrieb an diesem Platz verantwortlich! Glauben Sie, ich will hier Tote haben, während meines Dienstes, nur weil Sie ein bisschen Gott spielen wollen? Nicht noch einmal!«

Marvin ging auf Fichte zu und gab ihm einen Klaps an die Schulter. Der Mann zitterte, so sehr hatte ihn seine letzte Anweisung mitgenommen. Der würde doch wohl jetzt nicht schlappmachen? Fichte wehrte ihn nicht ab, ließ ihn gewähren.

Letztlich war das alles nur eine Frage der Psychologie. In seiner Ausbildung, die nun auch schon wieder zehn Jahre zurücklag, war er beim Unterrichtskomplex Gesprächsführung mit Geiselnehmern stets einer der Besten gewesen. Und auch wenn ein Gespräch zwischen ihm und den beiden Kidnappern überhaupt nicht zustande gekommen war, glaubte er, sie bis zu einem gewissen Grade lesen zu können.

Er hatte Simone, die couragierte Zugbegleiterin, die ihren waghalsigen Sprung vom anfahrenden Zug zum Glück nur mit einem verstauchten Arm bezahlen musste, nach ihrem persönlichen Eindruck gefragt. Und sie hatte sein Bauchgefühl bestätigt. Marvin war sich nun sicher: Diese beiden Kerle waren nicht so brutal und rücksichtslos, wie sie taten. Das war nur Fassade. Sie opferten, um ihr Ziel zu erreichen, eher ihre Prinzipien als Menschenleben. Allein die ungewöhnlichen Umstände dieser Entführung sprachen eindeutig dafür.

Was machte es für einen Sinn, einen fast leeren, relativ langsam fahrenden Zug zu kapern? Schließlich musste dieser Zug ja auch irgendwann zum Stehen kommen. Spätestens am Prellbock auf dem Brocken oder in Nordhausen war dann Schluss, was die Geiselnehmer auf jeden Fall unter Zeitdruck setzte. Die Unwägbarkeiten, die bei dieser Aktion zuhauf auftreten konnten, waren einfach zu hoch. Warum hatten die Entführer zum Beispiel nicht gewartet, bis die reguläre Lokomotive am Zug war? Sie zu besetzen wäre deutlich vorteilhafter gewesen. Stattdessen überwältigten sie den Rangierer. Ein Zug, der vom letzten Waggon aus gesteuert wurde, war doch auf einer solchen topografisch schwierigen Strecke praktisch unkontrollierbar.

Wie man es auch drehte und wendete: Diesen Zug zu entführen zeugte entweder von grenzenloser Naivität und ebensolcher Dummheit oder es geschah aus einer Zwangslage heraus. Vielleicht erpresste sie jemand, der sich außerhalb des Zuges befand, aber alle Fäden in der Hand hielt. Nicht die beiden Kidnapper waren dann die Irren, sondern dieser Jemand.

Und dem schien es nicht ums Geld zu gehen. Dafür sprach die Tatsache, dass die Kerle bisher keine Lösegeldforderung gestellt hatten. Denn das Geld müsste erst beschafft werden, was schließlich Zeit kosten würde. Nein, alles deutete darauf hin, dass die Geiselnehmer eine ganz andere Mission verfolgten, und die war ihnen so wichtig, dass sie es nicht zu einer Katastrophe kommen lassen würden.

Und deshalb war Marvins Entscheidung, dem Gegenzug aus Nordhausen zum Schluss zu befehlen, seine Geschwindigkeit wieder zu drosseln, richtig gewesen. Auch wenn das niemand hier im Raum verstanden hatte und Fichte ihn jetzt für übergeschnappt hielt.

Denn die Übernahme durch seine Männer hätte genauso klappen können. Und deshalb hatte er es riskieren müssen. Die Aktion war gut durchdacht gewesen und der Platz dafür dank seiner hervorragenden Ortskenntnis perfekt gewählt. Nur ein dummer, unvorhersehbarer Zufall hatte es verhindert. Hätte da nicht dieser elende Truck gestanden und den Weg versperrt, dann wäre die Geiselnahme in diesem Moment bereits beendet gewesen. Dass für die Männer vom SEK die Überwältigung eines stehenden Zuges kein Problem sein sollte, war freilich eingepreist. Dafür waren sie ausgebildet.

Marvin hörte über das offene Mikrofon von König mit, was er auch auf Fichtes Monitor sah, nämlich dass der Zug im Bahnhof Steinerne Renne gerade dabei war, seine Fahrt fortzusetzen. Das Röhren des Dieselmotors konnte man deutlich wahrnehmen. In wenigen Augenblicken würden König und seine Männer ihn aus den Augen verlieren. Sie hatten es nicht geschafft.

Nun musste die Aktion als gescheitert angesehen werden. Ab jetzt wurde ein Zugriff ungleich schwieriger. Der Plan, den Zug oben am Gasthaus, etwa einen Kilometer vor Erreichen des Bahnhofs Drei Annen Hohne, durch ein Hindernis im Gleis zum Stillstand zu bringen, war aufgrund der Lagebewertung Marvins ursprüngliche Idee gewesen. Dort musste der Zug die L 100 überqueren und unmittelbar darauf eine Rechtskurve fahren. Eine unübersichtliche Stelle und eine gute Möglichkeit für einen Zugriff.

Doch da hatte sich noch nicht die günstige Gelegenheit mit Steinerne Renne geboten. Nun war die Zeit das Problem. Sollte der Zug mit voller Geschwindigkeit durchfahren, konnte König es nicht mehr schaffen. Vielleicht die Kollegen im anderen Van, die vorausgefahren waren. Doch auch das war keineswegs sicher. Marvin musste darauf hoffen, dass irgendein äußerer Umstand ein weiteres Mal die Fahrt des Zuges behinderte.

Vielleicht hieß dieser Umstand Lore Sikora.

Eines der Telefone auf Fichtes Arbeitstisch hatte vor ein paar Minuten geklingelt. Fichte hatte ihn daraufhin angestupst und ihm den Hörer gereicht. »Sollten Sie sich anhören.«

Es war Holger Matthies gewesen, ein uniformierter Beamter aus dem Wernigeröder Revier, den Marvin ganz gut kannte. Sie waren sich ein paar Mal bei verschiedenen Fortbildungskursen begegnet. Erst hatte sich Matthies die SMS seiner Kollegin nicht zusammenreimen können, doch als dann die Meldung von der Entführung des Zuges auf seinem Diensthandy aufgeploppt war, hatte er den Sinn verstanden.

Offenbar befand sich eine Kollegin unter den Fahrgästen. Sie schien bisher noch nicht enttarnt worden zu sein.

10 GEISELN IM LETZTEN WAGGON. ALLE NOCH WOHLAUF. 2 TÄTER. EINER HEISST ULRICH. BEIDE MIT HANDFEUERWAFFEN. SPORTTASCHE MIT UNBEKANNTEM INHALT. ZIEL UNBEKANNT. LORE

Nachdem Marvin sich die SMS von Holger Matthies vorlesen lassen hatte, ballte er die Faust. Das war eine völlig neue Situation, aber endlich einmal eine gute Nachricht. Jetzt galt es, diesen Trumpf möglichst optimal zu nutzen. Matthies hatte ihm versichert, dass seine Kollegin erfahren genug war, die Lage richtig einzuschätzen und umsichtige Entscheidungen zu treffen. Außerdem wollte er sich unverzüglich ins Stellwerk am Bahnhof begeben. Er hatte sofort mit dem zuständigen Leitenden Einsatzbeamten vom Dienst telefoniert und das abgeklärt. Der hatte auch noch zur Unterstützung der Kollegen sofort drei Streifenwagen zum Bahnhof Steinerne Renne geschickt. Sie mussten jeden Augenblick eintreffen.

Wenn Holger Matthies die Kollegin Sikora so gut kannte, wie es schien, konnte Marvin seine Dienste gewiss gut gebrauchen. Blieb nur die Frage, wie sie helfen konnte, die Täter zu überwinden. Ihre Dienstwaffe lag jedenfalls im Waffentresor in der Einsatzstelle.

Diese SMS hatte ihnen ja bereits geholfen. Es waren also mit Sicherheit zwei Täter und einer von ihnen hieß Ulrich. Damit musste doch etwas anzufangen sein.

Die Kollegen im LKA in Magdeburg sollten den Namen durch den Computer jagen. War das der Vor- oder Nachname? Auch als Vorname kam er nicht sonderlich häufig vor. Vielleicht landeten sie ja einen Treffer.

König meldete sich schon wieder. Die Zahl von zehn Geiseln stimmte derweil nicht mehr. Sechs der Geiseln hätten die Täter am Bahnsteig in Steinerne Renne unerwartet aussteigen lassen. Drei Frauen und ein Mann befänden sich weiter in ihrer Hand.

Schon die zweite gute Nachricht! Marvin atmete auf. »Wie geht es den Fahrgästen?«

»Sind alle wohlauf. Eine von ihnen hat wohl einen Schwächeanfall simuliert, sodass die Täter sie freigelassen haben. Ziemlich schlau. Sie hat den Wernigeröder Kollegen gerade erzählt, dass sie in einem Laientheater spielt. Sie scheint Talent zu haben«, kommentierte König belustigt. Dennoch würde Marvin noch einen Rettungswagen zu ihnen schicken.

Lore Sikora gehörte nicht zu den Freigelassenen. Zum Glück. Und die Streifenwagen waren auch eingetroffen. Marvin verspürte für einen Moment so etwas wie Erleichterung.

Zur Zentrale in Magdeburg existierte inzwischen eine Standleitung. Habermann fragte ständig nach, welche neuen Entwicklungen sich ergeben hätten. Marvin musste ihm früher oder später über den Fehlschlag in Steinerne Renne noch Meldung machen. Über die Reaktion machte er sich keine Illusionen, da half es auch nicht, dass nun sechs Geiseln frei waren. Er wusste, dass Habermann, sein Chef beim LKA in Magdeburg, Vorbehalte gegen ihn hegte. So würde er es gegenüber einem Kollegen formulieren. Marvin hatte es, als Ilka ihn einmal danach fragte, anders ausgedrückt. Habermann, dieser Stiefel, konnte ihn nicht ausstehen und würde ihn wahrscheinlich am liebsten loswerden. Das war von Anfang an so. In den zwei Jahren, die Marvin jetzt unter Habermann arbeitete, hatte er niemals ein wertschätzendes Wort von ihm zu hören bekommen. Wohl aber fielen schon mal abfällige Bemerkungen. Über sein Halsproblem zum Beispiel. Puter nannte er ihn, wenn er glaubte, Marvin bekäme es nicht mit. Oder wenn Marvin keine Lust hatte, sich mit den Kollegen beim Kegeln zu besaufen, und lieber nach Hause fuhr: Pantoffel. Häufig hatte Marvin das Gefühl, als wartete Habermann geradezu darauf, dass er einen Fehler machte.

 

Wenn Marvin ihm dafür wenigstens einen Grund geliefert hätte. Doch das Gegenteil war der Fall. Nie fehlte er. Sämtliche Qualifizierungsmaßnahmen hatte er mit guten oder sehr guten Ergebnissen abschließen können, schwarz auf weiß nachprüfbar. Einige davon hatte er sogar auf Wunsch Habermanns durchgeführt. Mit besserem Abschluss als die meisten in der Truppe. In theoretischen Belangen war er schon immer gut. Das schien seinen Chef aber nicht im Geringsten zu beeindrucken.

Fachlich war gegen Habermann nichts einzuwenden, da machte ihm keiner so leicht etwas vor. Von Polizeitaktik oder Ermittlungsarbeit verstand er etwas. Aber menschlich war er eine Katastrophe. Ein elender Intrigant. Ein Charakterschwein, der es liebte, wenn da einer war, der für seine Launen den Blitzableiter spielte.

Und so hatte Marvin bis heute noch nicht einen einzigen Einsatz geleitet. Selbst die kleinen wie einfache Festnahmen übertrug Habermann stets an Kollegen, die er schon ewig kannte und die gleichsam zu seinem Inner circle gehörten. Eine Handvoll Beamte, die er duzte und bei Gelegenheit offen protegierte.

Deshalb war gewissermaßen heute ein Wunder geschehen. Sein Chef hatte ihm vor zehn Minuten mit trockenen Worten die Einsatzleitung für diesen Fall übertragen. »Erst einmal vorläufig. Bis auf Weiteres. Vermasseln Sie das nicht. Ich versuche noch, Verstärkung und Unterstützung für Sie zu bekommen. Ich verlasse mich auf Sie, Mölter, verstehen Sie?«

Wenn Habermann so weit ging, musste die Not in Magdeburg groß sein. Die Dinge hatten sich offensichtlich gerade überschlagen.

Die Rede war von einem zweiten Einsatz in der Nähe von Dessau im Rahmen einer bundesweiten Aktion gegen die organisierte Kriminalität, der praktisch gleichzeitig stattfand und etliche Kräfte band – inklusive Habermann selbst. Ein weiterer Helikopter war vorläufig auch nicht verfügbar, sodass es viel Zeit kosten würde, bis Verstärkung eintraf. Mindestens noch dreißig Minuten. Das Spezialeinsatzkommando in Magdeburg war nur achtundfünfzig Mann stark. Seit Jahren wurde mit erheblichem Aufwand um Nachwuchs geworben, doch die mörderharten Aufnahmeprüfungen schaffte kaum einer. Drei Viertel der Bewerber fielen durch oder brachen von selbst ab. Also musste Marvin zunächst mit den neun Leuten auskommen, die schon vor Ort waren.

Er würde diesen Einsatz erfolgreich zu Ende führen. Er würde nicht nur Habermann, sondern allen zeigen, dass er einer solchen Aufgabe gewachsen war. Das war seine Chance. Vermutlich hatte längst das Innenministerium beim Chef des LKA geklingelt und dessen Chef bei Habermann. Und der musste jetzt hoffen, dass Marvin die Geiseln da lebend herausholte und die Geschichte möglichst unspektakulär zu ihrem Ende führte.

Wenn er die Sache mit der Sporttasche an Habermann weitermeldete, war ab sofort auch der Staatsschutz mit im Boot. Theoretisch war es möglich, dass sich in der Tasche eine Bombe befand. Es also nicht zu tun, wäre eine grobe Pflichtverletzung. Die Kollegen durften keine Zeit verlieren. Es würde also bald voll werden hier oben auf dem Stellwerk.

Dabei hielt Marvin die Theorie, dass in der Tasche ein Sprengsatz versteckt war, für unwahrscheinlich. Terroristen verhielten sich anders. Sie würden mit der Bombe drohen. Wenn keiner davon wusste, blieb ja nur, dass sie ohne Vorwarnung gezündet werden sollte. Dafür jedoch war ausgerechnet der letzte Wagen der schlechteste Platz im Zug. Außerdem würde man dies an einem Ort tun, an dem ein Sprengsatz die größtmögliche Wirkung entfaltete. Da fiel Marvin nur die Innenstadt von Wernigerode ein und die hatten sie bereits passiert. Und wenn sie möglichst viele Menschen töten wollten, hätten die angeblichen Terroristen keine Geiseln freigelassen.

Marvin blieb dabei. Dies hier war keine normale Geiselnahme, wenn es so etwas überhaupt gab. Er hatte es vorerst auch aufgegeben, weiterhin den Kontakt zu den Entführern zu suchen. Der eine von ihnen hatte ihm das gerade nachdrücklich klargemacht. Keine Störungen mehr. Alle Signale auf Grün. Ansonsten passierte ein Unglück. Es war also sinnlos.

Fichte, der ihm seine waghalsige Aktion eben wohl noch nicht verziehen hatte, und dieser Bärbaum verfolgten mit einer Mischung aus Befremden und Ehrfurcht seine Telefonate und Anweisungen. Sie konnten ihm für den Augenblick keine Hilfe sein. Obendrein schienen sich die beiden gegenseitig nicht besonders zu mögen. Sie sprachen kaum miteinander. Vor allem dieser Bärbaum störte eigentlich nur. Eine merkwürdige Ruhe hatte sich nach dem Rückschlag in Steinerne Renne hier oben im Stellwerk ausgebreitet, wenn Marvin gerade nicht telefonierte. Nur das Hüsteln und Schniefen des verschnupften Fichte war gelegentlich zu hören. Der würde noch alle hier im Raum anstecken.

Im Moment konnte Marvin nicht viel tun. Der Zug fuhr nun durch waldiges, unwegsames Gelände. An den kamen seine Einsatzfahrzeuge jetzt nicht so schnell heran.

Dass immerzu irgendein Telefon klingelte, daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Abermals reichte ihm Fichte den Hörer hin. »Für Sie.«

Nun war die Geschichte auch bis zum Landrat durchgedrungen. Er sei tief besorgt, versicherte er, nachdem er von Marvin zu hören bekommen hatte, was er eh schon wusste, und er hoffe, dass diese Geschichte bald zu einem glücklichen, vor allem aber unblutigen Ende geführt werden könne. Er habe dabei vollstes Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Polizei. Sätze, die zu einem Haufen hohler Wörter zerbröselten.

Dann war König wieder dran. »Schmieder fehlt.«

Schmieder war einer von Königs Männern. Einer von den dreien, die versucht hatten, den Zug noch zu erreichen. Warum war er nicht sofort damit herausgerückt?

»Was heißt das?«

»Wir können ihn nicht erreichen. Kein Funkkontakt. Er hat einen anderen Weg gewählt als wir. Nach einem Drittel der Wegstrecke ist er direkt die steile Böschung hoch. Wir haben ihn dabei aus den Augen verloren …«

Marvin war sich noch nicht schlüssig, was sie tun konnten. »Habt ihr alles abgesucht?«

Diese Frage nahm König persönlich. Ob er glaube, dass ihm das Leben eines Kollegen gleichgültig sei, grummelte er.

Habermann würde explodieren, wenn er von Schmieders Verschwinden erfuhr. Marvin konnte nicht ohne den Mann zurückkommen. Eigenschutz stand grundsätzlich an erster Stelle. Auch wenn die konkrete Einsatzentscheidung vor Ort bei König lag, war Marvin jetzt in der Verantwortung. Er konnte nur hoffen, dass alles gut ausging.

»Wie ist deine Erklärung, Kollege?«, bohrte Marvin. Die Zeit drängte.

»Er ist im Zug.« König machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Schmieder ist einer der Besten. Niemand hat es gesehen, aber es gibt in meinen Augen keine andere Möglichkeit als die, dass er es in der kurzen Zeit geschafft hat, noch aufzuspringen. Wir sind selbst nur eine halbe Minute zu spät gekommen.«

»Obwohl du davon ausgehst, dass er im Zug ist, habt ihr keinen Funkkontakt?«

König bestätigte.

»Aber Schmieder ist doch mit einem BOS-Funkgerät ausgestattet?«

BOS. Der neue Funkstandard für die verschiedenen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. Nicht nur die Polizei arbeitete damit jetzt, sondern alle Blaulichtorganisationen wie das Technische Hilfswerk oder die Feuerwehr konnten so im Notfall zusammengeschaltet werden, um ihre Arbeit optimal zu koordinieren. Die neuen digitalen Funkgeräte waren wirklich gut und hatten kaum noch etwas mit dem störanfälligen alten analogen Polizeifunk zu tun. Bei einer fast hundertprozentigen Netzabdeckung waren auch die paar Berge kein Problem mehr. Wer so ein Ding bei sich hatte, der fand seine Leute und der wurde gefunden. Wenn er das wollte.

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