Wagen 8

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Wer machte sich die Mühe, sein Mordopfer, das wahrscheinlich schon seit längerer Zeit tot war, hier draußen abzulegen, wo es dann innerhalb von Stunden gefunden wurde?

Lore kam auf den Wagen zu, das blau-weiße Absperrband in der Hand, um es in den Kofferraum zurückzulegen.

Holger stieg wieder aus. »Alles in Ordnung?« Er war sich nicht sicher, ob es ihr gutging.

Sie reagierte auf ihn mit einer Gegenfrage. »Hast du die Jacke erkannt?« Lore schien offenbar etwas bemerkt zu haben, das ihm entgangen war. Erneut betraten sie die Brücke. Sie kniete sich hin und leuchtete mit ihrer Taschenlampe zwei Meter nach unten. Das stärker werdende Tageslicht half ebenfalls. Holger konnte alle Einzelheiten gut erkennen. Eine schwarze hüftlange Jacke aus Baumwollstoff oder grobem Leinen, die der Tote offen trug, innen und am Kragen mit Pelzimitat gefüttert, Knöpfe aus Metall, wie man sie an Jeanshosen findet. Am Ärmel eine silberne Plakette aufgenäht.

»Erkennst du sie?«

»Prior«, erwiderte er. Und Lore nickte. Sie hatten die Leiche eines ehemaligen Kollegen gefunden.

Kapitel 4

10.21 Uhr. Niemand der Passanten, die sich in der Nähe der Westerntorkreuzung aufhielten, bemerkte, dass an diesem nasskalten Dienstagmorgen ein gekaperter Zug ohne einen Mann auf dem Führerstand durch die Innenstadt von Wernigerode fuhr. Alles schien wie immer, sah man vielleicht von der Tatsache ab, dass es keine Dampflokomotive war, die diesen Zug schleppte. –

Conrad Fichte wusste es natürlich, denn er war an diesem Tag der diensthabende Fahrdienstleiter und somit zuständig für die sichere und reibungslose Fahrt von 8925. Er wusste aber auch, dass er eigentlich in ein Bett gehörte. Warum war er heute Morgen nur nicht zu Hause geblieben? Jetzt bereute er sein Pflichtbewusstsein zutiefst. Er hatte auf einen ruhigen Dienst spekuliert. Daraus wurde nun definitiv nichts mehr. Das, was da in seinem Körper rumorte, fühlte sich an wie eine ausgewachsene Grippe. Er schwitzte sichtlich. Nicht nur unter den Armen und an den Handflächen. Auch an seinem Rücken klebte das Hemd bereits, obwohl es hier oben auf dem Stellwerk nur mäßig warm war. Auf seinem Schreibtisch vor den drei Monitoren, die alle Zugbewegungen von hier bis zum Bahnhof Eisfelder Talmühle abbildeten, lagen, frisch von der Apotheke besorgt, Nasenspray und Aspirin bereit. Und eine Packung Taschentücher. Doch das alles war jetzt nicht wichtig.

Er musste es irgendwie schaffen, 8925 zu stoppen, den zwei oder mehr bewaffnete Irre anscheinend in ihre Gewalt gebracht hatten. Der Grund dafür blieb vorerst im Dunkeln. Vielleicht hatten sie es mit einem terroristischen Anschlag zu tun. In Zeiten wie diesen war alles möglich. Einen Augenblick hatte Conrad vermutet, dass es sich nur um einen dummen Scherz zweier Saufbrüder handeln könnte, die in ihrem Rausch auf diese Idee gekommen waren und nun dem Urbanek, ihrem Rangierer, einen gehörigen Schrecken einjagten, um sich nachher auf die Schenkel zu klopfen. Wer kaperte schon einen Zug, und das nicht irgendwo in einem abgelegenen Wüstenstaat, sondern mitten in Deutschland? Das kurze Gespräch über Funk mit einem der Gangster, als der Zug losfuhr, hatte ihn eines Besseren belehrt.

Für solch einen Fall gab es keinen Havarieplan. Für solch einen Fall gab es überhaupt nichts. Da hieß es zunächst einmal: Ruhe bewahren.

Seine erste Maßnahme war ein Anruf bei seinem Chef gewesen, der sich zu diesem Zeitpunkt unten in der Werkstatt aufgehalten hatte. Conrad ging gern auf Nummer sicher. Damit war er die Verantwortung für die ganz großen Entscheidungen schon einmal los. Sofort danach das Telefonat mit der Polizei. Conrad hatte tatsächlich drei Mal erklären müssen, was passiert war. Der Mann schien ihm einfach nicht glauben zu wollen.

Nun war das Spezialeinsatzkommando auf dem Weg, doch es rückte aus Magdeburg an. Das konnte dauern. Wenigstens kam der diensthabende Kripobeamte vom Nicolaiplatz herüber. Dreihundert Meter Luftlinie. Er musste jeden Augenblick hier eintreffen. Der hatte bestimmt die bessere Ausbildung, wie man mit solch durchgeknallten Typen in einer Ausnahmesituation wie dieser sprechen musste. Wenn das überhaupt möglich war. Vorerst jedenfalls war jeder Kontakt zu den Gangstern abgebrochen. Sie reagierten nicht auf seine Anrufe. Doch sein Monitor verriet ihm: Der Zug fuhr noch. Und zwar mit Höchstgeschwindigkeit. Inzwischen hatte er den Haltepunkt in der Kirchstraße passiert und bewegte sich in Richtung des Stadtteils Hasserode. Eine gefährliche Ecke, wenn das Triebfahrzeug unbesetzt war und der Urbanek praktisch ohne Sicht fuhr, vom Ende des Zuges aus. Die Gleise verliefen in diesem Streckenabschnitt teilweise direkt auf der engen Straße. Hatte dort irgendein Anwohner oder Tourist sein Auto gedankenlos zu nah am Gleis geparkt, gab es einen Crash in der ungebremsten Version.

Schlimmer noch war aber ein anderes Problem. 8925 entgegen kam 89601 aus Nordhausen. Ein Sonderzug, gechartert von niederländischen Eisenbahnliebhabern, die auf einer Rundreise durch Deutschland waren. Von Wernigerode aus sollte es weiter nach Goslar gehen. Die Zugbegleiterin hatte ihm schon Meldung gemacht. Etwa hundertfünfzig Fahrgäste, alle bei bester Stimmung. Kreuzen sollten sich die Züge planmäßig im Bahnhof Hasserode. Doch 8925 war zu früh losgefahren und würde dort vermutlich nicht warten. Die Anweisung des Kidnappers war eindeutig gewesen. Jetzt konnten sie es nur noch im Bahnhof Steinerne Renne. Und das auch nur theoretisch. Denn 89601 war von der Station im Augenblick noch ungefähr vier Kilometer entfernt. Zu weit, um bei Normalgeschwindigkeit rechtzeitig da zu sein. Der gekaperte Zug würde Steinerne Renne früher erreichen. Was passierte, wenn die Kidnapper ihre Ankündigung wahrmachten und den Bahnhof ohne Halt durchfuhren?

Um die Katastrophe zu vermeiden, müsste 8925 die Geschwindigkeit deutlich drosseln. Die Möglichkeit, dass 89601 nach Drängetal zurücksetzte, schloss er aus. Bei einem Triebwagen wäre dies vielleicht eine Option gewesen, aber nicht mit einer Dampflok an der Spitze. Der Stopp auf abschüssiger Strecke, die steile Bergfahrt, rückwärts, das Umlegen der Einfahrweiche von Hand … Es wäre risikovoll und die Zeit würde nicht reichen.

Ohne weiteres Zögern griff Conrad zum Funkgerät und nahm Kontakt mit dem Lokführer des Sonderzuges auf. Talfahrt mit Höchstgeschwindigkeit. Ebenfalls ein riskantes Unterfangen bei nur wenig Aussicht auf Erfolg. Conrad wusste es. Ein Strohhalm, nichts weiter. Doch er sah keine andere Möglichkeit. Mehr als eine Minute konnte der Zug nicht bis Steinerne Renne herausholen. Das reichte nie und nimmer.

Die Tür ging auf. Sein Chef kam herein. Hinter ihm ein Mann, den Conrad nicht kannte.

»Wie ist die Lage?«

Conrad schnäuzte sich und beschrieb sie in knappen Worten. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde es in ein paar Minuten zum Frontalzusammenstoß zweier Züge irgendwo hinter Steinerne Renne kommen. Und Conrad sah zurzeit keine Möglichkeit, dem gekaperten Zug mitzuteilen, dass er langsamer fahren musste.

Sein Chef hieß Bärbaum und so ungefähr konnte man sich ihn auch vorstellen. Er wog gute hundertzwanzig Kilo und war mindestens eins neunzig groß. »Was ist das für eine verdammte Scheiße«, knurrte er. »Übrigens: Das ist Kriminaloberkommissar Mölter vom LKA in Magdeburg. Er wohnt zufällig im Harz und hat deshalb den Auftrag bekommen, den Einsatz zu leiten. Er wird mit uns zusammen versuchen, unser Problem zu lösen. Dies hier ist damit ab jetzt sozusagen die provisorische Einsatzzentrale der Polizei. Habe ich das richtig verstanden?«

Mölter kam näher und nickte. Die Hand gab er ihm nicht. Bestimmt sah man Conrad an, dass er ins Bett gehörte. »Es ist ein wenig ungewöhnlich, aber in diesem speziellen Fall die beste Lösung. Die Männer mit der Technik werden gleich da sein. Sie brauchen einen größeren freien Tisch.«

Bärbaum nickte und wollte sich darum kümmern. Dieser Mölter war klein und schmächtig, konnte ohne Probleme hinter Bärbaums Rücken verschwinden. Nur sein Hals war ungewöhnlich lang. Conrad nieste heftig, griff nach den Papiertaschentüchern und erklärte ihm kurz, was auf den Monitoren zu sehen war.

»Wie viele Fahrgäste sitzen im gekaperten Zug?«, fragte der Polizist ohne lange Vorrede.

Conrad machte eine ratlose Handbewegung. Sie wussten es nicht genau. Viele konnten es erfahrungsgemäß nicht sein. Simone, die Zugbegleiterin des 8925, die sich durch einen tollkühnen Sprung vom Zug hatte retten können und gerade ihren verstauchten Arm behandeln ließ, hatte von etwa sechs bis acht im letzten Wagen gesprochen. Die anderen, so glaubte sie, waren leer geblieben.

Seine nächste Frage galt der Anzahl der Kidnapper. Auch dazu konnte Conrad keine endgültige Antwort geben. Es waren mindestens zwei, so viel war sicher.

»Sind im Bahnhofsareal Überwachungskameras angebracht, auf deren Bändern man die Täter vielleicht erkennen kann?«

Abermals musste Conrad passen. Davon war ihm zumindest nichts bekannt.

»Gibt es eine Möglichkeit, den Zug zum Entgleisen zu bringen?«, fragte der LKA-Mann weiter. Harte, faktenorientierte Fragen. Er hatte eine Stimme, die überhaupt nicht zu seinem Äußeren passte. Sie klang ganz so, als spräche er in eine leere Tonne.

Bärbaum sah Conrad an. Der schüttelte den Kopf. »Nur, wenn Sie unterwegs das Gleis manipulieren. Schutzgleise gibt es bis Drei Annen Hohne keine mehr. Im Bahnhof Hasserode existiert noch ein Stumpfgleis zur alten Ladestraße, es endet an einem Prellbock. Aber die Weiche dafür müsste von Hand gestellt werden. Nicht zu schaffen. Der Bahnhof ist unbesetzt. Der Zug erreicht ihn in vier Minuten. Doch selbst wenn wir einen Mann vor Ort hätten, davon würde ich sowieso abraten. Der Zug wird, wie Sie ja sicherlich bemerkt haben, von unserem Rangierer vom letzten Wagen aus gesteuert. Die Lok ist unbesetzt. Unser Rangierer würde mit der neuen Situation nicht rechnen und möglicherweise viel zu spät bemerken, dass der Zug in das Stumpfgleis eingefahren ist. Es gibt kein Signal vor Ort, das die neue Weichenstellung anzeigt. Es dürfte mit einer Katastrophe enden.«

 

»Und später?« Der Mann wollte wohl noch nicht wahrhaben, wie ernst die Lage war. Erneut erntete er nur Conrads Kopfschütteln. »Wie gesagt: Bis zum Bahnhof Drei Annen Hohne kommt da nichts mehr.«

»Wann rechnen Sie mit dem möglichen Zusammenstoß?«

»In fünfzehn Minuten etwa.«

»Wie viele Fahrgäste sitzen in dem Gegenzug?«

Einhundertfünfzig. Conrad registrierte sehr wohl, dass die Zahl den Polizisten beeindruckte. »Wenn sich keine andere Möglichkeit ergibt«, verkündete dieser, »müssen wir in spätestens drei Minuten den Gegenzug evakuieren. Notfalls auf freier Strecke. Nehmen Sie schon einmal Kontakt mit dem Lokführer auf. – Können die Fahrgäste über Lautsprecher in den Waggons direkt informiert werden?«

Conrad nickte. Dass der Zug voller Holländer war, fiel ihm erst danach ein. Nun behielt er es für sich. Mölter ging ein paar Schritte beiseite, zückte ebenfalls sein Handy und telefonierte mit dem Leiter des offenbar schon angeforderten Spezialeinsatzkommandos, um ihm die neuen Erkenntnisse durchzugeben. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, informierte er die Eisenbahner im Raum: »Ein Teil der Einsatzgruppe kommt mit dem Helikopter. Acht Mann. Sie gehen in diesem Augenblick auf dem Landeplatz des Klinikums runter. Ein näher gelegener Landeplatz, etwa auf einer Wiese, kommt nicht in Betracht. Das Wetter ist zu schlecht.«

Conrad kommentierte diese Feststellung nicht. Er dachte sich seinen Teil. Der Bursche mit dem Kommandoton glaubte wohl, wenn diese Rauftruppe aus Magdeburg auf der Bildfläche erschien, ließ sich damit jedes Problem lösen. Der entführte Zug würde in ein paar Minuten im Wald verschwunden sein, und was immer diese Irren mit ihren Kanonen auch vorhatten, dort konnten sie sich erst einmal sicher fühlen. Es gab kaum vernünftige Zufahrtswege bis dicht an die Bahnlinie heran, die die Polizisten benutzen konnten. Dafür brauchte man gute Ortskenntnisse. Und selbst wenn sie die haben sollten, die Zeit war einfach viel zu knapp. Diese Sache konnte nicht gut ausgehen.

Conrad nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche. Trinken sollte ja immer helfen, wenn man krank war. Das flaue Gefühl im Magen bekämpfte er damit jedoch nicht. Er sollte auch etwas essen. Dass er nun seine Brotdose hervorkramte, gefiel Bärbaum, diesem Fettsack, überhaupt nicht. Ob er unbedingt jetzt seine Frühstückspause machen müsse. Als Antwort nieste Conrad so heftig, dass man sehen konnte, wo die Tröpfchen überall gelandet waren. Hinter ihm rückte dieser Mölter einen Tisch zurecht. Zwei weitere Männer kamen in den Raum; Techniker der Polizei, mit Kabeln über der Schulter und Koffern aus Metall unter den Armen. Ein hektisches Treiben begann. Conrad drehte sich wieder um zu seinem Monitor. Bekümmert bemerkte er, dass seine Tempos bald aufgebraucht sein würden.

Der Kontakt mit 89601 kam nicht sofort zustande. Das war nicht ungewöhnlich, schließlich lagen ein paar Berge zwischen dem Zug und der Einsatzzentrale hier unten im Hauptbahnhof. Bärbaum stand hinter ihm und nervte mit überflüssigen Fragen. Endlich, nach etlichen Versuchen, klappte es doch noch.

Im Augenblick, als Conrad die Anweisung zum Stopp des Zuges und zur sofortigen Evakuierung aller Fahrgäste geben wollte, änderte sich die Situation vollkommen. Er war gerade dabei, sich ein Aspirin aus dem Blister zu klauben, da sprang er vor Überraschung auf. »8925 ist zum Stehen gekommen!«

Mölter drängelte sich an den Monitor und schob dabei den dicken Bärbaum einfach beiseite. »Wo?«, fragte die Blechstimme.

»Kurz vor Einfahrt in den Bahnhof Hasserode. Etwa hundert Meter. Das ist in der Burgmühlenstraße! Immer noch außerhalb des Bahnhofsareals.«

»Können Sie erkennen, warum?«

Conrad schüttelte den Kopf. »Das Einfahrsignal zeigt Grün«, ergänzte er und würgte mit einem Schluck Wasser die Tablette herunter.

Der LKA-Mann schaltete augenblicklich, griff zum Handy und setzte sein unterbrochenes Gespräch fort. »Alle verfügbaren Männer sofort zum Bahnhof Hasserode!«

Kapitel 5

10.23 Uhr. Der ein oder andere Bewohner Wernigerodes blieb auf seinem Gang zum Bäcker oder zum Arzt neugierig stehen, rätselnd, was denn passiert sein könnte. Denn man erlebte hier nicht alle Tage, dass zwei schwarze Vans mit getönten Scheiben und Martinshorn durch die Straßen der beschaulichen Kleinstadt am Fuße des Harzes jagten, Katzen verschreckten und alte Leute, um in Richtung Drei Annen Hohne davonzueilen. –

Ulrich Medow wusste davon in diesem Augenblick noch nichts. Er hätte jetzt viel für eine Kopfschmerztablette gegeben. Doch von allen Wünschen, die er heute bisher gehabt hatte, schien ihm dieser der unwichtigste zu sein. Der Zug war zum Stehen gekommen.

Ulrich hatte sich ein paar Minuten zuvor auf der engen, rutschigen Plattform niedergelassen, um sein linkes Bein etwas zu schonen. Seit einem Sportunfall vor zwei Monaten puckerte der Meniskus. Manchmal mehr, manchmal weniger. Heute war es nur schwer zu ertragen. So ließ er es gestreckt, so gut es ging, was angesichts der Knappheit des Platzes schon eine Herausforderung war. Doch es tat gut. Ansonsten hockte er da, zusammengekauert wie ein Eichhorn, das rechte Knie zur Brust herangezogen.

Der Rangierer schaute gelegentlich zu ihm herunter, dachte sich seinen Teil. Wahrscheinlich hoffte er, dass Ulrich schlappmachte. Da konnte er lange warten. Die Waffe steckte vorne in seinem Gürtel, seine rechte Hand lag locker auf ihrem Schaft, so wie man das in alten Westernfilmen manchmal sah. Er hatte die Augen halb geschlossen, was jedoch keineswegs bedeutete, dass er den Rangierer aus dem Blick verlieren würde. Im Gegenteil. Der Mann stand unter seiner Beobachtung, jede einzelne Sekunde. Er lehnte gerade am rechten Sicherheitsbügel, hatte den Oberkörper leicht nach außen gebeugt und beobachtete auf diese Weise die Strecke. Viel sah er von seinem Platz aus nicht, das wusste Ulrich. Der ganze Körper des Mannes verriet es. Fuhr der Zug eine Linkskurve, wechselte auch er sofort die Seite, indem er über Ulrichs Bein stieg. Der Mann provozierte ihn nicht, blieb nicht scheinbar unabsichtlich mit dem Fuß daran hängen oder trat einfach darauf. Sie wussten natürlich beide, dass Ulrich auf den Rangierer angewiesen war. Ohne ihn wäre alles verloren. Doch der Mann wusste auch, dass er nur ein Leben hatte und es jederzeit vorbei sein konnte.

Überdies durfte er sich nicht ablenken lassen, zu gefährlich war die Fahrt durch die Straßen der Stadt, fast ohne Sicht. Ulrich hatte sich davon überzeugt. Nur ein schmaler Winkel blieb hier hinten, um Hindernisse vor der Lok rechtzeitig zu erkennen. In kurzen Abständen ertönte nach wie vor ihr Pfeifsignal. Wenigstens regnete es nicht mehr. Mit einer Art Joystick auf seinem Bedienpult steuerte der Mann das Tempo des Zuges.

»Wo sind wir jetzt?«, wollte Ulrich wissen. Von seiner Position aus, auf dem Boden der Plattform sitzend, bot sich nur ein begrenzter Blick auf die Umgebung.

»Wir kreuzen gleich die Friedrichstraße. Dann noch dreihundert Meter bis zum Bahnhof Hasserode.«

Ulrich nickte. Er kannte die Stelle. Ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit machte sich in ihm breit, ganz kurz nur. Bis hierher war die Fahrt eigentlich relativ gut verlaufen. Den Umständen entsprechend, würde wohl ein Notarzt sagen. Etwa alle zwei Minuten kam ein Funkspruch für Ulrich an, und jedes Mal spielten sie dann dasselbe Spiel: Der Rangierer schaute ihn an mit der stummen Frage, ob er annehmen solle, und Ulrich schüttelte immer wieder ebenso stumm den Kopf. Es gab nichts zu bereden, erst recht nichts zu verhandeln.

»Ich möchte Sie was fragen«, sagte der Rangierer unvermittelt. Sein Blick kam nicht bei Ulrich an, der Mann beobachtete weiterhin konzentriert, fast verbissen, die Strecke.

»Was gibt es?«

»Was tun wir, wenn in Steinerne Renne kein Zug steht? Dann ist 89601 nämlich noch auf der Strecke.«

»Wovon reden Sie?«

»Das war vorhin nicht nur so dahergesagt. Ein Sonderzug aus Nordhausen kommt uns entgegen. Der steht nicht im Fahrplan. Sie wissen, die Strecke ist eingleisig.«

Ulrich dachte einen Augenblick nach. »Welche Station liegt davor?«

»Drängetal. Ein Betriebsbahnhof. Etwa in der Mitte zwischen Drei Annen Hohne und Steinerne Renne.«

»Dann wird dieser Sonderzug bereits dort gehalten haben«, entgegnete Ulrich aufgeräumt. »Dein Chef auf dem Stellwerk weiß das doch auch. Er wird ja nicht unnötig Menschenleben riskieren. So dumm ist er nicht. Oder?«

Statt einer Antwort war die Notbremsung gekommen. Die Wucht des plötzlichen Geschwindigkeitsverlusts hatte Ulrich gegen den Wagenkasten geschleudert. Er war gerade dabei gewesen, wieder aufzustehen, da kreischten die Räder des Zuges, übertönten das Motorengeräusch der Lok, von den Bremsklötzen sprühten Funkenregen zur Seite.

Die Notbremsung ließ die Menschen und Gegenstände unsanft dem Gesetz der Trägheit folgen, und Ulrich, der das Gleichgewicht verlor, kippte vornüber, um mit dem linken Arm voran gegen die Stirnwand des Waggons zu knallen. Doch zum Glück war er schon immer schnell in seinen Reaktionen, die rechte Hand fühlte noch den Griff der Pistole, er hatte sie nicht losgelassen, und der Schmerz an der Schulter war halb so schlimm, sein Kopf hatte kaum etwas abbekommen.

Der Zug stand.

Ulrich sprang auf und schrie: »Was machst du?«

Der Rangierer, der als Einziger gewusst hatte, was kommen würde, als er mit der Faust den feuerroten Nottaster auf seinem Steuerungspaneel schlug, hatte die Haltestange in seine Armbeuge gepresst und stand so unversehrt an seinem Platz. »Glauben Sie vielleicht, ich überfahre ein Kind?«

Direkt neben dem Zug, keine drei Meter vom Gleisbett entfernt, rollte ein roter Ball.

Ulrich schaltete abermals sofort und stürzte auf die andere Seite der Plattform. Tatsächlich, da stand ein kleiner wuschelköpfiger Junge in einem Anorak mitten auf der Straße, nicht älter als sechs oder sieben. Regungslos verharrte er mitten auf der Fahrbahn. Der Schreck hatte seine Augen geweitet. Als er Ulrich sah, rannte er zurück auf den Bürgersteig.

Keine Toten. Das würde alles verändern. Ulrich musste dem Rangierer eigentlich dankbar sein, dass er so schnell reagiert hatte. Welche Idioten ließen ihre Kinder bei diesem Wetter draußen spielen?

Die Waggontür öffnete sich einen Spalt und Ricks Kopf erschien. »Was ist passiert?«

Ulrich rieb sich vorsichtig die Schulter. »Nichts. Da war nur ein Kind an den Gleisen. – Ist drinnen alles in Ordnung?«

»Ja. Ein paar Schrammen und einer blutet an der Hand. Halb so wild.«

Da bemerkte Ulrich, wie das junge Pärchen auf der anderen Seite des Waggons die Plattform hinunterkletterte und davonlief.

»Scheiße! Geh wieder rein und pass auf die Leute auf!«

Rick gehorchte sofort. Ulrich ließ die Tür jetzt lieber offen, denn er wollte verfolgen können, was sich drinnen tat. Die anderen Fahrgäste waren noch dabei, die Auswirkungen der Notbremsung auszumerzen, alles schien durcheinandergeraten. Ein karierter Koffer war von der Gepäckablage über den Köpfen der Fahrgäste auf den Boden gestürzt. Er hatte ein paar Schrammen davongetragen, seinen Inhalt jedoch nicht preisgegeben. Sein Besitzer, der ältere Mann im grauen Trenchcoat, kümmerte sich schon darum.

Rick kam zurück und raunte seinem Schwager zu: »Das Pärchen ist abgehauen und die beiden Frauen da wollten es auch versuchen. Hab es gerade noch bemerkt. Sollten wir sie hier nicht freilassen? Wir brauchen sie doch nicht mehr.«

Ulrich dachte nach. Sie standen unmittelbar vor dem Bahnhof Hasserode, er konnte den leeren Bahnsteig erkennen. Dies war eher eine Station für einheimische Ausflügler und die waren bei diesem Wetter nicht unterwegs. Gleich würde der Zug das Stadtgebiet von Wernigerode verlassen und die Hänge des Harzes hinaufklettern. Dort waren sie sicherer.

Er wollte schon zustimmen, doch da überlegte er es sich noch einmal anders. Denn er hörte, leise zwar, aber schnell näher kommend, die Sirenen von Einsatzfahrzeugen.

»Die Bullen! Die stürmen den Wagen, wenn wir allein sind, oder sie knallen uns gleich ab. Weiterfahren!« Ulrich hielt dem Rangierer die Waffe an den Kopf. Hier, direkt neben der Straße, war es für ein Spezialeinsatzkommando der Polizei eine Kleinigkeit, sie zu überwältigen. Dann wäre alles verloren.

 

Ulrich sah seinem Schwager an, dass er mit dieser Entscheidung haderte. Er würde ewig ein Zauderer bleiben. Doch auch diesmal fügte er sich, obgleich beide wussten, dass ihnen die Sache ganz schön aus dem Ruder gelaufen war.

Der Rangierer hatte jedenfalls verstanden und hantierte bereits ohne jede Hektik an seinem Pult. »Dauert einen Moment«, kommentierte er krächzend seine Handgriffe, »durch die Gefahrenbremsung ist die Hauptluftleitung vollständig entleert. Sie muss sich erst wieder füllen. Sonst lösen sich die Bremsen nicht.«

Ulrich trieb ihn an. Die Sirenen waren bedrohlich laut geworden. Er rechnete jeden Moment damit, dass die Polizeiwagen in ihre Straße einbogen. Nun war es mit seiner Ruhe, die bis jetzt so souverän gehalten hatte, ebenfalls vorbei.

Als der erste von ihnen um die Ecke jagte, zog die Lok an. Viel zu langsam, dachte Ulrich, und tatsächlich erreichten die beiden Autos noch die Höhe des letzten Waggons. Polizisten in schwarzen Kampfuniformen sprangen aus den Autos und rannten mit kraftvollen Schritten dem Zug hinterher. Noch waren sie schneller, holten auf. Einen musste Ulrich mit einem derben Schlag auf die Hände abwehren. Aber der Zug nahm Fahrt auf, schüttelte die Verfolger ab. Ulrich ballte die Faust. Das Gleis entfernte sich nun von der Straße, verlief durch den menschenleeren Bahnhof, an einer Wiese vorbei und erreichte bald darauf den Waldrand.

»Die sind Sie noch nicht los«, kommentierte der Rangierer trocken und deutete mit dem Finger nach links. Tatsächlich, die Einsatzwagen hatten den Bahnhof umrundet und waren ihnen wieder auf den Fersen. Ab und zu konnte Ulrich sie zwischen den Bäumen noch sehen. Sie folgten unbeirrt der Straße.

»Wo führt die hin?«

Der Rangierer konzentrierte sich wieder auf die Streckenbeobachtung. Vielleicht hatte er ihn auch einfach nicht gehört.

»Die Straße? Wo geht die hin?«

»Die endet direkt am Bahnhof Steinerne Renne«, antwortete der Mann nun doch, »und da die schneller sind als wir, werden sie uns dort wohl erwarten.«

»Verdammt.« Nun schien alles gegen sie zu laufen. Steinerne Renne noch, dann wären sie die Verfolger los. Ulrich schlug mit dem Griff der Waffe gegen die Wand. »Wir fahren durch, hörst du? Es wird keinesfalls mehr angehalten! Egal, was passiert. Hole alles aus der Maschine raus!« Es würde schon gutgehen. Es musste einfach gutgehen!

Der Rangierer deutete ein Nicken an. Ulrich beobachtete ihn. Dabei suchte er nach einer besseren Lösung für das Problem mit den Fahrgästen. Im Inneren des Waggons wurde es schon wieder unruhig. Es würde schwierig werden, sie ständig zu bewachen. Vielleicht kam einer von denen noch auf die Idee, während der Fahrt abzuspringen. Ulrich wollte nicht, dass es Verletzte gab. »Hast du einen Schlüssel für die Waggons?«

Der Eisenbahner zögerte eine Sekunde zu lange und Ulrich bemerkte es. »Versuche nicht, mich zu belügen! Wenn du die Züge rangierst, dann musst du einen haben!« Er behielt recht. Ein paar Sekunden später hatte Rick die vordere Tür des letzten Wagens verschlossen. Nun konnte niemand mehr auf die Idee kommen zu türmen.

Im nächsten Moment ertönte von irgendwo aus dem Wald ein deutlich wahrnehmbares Pfeifsignal. Einmal, zweimal.

»Jetzt wird’s lustig. Das war der 89601«, erklärte der Mann. Er sagte es nicht sehr laut, eher für sich selbst. Es fehlte wiederum der Triumph in seiner Stimme, doch Ulrich hatte auch so verstanden, was das bedeutete. Der Gegenzug hatte nicht in Drängetal gestoppt. Er war noch auf der Strecke.