Kostenlos

Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Vorzugsschüler

Mutter und Sohn saßen einander gegenüber am Tische, der als Arbeits- und Speisetisch diente, und dessen eine Hälfte schon für die Abendmahlzeit gedeckt war. Eine Petroleumlampe mit grünem Schirm beleuchtete hell die Schulbücher, die der Knabe vor sich aufgeschichtet hatte, und die ungemein geschont aussahen nach einer mehr als halbjährigen Benutzung. Es war Ende März, und in wenigen Monaten mußte Georg Pfanner aus der dritten Klasse, wie aus jeder früheren Vorbereitungs- und Gymnasialklasse, als Vorzugsschüler hervorgegangen sein. Mußte! Wohl und Weh des Hauses hing davon ab, der – wenigstens relative – Frieden seiner Mutter, der Schlaf ihrer Nächte … Wenn dem Vater schien, daß „sein Bub“ im Fleiß nachlasse, wurde sie zur Verantwortung gezogen. Das wirkte viel stärker auf den Jungen, als die strengste Ermahnung und Strafe getan hätte. Für seine Mutter empfand er eine anbetende Liebe und war das ein und alles der freudlosen, vor der Zeit gealterten Frau. Die beiden gehörten zueinander, verstanden einander wortlos, sie hatten, ohne es sich selbst zu gestehen, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen einen Dritten geschlossen, dem sie im stillen immer Unrecht gaben, auch wenn er recht hatte, weil sie sich im Grund ihrer Seele in steter Empörung gegen ihn befanden. Frau Agnes würde erstaunt und wahrscheinlich entrüstet gewesen sein, wenn man ihr gesagt hätte, daß ihre Empfindung für ihren Mann längst nichts mehr war als eine Mischung von Furcht und von Mitleid. Georg würde eher die ganze Schule zum Kampf herausgefordert, als geduldet haben, daß ein unehrerbietiges Wort über seinen Vater gesprochen werde. Aber weder der Mutter noch dem Sohne wurde es wohl in seiner Nähe. Seine Anwesenheit bedrückte, löschte jede heitere Regung im ersten Aufflackern aus. Und doch war der einzige Lebenszweck dieses Mannes die Sorge um das Wohl seines Kindes in Gegenwart und Zukunft.

Frau Agnes ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken und blickte nach der Schwarzwälderuhr, die an der Wand neben dem Kleiderschrank ihr blechernes Pendel schwang. So spät schon, und der Mann kam noch immer nicht aus dem Bureau. Sie lasteten ihm dort so unbarmherzig viel Arbeit auf, und er besorgte sie widerspruchslos und nahm noch Arbeit mit nach Hause, um die Vorgesetzten nur gewiß zufrieden zu stellen und beim nächsten Avancement berücksichtigt zu werden.

Ja, der Mann plagte sich, und es war sehr begreiflich, daß er übermüdet und mürrisch heimkehrte. Und der Junge, der liebe, geliebte Junge, plagte sich auch. Heute ganz besonders. Dunkelrot brannten seine Wangen, und sogar die Kopfhaut war gerötet, und die Stirn zog sich kraus. In Hemdärmeln saß er da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, preßte das Kinn auf seine geballten Hände und starrte ratlos zu seinem Hefte nieder. Dreimal schon hatte er die Rechenaufgabe gemacht und jedesmal ein andres Resultat erhalten, und keines, das sah er wohl, konnte das richtige sein.

Die Mutter wagte nicht, ihn anzusprechen, um ihn nicht zu stören, warf nur verstohlen von Zeit zu Zeit einen bekümmerten Blick auf ihn und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit und flickte emsig am schadhaften Futter der Jacke, die er ausgezogen hatte.

Nun wurde nebenan ein Geräusch vernehmbar. Im Schloß der Küchentür drehte sich der Schlüssel.

„Der Vater kommt,“ sprach Frau Agnes. „Bist fertig, Schorschi?“

„Mit der Rechnung noch lang nicht.“ Sein Mund verzog sich, und unter seinen blonden Wimpern quollen plötzlich Tränen hervor.

„Um Gottes willen, Schorschi, nicht weinen, du weißt ja – der Vater …“

Da trat er ein, und sie stand auf und ging ihm entgegen, und er erwiderte ihr schüchternes Willkomm mit einem ungewohnt freundlichen:

„Na, grüß euch Gott.“

Offizial Pfanner war um ein weniges kleiner als seine Frau und ungemein dürr. Die Kleider schlotterten ihm am Leibe. Seine dichten, eisengrauen Haare standen auf dem Scheitel bürstenartig in die Höhe, seine noch schwarz gebliebenen Brauen bildeten zwei breite, fast gerade Striche über den dunkeln, sehr klugen Augen. Den Mund beschattete ein mächtiger, ebenfalls noch schwarzer Schnurrbart, den Pfanner sorgfältig pflegte, und der dem Beamten der Kaiserlich Königlich Österreichischen Staatsbahn etwas Militärisches gab.

Pfanner hatte einen großen Pack Schriften mitgebracht und war doch nicht unwirsch. Er ließ sich von seiner Frau den Überrock ausziehen und sagte sanft und ruhig: „Bring das Essen und lösch die Lampe in der Küche aus. Die brennt, ich weiß nicht zu was. – Lern weiter!“ befahl er dem Sohn, der sich nach ihm gewendet hatte und ihn scheu und ängstlich ansah.

„Es ist so schwer,“ murmelte Georg.

Der Vater stand jetzt hinter seinem Stuhle: „Schwer, fauler Bub? Deine Faulheit überwinden, das wird dir schwer, sonst nichts. Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer. Faul bist.“

„Ich hab alles fertig,“ sprach Georg mit einem trockenen Schluchzen und drängte die Tränen zurück, die ihm wieder in die Augen treten wollten, „nur die Rechnung nicht …“ da kippte seine Stimme um, der Satz endete mit einem schrillen Jammerton, und zugleich beugte der Kopf des Jungen sich tiefer. Seinem Bekenntnis mußte die Strafe folgen, er erwartete die unausbleibliche mit dumpfer Resignation, den wohlbekannten Schlag der kleinen, harten Hand, die wie ein Hammer niederfiel und das Ohr und die Wange Georgs auf Tage hinaus grün und blau marmorierte.

Aber heute zürnte der Vater nicht. Nach einer kleinen Weile streckte sich sein Arm über die Schulter des Knaben, der Zeigefinger bezeichnete eine Stelle in der Rechnung, deren sorgfältig geschriebene Zahlen eine Seite des Heftes bedeckten.

„Da sitzt der Fehler. Siehst du?“

War's möglich, daß Georg ihn noch immer nicht sah? daß er sich keinen Rat wußte, auch dann nicht, als der Vater zu erklären begann. Er tat das auf eine so völlig andre Art als der Lehrer. Dem Kind wollte und wollte das richtige Verständnis nicht aufgehen, trotz aller Anstrengung und Mühe. Dazu die Furcht: Jetzt reißt dem Vater die Geduld, jetzt kommt der Schlag. Zuletzt dachte er nur noch an den und wünschte, die Züchtigung wäre vollzogen, damit er sich nicht mehr vor ihr ängstigen brauche.

„Gib acht, du gibst nicht acht!“ rief Pfanner und begab sich auf seinen Platz am oberen Ende des Tisches, wo für ihn gedeckt war. Die Mutter hatte das Abendessen aufgetragen. Kartoffeln in der Schale, ein schönes Stück Butter, ein Laib Brot, eine Schüssel mit kaltem Fleische. Die stellte sie zagend vor ihren Mann hin, und seine Mißbilligung blieb nicht aus.

„Fleisch am Abend – was heißt das? Keine neue Einführung, bitt ich mir aus.“

Sie entschuldigte sich. Sie log. Die Nachbarin hätte so schönes Fleisch vom Land bekommen und ihr dieses schon eingekaufte um ein Billiges abgetreten: „Es ist auch noch für morgen da,“ setzte sie hinzu, um einer wiederholten Rüge vorzubeugen, die viel schärfer ausgefallen wäre. Sie hätte aber auch die schärfste über sich ergehen lassen. Es galt einen Kampf, in dem sie, die sonst willensschwache Frau, um keinen Preis nachgeben durfte.

Das Abendessen war längst vorbei, die Mutter längst zur Ruhe gegangen, Vater und Sohn saßen noch bei ihrer Arbeit. Pfanner befaßte sich mit dem Aufstellen einer statistischen Tabelle, Georg kam mit seiner Rechnung nicht zu Ende. Die Aufmerksamkeit weder des einen noch des andern war völlig bei seiner Beschäftigung. Jeder von ihnen hatte heute ein Glück erfahren, und die Erinnerung daran stellte sich immer und immer wieder zerstreuend und ablenkend ein.

Pfanner war dem Herrn Subdirektor begegnet, und der hatte ihn angesprochen und ihn der Wohlmeinung des Herrn Direktors und seiner eigenen versichert. Der Herr Direktor warte nur auf die erste Gelegenheit, dem unermüdlichen Fleiß und Diensteifer des Offizianten die gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen.

„Für außergewöhnliche Leistungen außergewöhnliche Auszeichnungen. Verlassen Sie sich darauf.“ Mit diesen Worten hatte der hohe Vorgesetzte ihn verlassen, und Pfanner war weiter gewandert, von einem berauschenden Glücksgefühl ergriffen. Worauf durfte er sich Hoffnung machen? Auf Beförderung außer der Tour? Auf eine große Remuneration? Die wäre ihm vielleicht das liebste. Georgs Sparkassenbuch würde dadurch eine unverhoffte Bereicherung erfahren. An jedem letzten Tag des Monats nahm er es aus der Lade und ließ die wenigen, mühselig vom Gehalt ersparten Gulden eintragen, um nur ja nicht unnötigerweise einen Heller Zinsen einzubüßen.

Der Sparkassenbeamte lachte schon: „Was bringen's denn heut, Herr Offizial, einen halben Gulden, einen ganzen?“

Pfanners Hochmut litt unter diesen Spötteleien. Und jetzt stellte er sich vor, wie ihm sein würde, wenn er einen Hunderter oder gar zwei hinlegen könnte und nachlässig sagen:

„Bitte, tragen Sie heute das ein, ins Buch von meinem Buben.“

Sein Georg an der Spitze eines, wenn auch kleinen Vermögens – er liebte ihn mehr, wenn er daran dachte.

Der zukünftige Kapitalist hielt die Feder in der Hand und sann. Nicht über seine Rechnungsaufgabe. Seine Gedanken trugen ihn weit weg aus der kahlen, dürftig eingerichteten Stube ins Freie, wo jetzt schon neues Leben sich zu regen begann und ein Frühling sich ankündigte, von dem er wieder nichts haben sollte. Dem Frühling würde der Sommer folgen, die Schule geschlossen werden, und die Kameraden würden auf Ferien gehen; einige in die Nähe von Wien, andre glückliche ganz aufs Land, auf das wirkliche Land, oder gar ins Gebirge, in die Wälder, an die schimmernden Seen und Flüsse, an brausende Wasserfälle … Nur er kam nie hinaus aus den trostlosen Straßen der Vorstadt, nie fort vom müdmachenden, langweiligen, verhaßten Straßenpflaster, auf dem man sich die Schuhe zerriß und die Füße wund ging. Dazu des Vaters ewig wiederholtes:

„Lern! Hast gelernt? Kinder sind da, um zu lernen.“

In seinem Jungen aber schrie es: Nicht nur um zu lernen! Manchmal schon hatte er sich ein Herz gefaßt und gesagt: „Die andern sind jetzt auf Ferien und lernen nicht.“

 

Da war der Vater bös geworden. „Sind das Vorzugsschüler? Wenn ja ein paar darunter sind, dann sind sie nicht leichtsinnig und zerstreut wie du, fauler Bub. Haben vielleicht nicht einmal Talent wie du, dafür aber Fleiß, eisernen Fleiß. Ferien … was Ferien! Ein tüchtiger Mensch braucht keine, will keine. Hab ich Ferien?“ Es war der Stolz Pfanners, daß er noch nie Urlaub genommen.

Indessen, trotz all der väterlichen Strenge, ein wahres Löschhorn für jede heitere, lustige Regung, hatte es einige Jahre gegeben, in denen Georg eine Frühlingsfreude genossen. Und heute war der gesegnete Tag, an dem ihm endlich ein langgehegter, heißer Wunsch erfüllt wurde. Er trug das Mittel, Frühlingsfreude wieder zu erwecken, in seiner Tasche.

Um ein Stockwerk tiefer als die Familie Pfanner, im dritten des gegenüber liegenden Hauses, wohnte ein Schuster, der eine Nachtigall besaß. Wenn der Frühling anbrach, hing er ihren Käfig unter den Fenstersims an die Mauer. Der Käfig war eng und schmal, hatte dicke Sprossen und bot seiner Bewohnerin wenig Raum und wenig Licht. Sie sang wundersam in ihrer traurigen Gefangenschaft. Ihre süßen Lieder klangen nicht nur klagend und sehnsuchtsvoll, auch hell und jubelnd und wie voll des seligen Entzückens über die eigene Herrlichkeit, berauscht vom Triumph über die eigene hinreißende Macht. Die Töne, die der kleinen Brust entquollen, erfüllten die Gasse mit Wohllaut.

Georg brachte jeden freien Augenblick am Fenster zu, beugte sich hinaus und sandte der Nachtigall seine Liebesgrüße. Der Schuster, das konnte man leicht bemerken, kümmerte sich nicht viel um die holde Sängerin. Wäre sie Georgs Eigentum gewesen, wie hätte er sie gehegt und gepflegt! Sie war sein Glück, seine Wohltäterin, sie zauberte ihm den Frühling in die traurige Stube und Schönheit und Poesie in sein ödes Leben. Er lauschte ihr, und märchenhaft liebliche Bilder tauchten vor ihm auf, Landschaften im purpurnen Grün des neuen jungen Lebens, blütendurchhaucht, lichtgetränkt. Alles, wovon er gelesen und gehört hatte, das zu erblicken er sich gesehnt, das für ihn das ewig Unerreichbare bleiben sollte.

Bis Johannis ging es so fort, dann hörte die Nachtigall auf zu schlagen, und der Schuster nahm das Bauer wieder ins Zimmer herein. Im letzten Frühjahr hatte Georg vergeblich auf das Erscheinen des Bauers gewartet. Der Schuster hatte die Nachtigall vielleicht verschenkt, oder vielleicht war sie gestorben, und mit ihr all die schönen Träume, die ihr Gesang geweckt, und die stille, geheimnisvolle Wonne, sich ihnen zu überlassen und ihnen nachzuhängen.

Nun aber, vor einigen Wochen an einem grauen, frostigen Februarmorgen, tönten Georg, als er in die Nähe der Schule kam, die schmerzlich vermißten Nachtigallenklänge entgegen. Er stieß einen Freudenschrei aus, sah um sich, sah zu den Häusern empor, und da war nirgends ein Vogelbauer zu entdecken, und nirgends stand ein Fenster offen, aus dem der Gesang hätte dringen können. Die Töne schlugen einmal stärker, einmal schwächer an sein Ohr. Sie wanderten, näherten, entfernten sich, und plötzlich lachte Georg laut auf. Die Nachtigall, die so prachtvoll sang, spazierte vor ihm her, blieb stehen, schmetterte ihre Lockrufe in die Luft hinaus, ging ein Stück weiter, kehrte um und kam jetzt auf ihn zu.

Sie hieß Salomon Levi, war fünfzehn Jahre alt und trug schiefgetretene Stiefel, einen schwarzen Kaftan, einen steifen, breitkrempigen Hut. Ihre eingefallenen Wangen entlang baumelten ein Paar glänzende, rabenschwarze Schläfenlocken.

„Herrje, Salomon!“ hatte Georg ausgerufen, „was ist mit dir? bist eine Nachtigall worden?“

Der Angeredete trug an einem fettigen Riemen ein Tabulett, noch einmal so breit als er selbst, und hinkte von früh bis abends unermüdlich auf dem Kai vor der Schulgasse auf und ab. Sein Warenlager erfreute sich unter den Studenten des Rufes großer Solidität und bestand aus Brief- und Geldtaschen, Spiegeln, Messern, Uhrketten und dergleichen. Der junge Hausierer führte auch allerlei Spielzeug, das auf Georg eine starke Anziehung übte. Er hatte nie, nicht einmal als kleines Kind, Spielzeug besessen.

„Spielereien kaufen – Geld hinauswerfen, Unsinn!“ sagte Pfanner. „Ein Kind, das Phantasie hat, ein Kind wie das meine braucht keine. Ein Scheit Holz oder ein hölzernes Pferd sind dasselbe für ihn, sind ihm beide ein lebendiges Pferd. Eine Puppe in Seidenkleidern oder der in Zeitungspapier gewickelte Stiefelknecht sind ihm eines wie das andere, ein lebendiges Kind.“

Für Georg haftete der Reiz des Versagten an jedem Gegenstand in Salomons Auslagekasten. Er kam nie ohne Herzweh an ihm vorüber und knüpfte, so oft es anging, ein Gespräch mit Levi an, um alle die Kostbarkeiten, die er ausbot, mit Muße betrachten und sogar berühren zu dürfen.

„Ach Salomon,“ sagte er ihm einmal, „wie glücklich bist du! Kannst immer auf und ab gehen, und mußt nicht mehr in die Schule, hast so viele schöne Sachen und kannst sie den ganzen Tag ansehen. Wie froh mußt du sein!“

Salomon sah ihn wehmütig an. In welchem Irrtum war Georg befangen! Wenn Salomon alle die „schönen Sachen“ anbrächte, und noch viele andre und Geld für sie bekäme und studieren könnte, dann wäre er froh.

Sie hielten nun täglich eine Unterredung, eine kurze bloß, denn Georg wußte, daß der Vater ihn daheim fast regelmäßig, mit der Uhr in der Hand, erwartete, und wenn er sich um ein paar Minuten verspätete, dann gab es böse Minuten für seine arme Mutter.

So flüchtig aber auch die Begegnungen der beiden Knaben waren, sie bildeten allmählich ein starkes Band. Jeder von ihnen kannte das Leiden; einer bedauerte den andern und beneidete ihn auch. Fürs Leben gern hätten sie getauscht, verhandelten oft darüber und waren schon gute Bekannte gewesen vor jenem Februarmorgen, an dem der Vorzugsschüler dem Hausierer zugerufen hatte:

„Bist eine Nachtigall worden?“

Helles Entzücken durchströmte ihn, als Salomon ihm ein Instrumentchen zeigte, nicht größer wie eine Nuß, in dem alle Flötentöne der Nachtigall schliefen. Man brauchte es nur zwischen die Lippen zu nehmen und geschickt mit der Zunge zu behandeln, um den lieblichen Gesang zu wecken. Er hätte sich auf die Knie werfen und Salomon beschwören mögen: „Sei gut, sei großmütig, schenk mir die Nachtigall!“ Aber das Bild seines Vaters schwebte ihm vor, er vernahm die Worte: „Du bist ein Beamtensohn, du unterstehst dich nicht, etwas anzunehmen, nicht ein Endchen Bleistift, nicht eine Feder. Von keinem Mitschüler, von keinem Menschen.“

So stotterte er denn mit fliegendem Atem: „Was kostet die Nachtigall?“

Sie kostete zwanzig Heller, und Salomon hatte heute schon ein paar Dutzend verkauft und hoffte, noch ein paar Dutzend zu verkaufen und bald auch seinen ganzen Vorrat, denn sie gingen reißend ab.

Georg überlegte: „Wirst du in fünf Tagen keine mehr haben…? Hebe mir eine auf, ich bitte dich. Wenn ich mein Jausengeld erspare, habe ich in fünf Tagen zwanzig Heller beisammen und kann dir die Nachtigall bezahlen.“

Salomon war sehr ungläubig. Mehrmals schon hatte Georg versucht, sein Jausengeld zu sparen, um bei ihm einen Einkauf machen zu können, es aber nie weiter gebracht als bis zu acht, höchstens zu zehn Heller. Dann war er plötzlich an einem Nachmittag zu hungrig geworden und hatte sein ganzes Geld auf einmal ausgegeben, für eine besonders lockende Brezel. Beim Bäcker an der Ecke bekam man so köstliche! Er hatte auch schon seinen kleinen Besitz an Kupfermünzen Ärmeren, als er selbst war, geschenkt. Salomon zweifelte mit gutem Grund an der Fähigkeit des „jungen Herrn“, etwas zurückzulegen. Dennoch erfüllte er ihm seinen Wunsch. Eine Nachtigall blieb unverkauft, die beste. Wer die zu behandeln verstand, konnte ihr ganz besonders klangreiche Töne entlocken.

Und heute hatte Georg sie erworben, war glorreich vor Salomon hingetreten, hatte ihm zehn Zweihellerstücke in die Hand gezählt und die Nachtigall in Empfang genommen.

Der Unterricht in der Gebrauchsanweisung war „dreingegangen“. Das kleine Instrument wanderte von einem Mund zum andern, und sogleich, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit lernte Georg dem Tabulettkrämer seine Kunst ab.

„Was ein Talent zur Musik! Ich hab müssen lernen drei Tag, bis ich hab spielen gekonnt. Sie können gleich spielen, besser als ich.“

Georg erwiderte glückselig, es sei ja so leicht. Ach, wenn alles so leicht wäre, wenn es mit der Mathematik und der Geschichte und mit dem Griechischen auch so ginge!

In Salomons melancholischen Augen leuchtete es auf: „Mir möchte leicht sein das Studieren,“ sprach er und sah sehr hochmütig und sehr traurig aus.

Jetzt war es nahe an elf Uhr. Frau Agnes hatte sich auf Befehl Pfanners zu Bette begeben, sie schlief aber nicht; sie beobachtete vom dunkeln Alkoven aus ihren Mann, der mit unvermindertem Eifer liniierte, rubrizierte, und ihren Jungen, der müd und blaß sich über sein Heft beugte oder mit verträumten Augen emporblickte zu dem grauen Fleck, den der Rauch der Lampe allmählich an die Decke gemalt hatte. Er durfte noch immer auf des Vaters grimmig wiederholtes „Bist fertig?“ nicht mit ja antworten; er war eben nicht bei der Sache. Er hatte eine Hand in die Tasche gesteckt und die Finger um die Nachtigall gelegt und preßte sie manchmal, als ob sie etwas Lebendiges wäre und es fühlen könnte, mit großer, sanfter Liebe.

Der Heimweg, der ihm sonst immer endlos vorkam, war ihm heute zu kurz gewesen. Fast die ganze Zeit hindurch hatte er die Nachtigall schlagen lassen, und Kinder und selbst Erwachsene waren stehen geblieben und hatten ihm zugehört und sich über die herzige Musik gefreut. Es wäre ihm ein Glück gewesen, vor der Mutter eine Probe seiner neu erlernten Kunst abzulegen. Aber das ging nicht an, die Mutter würde sogleich gesagt haben: „Du mußt dem Vater das Ding zeigen, du weißt ja, er mag Spielereien nicht.“ Und wenn Georg auch geantwortet hätte: „Es ist keine Spielerei, es ist ein Instrument,“ würde sie doch dabei geblieben sein: „Hinter dem Rücken des Vaters darf man nichts tun und nichts haben.“ So hatte sie es immer gehalten … bis heute.

Georg aber konnte nicht vergessen, daß ihm vor Jahren der jüngste Sohn der Nachbarin, Karl Walcher, seine Flöte geliehen; er hätte sie ihm auch gern geschenkt, ohne Pfanners spartanisches Verbot. Was Georg einmal hörte von den Kinderliedern, die seine Mutter ihm vorsummte, bis zum feierlichen Kirchengesang, alles merkte er sich und brachte die Melodie ganz richtig heraus auf dem höchst primitiven Instrumentchen. Frau Walcher und ihre Söhne hatten ihn bewundert und sogar sein Vater ihm manchmal ein zustimmendes: „Nicht übel“ gespendet. Aber bald war ihm seine Freude verdorben worden.

„Laß die Dummheiten – lern!“ hatte es bald geheißen. An dem geringsten Versäumnis, an jeder Zerstreutheit des Knaben hatte die Flöte Schuld getragen. Bald, schrecklich bald hatte der Vater sie ihrem Eigentümer zurückgestellt. So würde er gewiß auch die Nachtigall nicht dulden, und deshalb mußte sie vor ihm verborgen bleiben, die liebe, herrliche.

Als Georg endlich zur Ruhe gehen durfte, erhielt sie ihren Platz unter seinem Kopfkissen. Nach Mitternacht erwachte er, zog sie an seine Lippen. Um sie zu küssen; natürlich nur, sie schlagen zu lassen, konnte ihm doch nicht einfallen … Zwar – die Eltern schliefen. Zwischen ihnen und ihm, am Mauervorsprung des Alkoven, tickte kräftig, jedes schwache Geräusch übertönend, der flinke Gang der Schwarzwälderin. Dennoch wäre es nicht geraten … und während er dachte: nicht geraten, berührte seine Zungenspitze schon das kühle Metallplättchen. Ohne seinen Willen, fast ohne sein Zutun begann die Nachtigall ihren Gesang zu erheben. Sie klagte, sie lockte, sie verkündete eine unerfüllbare Sehnsucht. Ihre Töne stiegen, schwollen, brachen plötzlich ab. Herrgott im Himmel … Zu laut, zu laut! Der Vater hat einen gar leisen Schlaf … Entsetzlich erschrocken, von Schauern der Angst durchrieselt, steckte Georg seinen Kopf unter die Decke. Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte der Vater von einem merkwürdigen Traum, den er in der Nacht gehabt. Der Schuster hatte wieder eine Nachtigall angeschafft, und Pfanner war gewesen, als ob er sie so laut schlagen hörte, daß er darüber erwachte, und dann, das war das Merkwürdige, hatte er sich eingebildet, wach zu sein und sie noch zu hören. Seine Frau konnte nicht genug staunen, auch ihr hatte etwas ganz Ähnliches geträumt, und das mußte wohl etwas zu bedeuten haben.

Georg stand auf und trat ans Fenster, damit die Eltern sein Erröten nicht sähen.

Auch Frau Agnes hatte ihr Geheimnis, und sie mußte, um es zu bewahren, allerlei Ausflüchte gebrauchen, die gar oft weitab von der Wahrheit lagen. Seit einiger Zeit war bei allen Mahlzeiten der Tisch reichlicher besetzt, und Pfanner hatte doch nicht mehr Wirtschaftsgeld bewilligt als früher. Seine Frau konnte nicht immer bei der Wahrheit bleiben, wenn er sie darüber zur Rede stellte. Ungern genug hörte er schon und fühlte sich gedemütigt, wenn sie gestand, einige Konfektionsarbeiten gemacht und durch Vermittlung Frau Walchers unter der Hand verkauft zu haben. Nie hätte er erfahren dürfen, daß sie ein eben entbehrliches Kleidungsstück oder Hausgerät ins Versatzamt getragen, einen noch aus dem väterlichen Hause mitgebrachten kleinen Schmuckgegenstand veräußert hatte. Er hielt viel auf diese Reste einer ehemaligen Wohlhabenheit; es schmeichelte ihm, sich seine einst sehr schöne Frau – nur leider die Hellblonden verblühen sehr schnell! – aus einem guten und damals fast reichen Hause geholt zu haben. Der geringste Zufall konnte alles an den Tag bringen und dann – Agnes schloß die Augen und erzitterte bei dem Gedanken, was dann geschehen würde. Aber gleichviel, das Kind mußte um jeden Preis besser genährt werden als bisher.

 

Frau Adjunkt Walcher hatte sich schon vor einem Jahre in ihrer kurz angebundenen, offenherzigen Weise darüber ausgesprochen: „Mir scheint immer, Sie halten Ihren Schorsch zu kurz in der Kost, Frau Offizial. So ein Bub will tüchtig essen. ‚Das Lernen zehrt, und in einen kleinen Ofen muß man öfter nachlegen als in einen großen‘, sagt mein Mann. Er und ich sind oft hungrig schlafen gegangen – Herrgott, ein Adjunkt mit tausend Gulden Gehalt! – unsre zwei Buben waren immer satt geworden. Sehen auch aus wie die Knöpf. Ihr Schorsch schießt in die Höh, wird ja bald den Herrn Offizial eingeholt haben, setzt aber kein Lot Fleisch an.“

„Finden Sie, daß er schlecht aussieht?“ hatte Frau Agnes in Bestürzung ausgerufen.

Nun nein, das fand die Frau Adjunkt gerade nicht, aber so gewiß „kleber“ und eine bessere „Farb“ sollt er haben: „Die Nahrung muß ausreichend sein,“ sie betonte das Wort mit Wohlgefälligkeit, es kam ihr so gebildet vor. „Ausreichend, sagt mein Mann. Das viele Lernen schlägt sich sonst den Kindern auf die Nerven.“

Dies Gespräch hatte entschieden; die Liebe der Mutter hatte über den Widerwillen der ehrlichen Frau gegen Falschheit und Lüge gesiegt. Ihrem Manne Vorstellungen zu machen, einen Versuch zu machen, ihn zur geringsten Mehrausgabe zu bewegen, wäre ihr so wenig eingefallen, als einem Stein zuzureden, sich in Brot zu verwandeln. Eine Erörterung zwischen ihm und ihr kam überhaupt nicht vor. Vom Anfang ihrer Ehe an hatte sein herrisches und ablehnendes Wesen jede Möglichkeit, ihm vertrauensvoll zu nahen, ausgeschlossen. Was konnte eine Frau ihm zu sagen haben? Er war er, und außer ihm war die Pflicht, und diesen beiden höchsten Mächten unterstand die Welt, die er begriff. Erst als ein Sohn ihm geboren wurde, gab es ein zweites Wesen, ihm ebenso wichtig, wie er sich selbst. Eine Fortsetzung seines Ich, eine vervollkommnete Fortsetzung. Alles, was seinem Ehrgeiz versagt geblieben, was er nicht errungen, sollte sein Sohn erringen.

Er war aus Armut und Niedrigkeit hervorgegangen, hatte einen nur mangelhaften Schulunterricht genossen und niemals die Aussicht gehabt, es zu einer höheren Stellung zu bringen. Als kleiner Beamter lebte er und würde er sterben. Aber der Sohn: Das Gymnasium als Primus absolvieren, den Doktorhut summa cum laude erwerben, schon in den ersten Anfängen der Laufbahn von der Glorie reichster Verheißungen umstrahlt, steigen von Erfolg zu Erfolg, von Ehren zu Ehren – das sollte der Sohn. Den nüchternen Offizial Pfanner, den unfehlbaren Rechner, den trockenen Vernunftmenschen nahm, wenn er sich diesen Vorstellungen hingab, die Phantasie auf ihre Flügel und trug ihn über alle Gipfel des Wahrscheinlichen sausend hinweg. Und wenn er dann wieder zur Erde niederstieg und seinen Georg zufällig einmal müßig einhergehen sah, wetterte er ihn an: „Lern!“

Er selbst, immer in der Zukunft lebend, die Gegenwart und was sie darbot, geringschätzend, entfremdete sich mehr und mehr seinen Standesgenossen. Er erwies sich ihnen gefällig, machte Arbeiten, die ihnen zugekommen wären, hatte aber dabei nur seinen eigenen Vorteil, die Verbesserung seiner Stellung im Auge. Dem Verkehr mit ihnen, den Zusammenkünften im Kaffeehaus und im Stammgasthaus, ging er so viel als möglich aus dem Wege. Nur selten fand er sich mit den Kollegen zusammen. Beim „goldenen Wiesel“, wo die Versammlungen der Herren Beamten stattfanden, an denen auch einige Vorgesetzte und Bekannte der Vorgesetzten teilnahmen, da begegnete Pfanner richtig jedesmal dem Manne, den er haßte, dem Kunstschlosser Herrn Obernberger. Vor Jahren hatte es dem als großer Vorzug gegolten, mit den Herren von der Eisenbahn im Gasthaus zusammenkommen zu dürfen. Jetzt hatte der Standpunkt sich verrückt. Seitdem die Arbeiten aus der Kunstschlosserei Obernbergers erste Preise auf den Ausstellungen erhalten hatten, seitdem er viele hundert Arbeiter in seinen Werkstätten beschäftigte, im eigenen Hause wohnte, im eigenen Wagen vorfuhr und das Band des Franz Josephs-Ordens im Knopfloch trug, eilten die meisten der Herren ihm bis zur Tür entgegen, und bei Tische erhielt er den Platz zur Rechten des Inspektors.

Das alles hätte Pfanner hingehen lassen und sich nicht weiter darum gekümmert. Aber dieser Schlosser hatte einen Sohn, und dieser Sohn trat seinem Georg im Gymnasium auf die Fersen, konnte ihn einholen, konnte ihn überflügeln, denn der verdammte Bub hatte Talent, sein ärgster Feind mußte das zugeben. „Talent um eine Million“, wie Herr Obernberger sagte, „aber nicht um einen Heller Fleiß.“

Es war nach der Schule. Pepi Obernberger und Georg Pfanner gingen ein Stück des Weges miteinander. Sie waren beide aufgerufen worden vom Professor des Griechischen, und Pepi hatte besser bestanden. Georg schritt sehr kleinlaut und mit einem ganz roten Kopf neben ihm her. Der Vater versäumte nie zu fragen: „Hat der Herr Professor dich aufgerufen, und wen noch, und wie ist's gegangen?“

„Du weißt immer,“ sagte Georg zu seinem Kameraden. „Hast heut wieder sehr gut gewußt. Ich wäre froh, wenn ich immer so gut wüßte wie du.“

Pepi fing sogleich zu prahlen an: Hol's dieser und jener! Ihm lag nichts an dem dummen Plunder. Kasusartige Endungen, Komparation der Adjektiva, dummes Zeug! Er plagte sich auch gar nicht damit. Wenn der Trottel von einem Professor eine neue Walze einlegte in seinen Werkelkasten und anfing, sie herunter zu leiern, da höchstens hörte er ein bißchen zu. Zu Hause sah er kein Buch an, das war ihm viel zu fad.

„Geh, geh!“ fiel Georg ungläubig ein, und er verbesserte sich:

„Fast keins, auf Ehre. Daß sie mir immer so gute Zeugnisse geben, das danke den alten Perücken der Teufel. Ich gift mich darüber, weil's meinen Alten auf die dumme Idee bringt, einen Professor aus mir zu machen. Aber nein! Lieber als so ein lächerlicher Zopf zu werden und auf alles zu verzichten, was schön ist: Rad fahren, reiten, jagen, tanzen, kutschieren, Billard spielen im Kaffeehaus, Gletscher besteigen, lieber erschieß ich mich!“

Georg sah ihn aufmerksam an, er war so ganz und gar das Ebenbild seines Vaters, des braven, fröhlichen Herrn Obernberger mit dem runden Kopf und dem runden Gesicht und dem freundlich lächelnden Munde. Und der Mensch sprach von Selbstmord?

„Red nicht so!“ rief Georg. „Du wirst keine Todsünde begehen; Selbstmord ist eine Todsünde und eine Feigheit.“

„Unsinn!“ stieß Pepi höhnisch aus. „Wie kann man so ein Esel sein und alles nachplappern, was sie einem in der Schul sagen. Aber du hast nie einen eigenen Einfall. Hast den Kopf schon ganz ausgestopft mit Pappendeckel. Adje!“ – Du Schulesel! setzte er in Gedanken hinzu und bog ab, um die nächste Tramwaystation zu erreichen.