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Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

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Georg ging langsam vorwärts und sagte sich doch mit Unbehagen, daß jeder Schritt ihn dem Hause näher brachte, wo der Vater ihn gewiß schon erwartete mit der ständigen Frage, die er heute mit so großem Zagen beantworten würde.

O das traurige Haus, das kahle, große mit den langen Gängen und den schmalen Stiegen, und das Zimmer, in dem man immer saß zu dreien, und wo keines sich vor dem andern retten konnte. Dahin mußte er zurückkehren, heute und morgen und alle Tage und noch fünf Jahre lang. Wie soll man das erleben, und hat man's erlebt, fangen neue Studien an, die schwersten. Wie ein grauer Berg, den er nie werde übersteigen können, bäumte die Zukunft sich vor ihm auf; ein ödes, trostloses, der Verzweiflung verwandtes Gefühl ergriff sein Herz und durchtränkte es mit unsagbarer Bitternis. Plötzlich kam ein nie gekannter Trotz über ihn. Obwohl die Uhr am nächsten Turme halb sieben schlug, obwohl er genau wußte, daß er werde sagen müssen: „Ja, ich habe mich aufgehalten unterwegs,“ setzte er sich auf eine Bank im kleinen Square vor Beginn der Gasse, in der die elterliche Wohnung lag, zog die Nachtigall aus der Tasche und ließ sie schlagen. Sie tröstete, sie milderte jedes herbe Gefühl. Sie ließ ihn einen Übergang finden aus tiefer Niedergeschlagenheit zu lauterem Frohmut.

Er hatte ja nicht nur Betrübnis und Gram in seiner Seele, tief in ihrem Innersten unter lastenden Schatten lohte rot und warm die Flamme junger Lebensfreudigkeit, und ein unausgesprochenes, immer zum Schweigen verdammtes Glücksgefühl wollte sich einmal hinaussingen. Es jubelte in die laue Luft, zum lichten Frühlingshimmel empor, mit der Stimme der Nachtigall.

Georg fand den Vater nicht daheim. Er war dagewesen, hatte sich umgekleidet und zu einer Beamtenversammlung ins Stammgasthaus begeben. Mutter und Sohn sprachen es nicht aus, welch ein Fest das Alleinbleiben für sie war. Um jede Minute, die er auf dem Heimweg vertrödelt hatte, tat es Georg jetzt leid. Die Stube kam ihm auf einmal traut und freundlich vor, die Luft reiner, und die Lampe schien heller zu leuchten als sonst. Unter ihr in einem Glase stand ein kleiner Veilchenstrauß; Frau Walcher hatte ihn gebracht.

Georg beugte sich über ihn und sog seinen zarten Duft ein: „Die gute Frau Walcher;“ er lächelte seine Mutter pfiffig an. „Hat sie den auch vom Land gekriegt, wie neulich wieder das gute ‚Junge‘ vom Hasen?“

Frau Agnes errötete. So war ihr der Schorschi hinter ihre Schliche gekommen? Sie wich seinem auf sie gerichteten Blick aus, sie antwortete nicht, sie sprach nur: „Der Vater hat dir sagen lassen, du sollst lernen.“

„Schon recht,“ erwiderte er übermütig und warf die Schultasche im weiten Bogen auf das Sofa, daß sie dort, emporgeschnellt, einen fröhlichen Hupf machte.

„Aber Georg, du bist ja heut wie ausgewechselt.“

„Ja, ja, Mutter!“ Er stürzte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

Sie wehrte: „Sei gescheit.“

„Nein, gescheit bin ich heute einmal nicht. Ich muß dich lieb haben und küssen, dein liebes Gesicht, deine lieben Hände, jeder Finger bekommt einen Kuß.“

Nun denn! Ach, die Zärtlichkeit des Kindes tat sehr wohl. „Jetzt aber setz dich, es wird ja alles kalt.“

Und sie setzten sich und aßen und ließen sich's schmecken und plauderten und dachten nicht an morgen, und waren so glücklich, wie die armen Leute sind, die ganz in der Gegenwart leben, den Augenblick genießen, den Blick von der Zukunft abgewendet, die ihnen nichts Gutes bringen kann.

Nach dem Abendbrot begab die Mutter sich an die Nähmaschine und wollte noch ein Stündchen fleißig sein. Die alte Nähmaschine, die sich die letzte Zeit hindurch nur schwer in Bewegung setzen ließ und den Dienst auch schon mehrmals versagt hatte, glitt heute dahin wie ein Schlitten auf festgefrorener Bahn. Was war denn da geschehen? Gestern noch hatte die Mutter gedacht, die alte Getreue werde überhaupt nicht mehr brauchbar sein und nicht einmal in der Fabrik hergestellt werden können. Was geschehen war? Der Vater hatte sie auseinander genommen und sie ausgezeichnet repariert.

„Der Vater?“ das gab dem Georg zu denken. „Hat denn der Vater gelernt, Nähmaschinen reparieren?“

„Gewiß nicht. Aber weißt du, der Vater kann vieles, das er nicht gelernt hat, er hat zu allem Talent.“

Hat es nicht gelernt und kann es, weil er Talent hat. Etwas können, das man nicht gelernt hat, heißt also Talent haben. Er versank in Grübeleien.

„Aber Mutter, ich hab doch auch Talent.“

Sie mußte lachen. Es war wirklich, wie wenn ein Zweifel aus seinen Worten spräche: „Nun, ich meine, du hörst es oft genug, um es zu wissen,“ und sie griff zärtlich mit der Hand in seinen zerzausten blonden Schopf.

„Wenn's nur wahr ist, Mutter, wenn's nur recht wahr ist;“ er schluckte mühsam und benetzte die trocken gewordenen Lippen mit der Zunge. Die Traurigkeit, die ihn nach dem Gespräch mit Pepi angewandelt hatte, wollte sich wieder in ihm regen; aber die Anwesenheit der Mutter bannte sie rasch. Sein Herz ging weit auf, nicht das kleinste Geheimnis blieb darin. Von allem, was bisher stumm und schweigend in ihm gelegen, redete er, und während er es tat, wurde ihm manches klar und ausgemacht, was er sich selbst nie eingestanden hatte. Die Mühe, die das Lernen ihm verursachte, und daß es ihm so schwer wurde, sich etwas „auswendig zu merken“. Andre lernten viel leichter auswendig und merkten sich's viel länger.

„Du hast kein sehr gutes Gedächtnis,“ meinte die Mutter und dachte, das kommt oft vor bei sehr Talentvollen. Sie gab dem Sohn auch etwas Ähnliches zu verstehen; er zuckte die Achseln.

„Wer Talent hat, das findest du selbst, kann auch, was er nicht gelernt hat. Ich hab vielleicht gar kein so großes Talent zum Lernen in der Schule. Aber vielleicht zu etwas anderm … Das Singen in der Volksschule hat mich so gefreut. Da hab ich immer einen Einser gehabt … und – weißt du noch, die Flöte! Ach, wenn ich hätte lernen dürfen Flöte spielen, oder gar Violine … Jetzt hab ich halt nichts mehr als nur – soll ich's dir sagen? soll ich? Ja? – Bleib sitzen – ganz ruhig.“

Er stand auf und ging in den dunkelsten Winkel des Alkoven, und leise schwirrten von dort her die Töne der Nachtigall zu der Mutter herüber, und sie staunte und hörte zu und überhörte, daß die Küchentür geöffnet wurde, und nun auch die Zimmertür.

„Halb elf,“ sprach Pfanner, eintretend, „und du bist noch auf, und wo ist der Bub?“

Er war in schlechter Laune.

In der Versammlung war ein Antrag, den Pfanner und einige ältere Beamten eingebracht hatten, abgelehnt worden. Beim gemeinsamen Abendessen hatte sich dann Obernberger eingefunden, einen Flaschenkorb in der mächtigen Rechten, und hatte Bordeaux und Champagner mit so guter, bescheidener Manier serviert, daß selbst der Herr Direktorstellvertreter sich herbeiließ, ein Gläschen anzunehmen. Nur Pfanner lehnte schroff ab. In Gift hätte sich ihm ein vom „Schlosser“ kredenzter Trunk verwandelt. Bis zum Überdruß renommierte der wieder mit seinem Pepi und gab die tollen Streiche des Burschen so stolz und behaglich zum Besten, daß Pfanner zuletzt nicht mehr an sich halten konnte!

„Wenn's der meine so treiben tät, der sollt mich kennen lernen.“

Da waren dann gleich Entschuldigungen Pepis nachgekommen und ein zärtliches Lob des guten Kerls, der er sei, bei all seinem Übermut, und was für ein goldenes Herz er habe und – ein Talent! Die Herren Professoren zweifelten gar nicht daran, daß er in diesem Jahre Primus werden würde.

Primus – der Sohn des Schlossers! Pfanner hatte plötzlich einen gallbittern Geschmack im Munde, und das Essen widerstand ihm. Sein Georg war nur in der ersten Klasse Primus gewesen, in der zweiten zweiter Vorzugsschüler, und nun in der dritten konnte er's allem Anschein nach gar nur zum Vierten, dem letzten Vorzugsschüler, bringen. Er hatte ein „Genügend“ gehabt in Griechisch und ein „Befriedigend“ in Geometrie. Wohin kam er, wenn er es von nun an nicht zu lauter Vorzugsklassen brächte? Wohin überhaupt, wenn er in seinen Leistungen von Jahr zu Jahr zurückblieb? Pfanner sah alles schon verloren, alle Mühe umsonst angewendet, alle Opfer umsonst gebracht. Der Sohn würde am Ende auch nichts andres werden als der Vater, ein armseliger kleiner Beamter. Dieser Sohn, dem alle Hilfsmittel geboten waren, der nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchte. Aber es ging ihm zu gut, der Hafer stach ihn, und er überließ sich seinem Leichtsinn und seiner Faulheit. Von Erbitterung erfüllt, mit dem Vorsatz, die Zügel schärfer anzuziehen, war Pfanner nach Hause gekommen. Da fand er seine Frau müßig im Zimmer sitzend und dem Vogelgesang lauschen, den sein großer Bub, im Alkoven versteckt, nachahmte.

„Schämst dich nicht?“ fuhr er ihn an, als Georg auf seinen Befehl hervortrat. „Hast Ehr im Leib oder keine? Was tragst da in der Hand? Aufmachen die Hand!“

Der Knabe gehorchte. Der Gedanke, eine Entschuldigung vorzubringen, kam ihm gar nicht. Pfanner erfuhr alles, und sein Unwillen, seine Entrüstung kannten keine Grenzen. Dieser Bub! Wirklich ein ungeratener Sohn. Spielt da, der bald Vierzehnjährige, mit einer Lockpfeife, oder was das ist. Spielt bei Tag und Nacht, ja, ja – er besann sich jetzt – hat noch die Eltern zum Narren gehalten. Wenn er abends lernen soll, fallen ihm die Augen zu, spielen kann er bis in die Nacht. „Aber wart nur … Her mit dem Quark!“

Ein fruchtloser Widerstand des Schwächeren, ein rascher Sieg des Stärkeren, ein Armschwung … Das Fenster stand offen – die Nachtigall flog hinaus.

Frau Agnes zuckte zusammen. Georg stand mit weit aufgerissenen Augen:

„Vater, meine einzige Freud!“ schrie er auf, und galt es nun, was es mochte, die härtesten Worte, die grausamsten Schläge, er mußte weinen um seine „einzige Freud“, weinen, schluchzen, sich auf den Boden werfen und sich winden in Trostlosigkeit und Verzweiflung. Daß der Vater tobte und schrie, hörte er nicht, daß der Vater einen Knoten ins Taschentuch flocht, sah er nicht, daß Hieb auf Hieb auf ihn niedersauste, fühlte er nicht. Er wußte und fühlte nur, daß er ein armes Kind war, dem immer das weggenommen wurde, woran sein Herz ihm hing.

 

„Aufstehen! Still! Augenblicklich still!“ wetterte Pfanner und hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Kinde, das sich endlich vom Boden erhob und heftige Anstrengungen machte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Vielmehr forderte sein Zorn noch ein Haupt, sich darüber zu ergießen. Wer trug Schuld an dem frevelhaften Leichtsinn des Buben, wer unterstützte ihn noch darin? Die Mutter, die verbrecherisch schwache, törichte Mutter! Wenn aus dem Buben nichts wird, wenn er heranwächst zu einer Last und sogar Schande der Eltern – Müßiggang ist aller Laster Anfang –, wenn er elend untergeht, fällt die Verantwortung dafür auf ihr Gewissen, und sie wird einst zur Rechenschaft gezogen werden.

Pfanner verstand es, seine Umgebung stumm zu machen. Es kam kein Laut über die Lippen seiner Frau. Bis zu einem gewissen Grade hatte sie sich im Laufe ihrer Ehe an sein maßloses Übertreiben gewöhnt, und jetzt freute sie sich gar, daß seine Vorwürfe sie trafen. So diente sie ihrem Jungen eine Zeitlang wenigstens als Schild.

Der Mann schrie und tobte, und dabei zog er den Rock und die Weste aus und legte sie sorgfältig auf einen Sessel. Sogar in der Wut gegen seine nächsten Menschen verfuhr er schonend mit seinen Sachen. Nun entstand eine Pause, aber nur als Vorbereitung zu einem neuen Schrecknis, zu der Frage:

„Sind die Aufgaben gemacht?“

„Ich werd sie morgen machen,“ erwiderte Georg bang und zögernd. „Morgen ist Sonntag …“

„Ja so. Bring die Aufgaben!“ Pfanner sah sie durch. „Eine Fabel aus Deutsch in Latein übersetzen. Griechische Grammatik zu lernen: Unregelmäßigkeit der Deklination. Geometrie: Drei Aufgaben. Geschichte: Wiederholung, von den Kreuzzügen bis zu Rudolf von Habsburg. Und von alledem nichts gemacht? nichts? Das alles soll morgen bewältigt werden?“ Er dekretierte: „Geschichte heute noch wiederholen, aufmerksam durchlesen. Wenn man am Abend etwas aufmerksam durchliest, weiß man es am nächsten Morgen wörtlich.“

„Es sind sechsundzwanzig Seiten,“ wagte Georg einzuwenden.

„Zweiundzwanzig, vier Seiten nehmen die Illustrationen ein.“ Er legte das Buch vor ihn hin: „Setz dich, lern!“

Der Knabe tat, wie ihm geheißen worden. Gut also, gut, so setzt er sich denn hin und lernt. Daß er müd und schläfrig ist, was liegt daran, ihm ist alles recht, er lernt. Wenn er sich nur zu Tode lernen könnte, das wäre ihm das allerliebste. Wenn er tot wäre, hätte er Ruhe, und seine Mutter hätte Ruhe, brauchte sich seinetwegen nicht beschimpfen lassen. So begann er denn zu lesen: „Schon in den ersten Jahrhunderten trieben Andacht und Glaubensinnigkeit die Christen zu den heiligen Stätten …“

An schönen Sonntagnachmittagen unternahm Pfanner regelmäßig einen Spaziergang, und Georg durfte ihn begleiten. Ein Vergnügen, auf das die Mutter längst freiwillig verzichtet hatte, und von dem das Kind trauriger heimkehrte, als es ausgewandert war. Mit dem Vater spazieren gehen, bedeutete, an jeder Unterhaltung, jedem Genuß vorübergehen. Dort drüben, im luftigen Prater, wurde nach der Scheibe geschossen, im Luftschiff, im mechanischen Ringelspiel gefahren, da gab's Theateraufführungen, Wachsfigurenkabinetts, eine Damenkapelle, Zigeunermusik. Und ein Aquarium und ein Panorama und so vieles Schöne noch, von dem Georgs Mitschüler zu erzählen wußten. Wenn er eine Anspielung wagte, eine Frage stellte: „Warst du schon einmal im Wurstelprater? Hast du schon einmal die Zigeuner spielen gehört?“ antwortete der Vater voll Verachtung: Was man im Wurstelprater zu sehen und zu hören bekäme, sei lauter elendes Zeug, an dem nur ungebildete und rohe Menschen sich zu ergötzen vermöchten. Im Bogen wich er allem aus, was seine eigene Neugier hätte reizen können oder gar ihn selbst in Versuchung bringen, sich einen guten Tag zu machen. Einmal in einem Jahr, nein – einmal in vielen Jahren. Er wollte nicht! wollte nicht ein paar Gulden unnötig ausgeben, die ins Sparkassenbuch des Kindes gelegt werden könnten.

Als sie nach Hause kamen, erwartete sie ein gutes, kräftiges Abendessen.

„Weil heute Sonntag ist,“ entschuldigte sich Agnes, da Pfanner ihr neuerdings Verschwendung vorwarf.

Es war ein Verdacht in ihm rege geworden, den er nicht aussprach, der ihn aber quälte, und der entweder getilgt oder gerechtfertigt werden mußte. Kürzlich hatte er sich um Lebensmittelpreise erkundigt, hatte gerechnet und herausgebracht, daß die Ausgaben, die sich seine Frau fortgesetzt erlaubte, unmöglich mit dem ihr zur Verfügung gestellten Küchengelde bestritten werden konnten. Erarbeitet wollte sie den Überschuß haben? Lächerlich! Er, der Sohn einer armen Näherin, wußte, was seine Mutter verdient hatte mit täglich zwölfstündiger emsiger Arbeit. Ihm ins Gesicht sollte seine Frau, die ihren Haushalt ohne jegliche Unterstützung bestellte, nicht behaupten, daß sie imstande sei, sich eine regelmäßige Einnahme zu verschaffen. Womit also bestritt sie die Mehrauslagen? Pfanner begnügte sich nicht lange mit den ausweichenden Antworten, die sie ihm gab. Eines Tages stellte er ein scharfes Verhör an, und sie, in die Enge getrieben, angeekelt von der erniedrigenden Pein, immer neue Ausflüchte ersinnen zu sollen – gestand.

Ja denn, ja, sie verkaufte, sie versetzte, sie gab ihr Letztes her, damit das Kind, das in fortwährender geistiger Anspannung lebte, ordentlich ernährt werde in den Jahren der Entwicklung und des stärksten Wachsens.

Pfanner zürnte, höhnte: Was hatte denn er gehabt in diesen selben Jahren? Wer hatte denn gefragt, wie er sich nährte? Georg wuchs auf wie ein Hofratssohn im Vergleich zu ihm. Er, zu vierzehn Jahren, hatte sich sein Brot selbst verdienen müssen, sein Brot im Sinne des Wortes! und nicht etwa ein frisch gebackenes. Die Entbehrungen hatten ihm sehr gut angeschlagen, er war immer gesund geblieben. Warum sollte sein Bub anders geartet sein als er und wie ein Weichling behandelt werden, den man aufpäppeln muß?

Agnes beharrte zum ersten Male während ihrer langen Ehe im Widerstand gegen den Mann. Der Augenblick, den sie so sehr gefürchtet hatte, war gekommen und fand sie stärker, als sie geglaubt hatte sein zu können. Ruhig ließ sie die Anklagen Pfanners über sich ergehen, und indes er ihr vorwarf, ihn hintergangen zu haben, grübelte sie nach über eine Möglichkeit, ihn noch weiter zu hintergehen. Es mußte sein, um des Kindes willen.

So widerstandsfähig, wie sein Vater gewesen, war eben der blasse, hochaufgeschossene Junge nicht, der jetzt mit einem: „Guten Abend, Vater und Mutter!“ eintrat und schweratmend an der Tür stehen blieb, als ob die gewitterschwüle Atmosphäre, die im Zimmer herrschte, ihm auf die Brust gefallen wäre.

Einige Tage später feierte Georg seinen vierzehnten Geburtstag. Er hatte zwei Vorzugsnoten aus der Schule mitgebracht. Mit feierlichem Ernst und mit der Mahnung, das kostbare Geschenk zu schonen, übergab ihm sein Vater einen neuen Sommeranzug, eine hübsche Mütze und ein Paar solide Halbschuhe. Am Nachmittag blieb Pfanner länger als gewöhnlich am Tische sitzen und sprach, nachdem Frau Agnes das Zimmer verlassen hatte, eingehender und zutraulicher mit Georg, als sonst seine Art war.

Er wußte wohl, die Mutter nannte ihn grausam, und fand, daß er zu viel verlange von seinem Sohne. Wenn es nach ihr ginge, würde der jetzt freilich gute Tage haben, die Schule Schule sein lassen und nur tun, was ihm gefiele. Aber dann? Wie würde die Zukunft aussehen nach einer vertrödelten Jugend? Und ist die Zukunft nicht die Hauptsache? Ausgerüstet mit der Macht des Wissens soll Georg der seinen entgegengehen. Ohne Mühe freilich ist Wissen nicht zu erringen. Will er der Feigling sein, der vor der Mühe flieht, oder der Held, der sie aufsucht, mit ihr ringt, sie überwindet? Es gibt keinen Sieg außer diesem ersten. Ohne ihn ist kein hohes Ziel zu erreichen.

„Das deine soll ein hohes sein!“ rief Pfanner aus. „Du bist nun kein Kind mehr, und ich kann dir sagen, das Ziel, das du dir stecken sollst, ist, ein Staatsmann zu werden. Einer, der mit überlegenem Geiste und mit starker Hand die Teufel der Zwietracht, die unsre Heimat zerreißen, bezwingt, das große Wort: ‚Gleiches Recht für alle‘ von den Lippen in die Herzen verpflanzt und es zur Tat, und uns einig, groß und glücklich macht. Denk dir, ein Mann sein, der das vermöchte! Er würde der Retter, der Erlöser, der Abgott seines Volkes.“

Georg hörte ihm voll Bewunderung zu. Daß sein Vater mit ihm redete wie mit einem Ebenbürtigen, machte ihn unendlich stolz. Der Glaube an sich selbst, der ins Schwanken gekommen war, erwachte wieder. „Ein ordentlicher Mensch sein, ist viel, und der mittelmäßig Begabte mag sich damit begnügen,“ hatte der Vater unter anderm gesagt, „ein außerordentlich Begabter ist sich selbst und den andern schuldig, ein großer Mensch zu werden. Bei ihm kommt es nur auf den Willen an, auf den unerschütterlichen Entschluß …“

Er konnte nicht einschlafen an diesem Abend. Die Zukunftsbilder, die sein Vater entworfen hatte, standen zu lebhaft vor ihm. Von der Tätigkeit eines Staatsmannes machte er sich allerdings keinen rechten Begriff, sah sich vorerst auf der Rednerbühne, einer Versammlung gegenüber, die ihn mit höhnenden Zurufen empfing; Feindseligkeit blickte aus aller Augen, in jedem Gesicht stand ein: Nein! geschrieben. Und er begann zu sprechen, und allmählich verstummten die Zurufe, und von den Gesichtern verschwand der mißgünstige Ausdruck, Teilnahme und Zustimmung wurden rege und begannen sich zu äußern, vereinzelt erst, dann immer häufiger, endlich völlig einstimmig. Er hatte seine Zuhörer hingerissen durch die Gewalt seines Wortes. Und alle, vom Ersten bis zum Letzten, sahen den Führer in ihm und folgten ihm willig und entzückt; denn sie wußten, was er wollte, war das Gute, das Weise, und der Weg, den er sie führte, war der Weg zu ihrem Heile.

Auf seinen nächsten Gängen zur Schule blieb er nicht mehr bei Salomon stehen. Er dankte für die freundlichen Winke und Verbeugungen des Hausierers nur mit einem kurzen Grußwort. Einmal hielt er sich aber doch bei ihm auf. Salomon hatte ihn gar zu inständig flehend angesehen und fragte gar zu trübselig:

„Habe ich Ihnen was getan, junger Herr, sind Sie böse auf mich?“

„Was dir einfällt,“ erwiderte Georg, „was werd ich denn bös auf dich sein.“

Es kam Salomon halt so vor. Vielleicht hatte die Nachtigall sich doch nicht bewährt, hineinschauen kann man ja nicht, und vielleicht wünschte der junge Herr eine andre. Salomon war bereit, ihm eine andre zu geben um den halben Preis.

„Eine andre um den halben Preis,“ erwiderte Georg. Gewaltig trat die Versuchung an ihn, den lockenden Antrag anzunehmen. Aber er bestand, er siegte in seinem kurzen Seelenkampf.

„Nein, nein, ich brauch keine Nachtigall mehr, ich will keine!“ rief er. „Ich bin jetzt vierzehn Jahre alt, und es gehört sich für mich nicht mehr zu spielen. Ich muß lernen, ich muß trachten, Vorzugsschüler zu bleiben, ich darf keinen andern Gedanken haben als lernen.“

Diesen Vorsatz führte er aus.

Es kamen Tage, an denen sein Fleiß an Raserei grenzte. Sie verflossen und ließen eine schauderhafte Erschöpfung zurück. Niemandem, nicht einmal seiner Mutter, vertraute er, was um diese Zeit in ihm vorging. „Ich werd noch närrisch,“ dachte er. „In meinem Kopf ist kein Blut und kein Hirn; in meinem Kopf ist es weiß und leer. Das Lernen hat alles aufgefressen und muß jetzt auch aufhören, weil es nichts mehr zu fressen findet.“ Das ist ganz natürlich und ganz albern und ein peinigender Zustand, aus dem sich aufzuraffen unmöglich ist …

Wie im Halbschlaf saß er bei seinen Büchern, und eben in dieser Zeit ließ Pepi sich herab, einer Anwandlung des Fleißes nachzugeben, und kam ihm nach, kam ihm vor in großen Sprüngen. Aus jedem Gegenstand, in dem er aufgerufen wurde, erhielt er eine Vorzugsklasse.

Und wieder fragte ihn Georg: „Wie machst du's, daß du immer weißt? Sag mir's, wie du's machst?“

Pepi steckte die Hände in die Taschen und warf die Beine, als ob er sie von sich schleudern wollte:

„Zu langweilig!.. Dumme Fragerei!“ … In abgebrochenen Sätzen nur geruhte er zu antworten. Sein Alter gab klein bei, weil er ihm gedroht hatte, sich zu erschießen. So tat er ihm denn auch etwas zulieb und legte seinem Genie keinen Kappzaum mehr an: „Und jetzt mach ich ihm halt die Freud und werd Primus.“

„Ja, ja, wenn's geht!“

„Wenn's geht?“

„Gar gewiß ist's doch nicht. Es ist noch der Rott da und der Bingler.“

„Ich werd Primus,“ wiederholte Pepi voll Aufgeblasenheit. „Alles geht und wird, wie ich's haben will – grad so!“

„Wie du's haben willst?“

„Grad so. Das kannst du nicht begreifen. Du freilich nicht, du armer Büffler. Weil du nur ein Büffler bist, kannst du's nicht begreifen. Du möchtest nur; ich kann, was ich mag.“

 

Georg warf sich in die Brust: „Und ich auch,“ wollte er antworten; doch brach ihm die Stimme …

Ihm war, als ob der Boden sich aufrisse und zwischen ihm und dem gottbegnadeten Kameraden ein unüberbrückbarer Abgrund gähne. Drüben, mitten in fruchtbaren Gefilden, in denen alles grünte und blühte, stand Pepi, und wohin sein Fuß trat, entsprang ein Quell, und was seine Hand berührte, wurde zur herrlichen Frucht. Und er hüben, auf kargem, steinigem Boden, der widerstrebend nur und ungern sich den schattigen Zweig, den nährenden Halm entringen ließ.

Warum die schreiende Ungerechtigkeit, warum dem andern alles und ihm so bettelhaft wenig?

Pepi beobachtete seinen stillen Kampf und verzog höhnisch den Mund. „Büffler!“ sprach er. „Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder.“

Da ergriff wilder Zorn den sanftmütigen Georg. Er sprang auf Pepi zu und packte ihn an der Gurgel.

Der unerwartet Angefallene brüllte und wehrte sich mit Händen und Füßen, und bald waren die beiden umringt von einer johlenden Schar, die sich an dem Zweikampf beteiligte, fast durchweg zugunsten Georgs. Den vielbeneideten, vielgehaßten Pepi einmal gänzlich überwunden abziehen zu sehen, gewährte jedem einzelnen einen köstlichen Genuß. Jämmerlich zugerichtet, in zerfetzten Kleidern, verließ er den Plan. Das begab sich unweit der Schule, und an der Straßenecke war Salomon gestanden und hatte der Schlacht mit gespannter Teilnahme zugesehen. Er begleitete Georg mit Glückwünschen und Heilrufen; der aber winkte traurig ab. Er hatte etwas getan, was seinem ganzen Wesen widersprach, schämte sich seines Erfolges und betrachtete mit Entsetzen seinen neuen Rock, an dem die Spuren der Schlägerei zu sehen waren. Nun begann er zu rennen, um früher als der Vater heimzukommen. In Schweiß gebadet betrat er die Küche, legte das Ohr an das Schloß der Zimmertür und horchte. Alles still, nur die Nähmaschine schnurrte, die Mutter war allein. O, Gott sei Lob und Dank! Hastig trat er ein und sprudelte die Geschichte seines jüngsten Erlebnisses heraus:

„Und jetzt flick mir den Rock, Mutter, flick mir den Rock!“

Das Abendessen wurde schweigend eingenommen. Eine dumpfe Verstimmung herrschte im Hause. Pfanner schmollte noch immer mit seiner Frau. Er hatte die Scheine über alle von ihr versetzten Gegenstände an sich genommen, um sie nach und nach einzulösen. Gott weiß, unter welchen Bitternissen. Jeder Gulden, den er ins Versatzamt trug, war ein Raub am Sparkassenbuch seines Sohnes; an diesem künftigen Vermögen, aus dem die Kosten der Rigorosen und des Freiwilligenjahres bestritten werden sollten. Es gab Augenblicke, in denen er sie haßte, die Schuld an dem Raube trug. Ihn gutzumachen, lag nicht in ihrer Macht, in der seinen aber lag, sie büßen und leiden zu machen. Tag für Tag wiederholte sich dieselbe Tortur. Tag für Tag verlangte er die Hausrechnung zu sehen, ging jeden einzelnen Posten durch, bemängelte jeden. Mit raffinierter Kunst erniedrigte er die Mutter in Gegenwart des Kindes durch sein zur Schau getragenes Mißtrauen.

„Wer einmal betrogen hat, gleichviel in welcher Absicht, betrügt wieder! man muß sich vor ihm in acht nehmen.“

Gepeinigt sah Georg zu ihr hinüber und warf ihr hinter dem Rücken des Vaters Küsse zu. Um seinetwillen wurde sie beschämt, er war der unschuldige Urheber ihrer Qual. Und sie, alles erratend, was in ihm vorging, bezwang sich, bemühte sich, gelassen und standhaft zu bleiben bei den Kränkungen, die sie erfuhr. Der Mann hielt für Unempfindlichkeit, was höchster Heldenmut war, und verschärfte die Lauge in den Ausdrücken seiner Geringschätzung. Wie immer war es auch heute gegangen und Agnes kaum noch imstande, ihre Selbstbeherrschung zu bewahren, als ein heftiger Riß an der Glocke sie erschreckte. Sie schrie auf; auch Georg erschrak. Es war etwas so völlig Ungewohntes, daß um diese Zeit jemand Einlaß bei ihnen begehrte.

„Nervös, wie die elektrisierten Frösch,“ brummte Pfanner. „Habt ihr in eurem Leben noch nicht läuten gehört? Sieh nach, wer's ist,“ befahl er der Frau.

Sie zündete rasch eine Kerze an und eilte in die Küche. Schon wurde ein zweites Mal geschellt, noch ungeduldiger, noch heftiger als früher. Als Agnes öffnete, stand ein großer, breitschultriger, fein gekleideter Mann da und fragte:

„Ist Herr Offizial Pfanner zu Hause?“

Wer konnte das sein? Vielleicht ein Vorgesetzter, der Herr Inspektor oder gar der Herr Oberinspektor?

„Ja, er ist zu Hause,“ sagte sie, „belieben einzutreten.“

Ohne Gruß ging er an ihr vorbei; er hielt sie offenbar für die Magd, und ihr war der Irrtum recht. Sie hätte in ihrem grauen, ausgewaschenen Percailkleide, in ihren geflickten Schuhen einem Vorgesetzten gegenüber nicht für die Frau eines k. k. Beamten gelten mögen. Höflich stieß sie die Zimmertür vor dem Fremden auf, trat in die Küche zurück und hörte nur noch ihren Mann in durchaus nicht respektvollem Tone sagen:

„Herr Obernberger? Was verschafft mir das Vergnügen?“

Obernberger schloß die Tür hinter sich, die Magd sollte das Gespräch zwischen ihm und Pfanner nicht mit anhören.

„Vergnügen werden Sie von meinem Besuch nicht haben,“ erwiderte er in erregtem Tone, „ich komme, um mich zu beklagen.“

Hoho! Das konnte unangenehm werden. Pfanner hatte ein böses Gewissen. War eine der wegwerfenden Reden, die er über Obernberger zu führen pflegte, dem „Schlosser“ hinterbracht worden? Vielleicht auch einem der Vorgesetzten, bei denen der Meister in hohem Ansehen stand? Verfluchte Geschichte! Pfanner verbarg seine Bestürzung hinter einem besonders borstigen Wesen: „Nur heraus mit der Sprache, genieren Sie sich nicht. Ich kann was vertragen,“ sagte er.

Georg war aufgesprungen und hatte einen Sessel herbeigeholt. Obernberger nahm Platz. Er betrachtete den Knaben, der mit gesenkten Augen und krampfhaft verschlungenen Fingern vor ihm stehen blieb, streng und prüfend:

„Herr Obernberger! Herr Obernberger!“ sprach Georg leise und flehentlich.

O, wenn er früher an Herrn Obernberger gedacht hätte, er würde seinen Sohn nicht geprügelt haben. Herr Obernberger war immer so gütig mit ihm, wenn er ihn traf, und neulich, als er im Wagen gekommen war, den Pepi aus der Schule abzuholen, hatte er Georg eingeladen, mitzufahren. Eine Seligkeit wäre es gewesen, der Einladung zu folgen, aber er wagte es nicht. Der Vater hätte gewiß gesagt: „Hast vergessen, daß du keine Gnaden annehmen sollst?“

Je länger Obernberger seine Augen auf Georg ruhen ließ, je milder wurde ihr Ausdruck, und jetzt redete er ihn an: „Wissen Sie, daß ich schon auf dem Wege zum Herrn Direktor war, um mich über Sie zu beklagen? Ich mag Ihnen aber doch Ihre gute Note in Sitten nicht verderben und will mich mit einer häuslichen Züchtigung begnügen, die Ihnen Ihr Vater sicher erteilen wird, wenn er hört, was vorgefallen ist. Herr Offizial,“ wendete er sich an Pfanner, „Georg hat heute nach der Schule meinen Sohn angefallen und ihn gewürgt, und andre haben sich hineingemischt, und mein Pepi ist mir nach Hause gekommen, ganz zerrissen, und das rechte Auge so blau und geschwollen, daß er ein paar Tage hindurch weder lesen noch schreiben kann. Und das ist geschehen ohne den geringsten Grund.“

„Ohne den geringsten Grund?“ wiederholte Pfanner, hob sich halb von seinem Sitz, und es war, als ob er auf den Sohn losspringen wollte.

„Nicht ohne Grund,“ hauchte Georg mehr als er sprach. „Er hat mir gesagt, daß ich ein Büffler bin. Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder, hat er gesagt.“