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Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

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„‚Was will man denn noch mit dem?‘ rief die Gebieterin; ‚gebt mir Ruhe, ich habe andre Sorgen.‘

„Der zudringliche Arzt entfernte sich murrend.

„Die Sorgen aber, von denen meine Großmutter gesprochen hatte, waren nicht etwa frivole, sondern solche, die zu den peinvollsten gehören – Sorgen, für die Ihnen, liebe Freundin, allerdings das Verständnis und infolgedessen auch das Mitleid fehlt – Poetensorgen.“

„O mein Gott!“ sagte die Gräfin unbeschreiblich wegwerfend, und der Erzähler entgegnete:

„Verachten Sie's, soviel Sie wollen, meine Großmutter besaß poetisches Talent, und es manifestierte sich deutlich in dem Schäferspiel „Les adieux de Chloë“, das sie gedichtet und den Darstellern selbst einstudiert hatte. Das Stückchen sollte nach der Tafel, die man im Freien abhielt, aufgeführt werden, und der Dichterin, obwohl sie ihres Erfolges ziemlich sicher war, bemächtigte sich, je näher der entscheidende Augenblick kam, eine desto weniger angenehme Unruhe. Beim Dessert, nach einem feierlichen, auf die Frau des Hauses ausgebrachten Toast, gab jene ein Zeichen. Die mit Laub überflochtenen Wände, welche den Einblick in ein aus beschnittenen Buchenhecken gebildetes Halbrund verdeckt hatten, rollten auseinander, und eine improvisierte Bühne wurde sichtbar. Man erblickte die Wohnung der Hirtin Chloë, die mit Rosenblättern bestreute Moosbank, auf der sie schlief, den mit Tragant überzogenen Hausaltar, an dem sie betete, und den mit einem rosafarbigen Band umwundenen Rocken, an dem sie die schneeig weiße Wolle ihrer Lämmchen spann. Als idyllische Schäferin besaß Chloë das Geheimnis dieser Kunst. Nun trat sie selbst aus einem Taxusgange, und hinter ihr schritt ihr Gefolge, darunter ihr Liebling, der Schäfer Myrtill. Alle trugen Blumen, und in vortrefflichen Alexandrinern teilte nun die zarte Chloë dem aufmerksam lauschenden Publikum mit, dies seien die Blumen der Erinnerung, gepflückt auf dem Felde der Treue, und bestimmt, dargebracht zu werden auf dem Altar der Freundschaft. Gleich nach dieser Eröffnung brach ungemessener Jubel im Auditorium los und steigerte sich von Vers zu Vers. Einige Damen, die Racine kannten, erklärten, er könne sich vor meiner Großmutter verstecken, und einige Herren, die ihn nicht kannten, bestätigten es. Sie aber konnte über die Echtheit des Enthusiasmus, den ihre Dichtung erweckte, nicht in Zweifel sein. Die Ovationen dauerten noch fort, als die Herrschaften schon ihre Wagen oder ihre Pferde bestiegen hatten und teils in stattlichen Equipagen, teils in leichten Fuhrwerken, teils auf flinken Rossen aus dem Hoftor rollten oder sprengten.

„Die Herrin stand unter dem Portal des Schlosses und winkte den Scheidenden grüßend und für ihre Hochrufe dankend zu. Sie war so friedlich und fröhlich gestimmt, wie dies einem Selbstherrscher, auch des kleinsten Reiches, selten zuteil wird. Da – eben im Begriff, sich ins Haus zurückzuwenden, gewahrte sie ein altes Weiblein, das in respektvoller Entfernung vor den Stufen des Portals kniete. Es hatte den günstigen Augenblick wahrgenommen und sich durch das offenstehende Tor im Gewirr und Gedränge unbemerkt hereingeschlichen. Jetzt erst wurde es von einigen Lakaien erblickt. Sogleich rannten sie, Herrn Fritz an der Spitze, auf das Weiblein zu, um es gröblich hinwegzuschaffen. Zum allgemeinen Erstaunen jedoch winkte meine Großmutter die dienstfertige Meute ab und befahl zu fragen, wer die Alte sei und was sie wolle. Im nämlichen Moment räusperte sich's hinter der Gebieterin und nießte, und, den breitkrempigen Hut in der einen Hand und mit der andern die Tabaksdose im Busen verbergend, trat der Herr Doktor bedächtig heran. ‚Es ist, hm, hm, hochgräfliche Gnaden werden entschuldigen,‘ sprach er, ‚es ist die Mutter des Mischka.‘

„‚Schon wieder Mischka, hat das noch immer kein Ende mit dem Mischka?.. Und was will die Alte!‘“

„‚Was wird sie wollen, hochgräfliche Gnaden? Bitten wird sie für ihn wollen, nichts andres.‘

„‚Was denn bitten? Da gibt's nichts zu bitten.‘

„‚Freilich nicht, ich habe es ihr ohnehin gesagt, aber was nutzt's? Sie will doch bitten, hm, hm.‘

„‚Ganz umsonst, sagen Sie ihr das. Soll ich nicht mehr aus dem Hause treten können, ohne zu sehen, wie die Gartenarbeiter ihre Geliebten embrassieren?‘

„Der Doktor räusperte sich, und meine Großmutter fuhr fort: ‚Auch hat er seinen Vater halbtot geschlagen.‘

„‚Hm, hm, er hat ihm eigentlich nichts getan, auch nichts tun wollen, nur abhalten, die Mutter nicht ganz totzuschlagen.‘

„‚So?‘

„‚Ja, hochgräfliche Gnaden. Der Vater, hochgräfliche Gnaden, ist ein Mistvieh, hat einen Zahn auf den Mischka, weil der der Mutter seiner Geliebten manchmal ein paar Kreuzer zukommen läßt.‘

„‚Wem?‘

„‚Der Mutter seiner Geliebten, hochgräfliche Gnaden, ein erwerbsunfähiges Weib, dem sozusagen die Quellen der Subsistenzmittel abgeschnitten worden sind … dadurch, daß man die Tochter fortgeschickt hat.‘

„‚Schon gut, schon gut!.. Mit den häuslichen Angelegenheiten der Leute verschonen Sie mich, Doktor, da mische ich mich nicht hinein.‘

„Der Doktor schob mit einer breiten Gebärde den Hut unter den Arm, zog das Taschentuch und schneuzte sich diskret. ‚So werde ich also der Alten sagen, daß es nichts ist.‘ Er machte, was die Franzosen une fausse sortie nennen, und setzte hinzu: ‚Freilich, hochgräfliche Gnaden, wenn es nur wegen des Vaters wäre …‘

„‚Nicht bloß wegen des Vaters, er hat auch dem Janko ein Auge ausgeschlagen.‘

„Der Doktor nahm eine wichtige Miene an, zog die Augenbrauen so hoch in die Höhe, daß seine dicke Stirnhaut förmliche Wülste bildete, und sprach: ‚Was dieses Auge betrifft, das sitzt fest und wird dem Janko noch gute Dienste leisten, sobald die Sugillation, die sich durch den erhaltenen Faustschlag gebildet hat, aufgesaugt sein wird. Hätte mich auch gewundert, wenn der Mischka imstande gewesen wäre, einen kräftigen Hieb zu führen nach der Behandlung, die er von den Heiducken erfahren hat. Die Heiducken, hochgräfliche Gnaden, haben ihn übel zugerichtet.‘

„‚Seine Schuld; warum wollte er ihnen nicht gutwillig folgen.‘

„‚Freilich, freilich, warum wollte er nicht? Vermutlich, weil sie ihn vom Sterbebette seiner Geliebten abgeholt haben – da hat er sich schwer getrennt … Das Mädchen, hm, hm, war in andern Umständen, soll vom Vater des Mischka sehr geprügelt worden sein, bevor sie die Wanderung angetreten hat. Und dann – die Wanderung, die weit ist, und die Person, hm, hm, die immer schwach gewesen ist … kein Wunder, wenn sie am Ziele zusammengebrochen ist.‘

„Meine Großmutter vernahm jedes Wort dieser abgebrochenen Sätze, wenn sie sich auch den Anschein zu geben suchte, daß sie ihnen nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit schenkte. ‚Eine merkwürdige Verkettung von Fatalitäten,‘ sprach sie, ‚vielleicht eine Strafe des Himmels.‘

„‚Wohl, wohl,‘ nickte der Doktor, dessen Gesicht zwar immer seinen gleichmütigen Ausdruck behielt, sich aber allmählich purpurrot gefärbt hatte. ‚Wohl, wohl, des Himmels, und wenn der Himmel sich bereits dreingelegt hat, dürfen hochgräfliche Gnaden ihm vielleicht auch das Weitere in der Sache überlassen … ich meine nur so!‘ schaltete er, seine vorlaute Schlußfolgerung entschuldigend, ein – ‚und dieser Bettlerin‘, er deutete nachlässig auf die Mutter Mischkas, ‚huldvollst ihre flehentliche Bitte erfüllen.‘

„Die kniende Alte hatte dem Gespräch zu folgen gesucht, sich aber mit keinem Laut daran beteiligt. Ihre Zähne schlugen vor Angst aneinander, und sie sank immer tiefer in sich zusammen.

„‚Was will sie denn eigentlich?‘ fragte meine Großmutter.

„‚Um acht Tage Aufschub, hochgräfliche Gnaden, der ihrem Sohne diktierten Strafe, untersteht sie sich zu bitten, und ich, hochgräfliche Gnaden, unterstütze das Gesuch, durch dessen Genehmigung der Gerechtigkeit besser Genüge geschähe, als heute der Fall sein kann.‘

„‚Warum?‘

„‚Weil der Delinquent in seinem gegenwärtigen Zustande den Vollzug der ganzen Strafe schwerlich aushalten würde.‘

„Meine Großmutter machte eine unwillige Bewegung und begann langsam die Stufen des Portals niederzusteigen. Fritz sprang hinzu und wollte sie dabei unterstützen. Sie aber winkte ihn hinweg: ‚Geh aufs Amt,‘ befahl sie, ‚Mischka ist begnadigt.‘

„‚Ah!‘ stieß der treue Knecht bewundernd hervor und enteilte, während der Doktor bedächtig die Uhr aus der Tasche zog und leise vor sich hinbrummte: ‚Hm, hm, es wird noch Zeit sein, die Exekution dürfte eben begonnen haben.‘

„Das Wort ‚begnadigt‘ war von der Alten verstanden worden; ein Gewinsel der Rührung, des Entzückens drang von ihren Lippen, sie fiel nieder und drückte, als die Herrin näher trat, das Gesicht auf die Erde, als ob sie sich vor so viel Größe und Hoheit dem Boden förmlich gleichzumachen suche.

„Der Blick meiner Großmutter glitt mit einer gewissen Scheu über dieses Bild verkörperter Demut: ‚Steh auf‘, sagte sie und – zuckte zusammen und horchte … und alle Anwesenden horchten erschaudernd, die einen starr, die andern mit dem albernen Lachen des Entsetzens. Aus der Gegend des Amtshauses hatten die Lüfte einen gräßlichen Schrei herübergetragen. Er schien ein Echo geweckt zu haben in der Brust des alten Weibleins, denn es erhob stöhnend den Kopf und murmelte ein Gebet …

„‚Nun?‘ fragte einige Minuten später meine Großmutter den atemlos herbeistürzenden Fritz: ‚Hast du's bestellt?‘

„‚Zu dienen,‘ antwortete Fritz und brachte es diesmal statt zu seinem süßen Lächeln nur zu einem kläglichen Grinsen: ‚Er laßt die Hand küssen, er ist schon tot.‘“ –

„Fürchterlich!“ rief die Gräfin aus, „und das nennen Sie eine friedliche Geschichte?“

„Verzeihen Sie die Kriegslist, Sie hätten mich ja sonst nicht angehört,“ erwiderte der Graf. „Aber vielleicht begreifen Sie jetzt, warum ich den sanftmütigen Nachkommen Mischkas nicht aus dem Dienst jage, obwohl er meine Interessen eigentlich recht nachlässig vertritt.“

 

Fräulein Susannens Weihnachtsabend

Fräulein Susette, oder wie sie sich lieber nennt, Susanne, spazierte am Weihnachtsabend munter in ihrem Zimmer hin und her. Sie hatte viele Leute beschenkt, versetzte sich nun im Geiste zu dem und jenem der angenehm Überraschten und befand sich da sehr behaglich. Ihre zu kleinen, aber flinken und geschickten Hände schlugen gleichsam den Takt zu der Freudenmusik in ihrem Innern, indem sie die beinernen Nadeln der Strickerei rasch und lieblich klappern ließen.

Andern Vergnügen machen ist ein Vergnügen für jeden natürlich gearteten Menschen, dachte sie, für mich aber, die so spät dazu kam, ein berauschendes Glück. – Wenn einem die Eltern mißraten sind, wenn man ein langes Dasein der freudlosen Pflichterfüllung, der Unterwürfigkeit und Entbehrung hinter sich hat, und erwacht eines Morgens selbständig, frei, wohlhabend, gar nicht mehr jung, aber mit einem ungehobenen Schatz an Heiterkeit im Herzen, das ist zum Übermütigwerden, und Susanne wurde übermütig und machte ausschweifenden Gebrauch von ihrer Unabhängigkeit und von ihrem Reichtum.

Sie hatte viele Jahre mit ihrer begüterten, aber vom Geizteufel besessenen Großmutter in einer armen Leuten abgemieteten Dachkammer gelebt. Wie gelebt! Als geduldige und mißhandelte Magd. Dennoch vergoß sie am Sterbebette ihrer Tyrannin ehrliche Tränen.

Nach dem Tode der alten Frau befand sich Susanne, deren einziges Enkelkind, an der Spitze eines nach ihren Begriffen großen Vermögens. Die Erbin bezog nun eine hübsche, aus drei Zimmern und einer Küche bestehende Wohnung im vierten Stock eines stattlichen Hauses in der Göttweihergasse. Sie nahm ein Dienstmädchen auf, ging oft spazieren und stieg, wenn sie müde wurde, in einen Stellwagen, ohne weiteres – wie eine Prinzessin.

Der Luxus jedoch, den sie am maßlosesten betrieb, war der Verschenkluxus; ihm ergab sie sich immer, besonders aber um die gesegnete Weihnachtszeit, und ein solcher Christabend, an dem Susanne auf und ab pendelte in ihrer guten Stube – sorgfältig vermeidend, den Rand des kleinen, unter dem Tische liegenden Teppichs zu betreten, um ihn nicht abzunützen – und an alle die Menschen dachte, denen sie eine Freude bereitet hatte – ein solcher Christabend … Niemand vermag seine stillen Entzückungen zu schildern. Das Fräulein wußte nur eins: sich die Hochgefühle, von denen sie jetzt beseelt wird, in Permanenz versetzt denken, und sie hat eine Vorstellung dessen, was himmlische Seligkeit ist.

Auf einmal blieb Susanne stehen und horchte. Durch die Wand, aus der Wohnung nebenan, war das Gekreische jubelnder Stimmen zu ihr gedrungen. Haha, die Kunzelkinder! Nur zu! Dieser Jubel macht dem Fräulein kein geringes Vergnügen, denn sie ist dessen Urheberin. Sie hat den Christbaum gekauft und geschmückt, der jetzt so begeistert akklamiert wird. Ohne sie hätten die Nachbarn einen traurigen Weihnachtsabend gehabt. Sie war kürzlich dem Haupte der Familie, dem Herrn Kürschnermeister Kunzel, und seinem ältesten Sprößling, dem siebenjährigen Toni, auf der Treppe begegnet und hatte zu dem Kinde gesagt: „Nun, Toni, freust du dich auf den Christbaum?“ worauf der Junge seine kleinen, tiefliegenden Augen gesenkt, die Unterlippe vorgeschoben und etwas Unverständliches gemurmelt, der Kürschnermeister jedoch mit einer weit ausholenden Schwenkung des Hutes und ehrfürchtiger Verbeugung geantwortet hatte: „Ach nein, gnädigstes Fräulein, heuer hält sich das Christkinderl bei uns nicht auf … Es wird … es hat …“ Er stockte, fuhr langsam mit seiner breiten Hand über den Kopf und das Gesicht und setzte verlegen hinzu: „Es muß sparen … auf eine neue Wiege – mit Zubehör … die alte tut's durchaus nicht mehr …“

„Mein Gott, das sechste, und ich habe schon das vierte und das fünfte aus der Taufe gehoben!“ sagte Susanne zu sich selbst, und zu Herrn Kunzel sagte sie nichts, sondern ging stumm und unaufhaltsam ihrer Wege, was sie später sehr bereute. Wenn man auch keineswegs gesonnen ist, bei Nummer sechs Taufpatenstelle zu vertreten, läuft man doch nicht mit unanständiger Eile davon, weil einem dessen bevorstehende Ankunft angezeigt wird.

Das Schlimme, ja das Abscheuliche dabei ist, daß Susanne um die Gunst, welche sie eben in Gedanken verweigerte – nie gebeten worden ist, dieselbe vielmehr selbst angeboten und sogar nach der Geburt von Nummer fünf aufgedrungen, als sie gehört hatte: die Kürschnersleute finden keine Taufpatin für ihre Jüngste.

Wie überrascht waren jene gewesen, da Susanne im Augenblick der größten Verlegenheit als rettender Engel erschien, aber auch wie ehrlich beschämt! Der Mann ganz rot, und die Frau ganz blaß, hatten zuerst an das großmütige Anerbieten kaum glauben können. Sie hatten einander bestürzt angesehen und gemurmelt: „Nein, Mutter … das wäre zu viel.“ – „Nein, Vater, das gibt's nicht …“

Und einmal wieder hatte Susanne was „zu viel“ ist und „was es nicht gibt“ getan und einmal wieder in den auserlesensten Hochgefühlen geschwelgt und sich in eine neue Gelegenheit zu fortwährenden Opfern hineingestürzt mit Mutius Scävolaischer Begeisterung.

Das der wirkliche Sachverhalt, bei dem sich die Noblesse des braven Ehepaares so deutlich geoffenbart, und aus dem Susanne so wenig gelernt hatte, daß sie entfloh wie vor einer Gefahr, vor der Aussicht auf ein neues Kunzelchen.

Welche Abgründe im Menschenherzen, sogar in einem ganz passablen! klagte sie. Stille, schwarze Wässerchen, verborgene Miserabilitätsadern in einem scheinbar leidlich gesunden Organismus.

Susanne hatte viel gelitten durch die Erinnerung an ihr schnödes Benehmen gegen Herrn Kunzel, und das Gejauchze seiner Kinder, das sie jetzt vernahm, wirkte unsagbar heilend auf ihre Seelenwunde. Gar lebhaft und innig regte sich in dem Fräulein der Wunsch, ein bißchen hinüberzugehen zu den guten Leutchen, um persönlich an ihrer Freude teilzunehmen.

Aber der Respekt der Einsamen vor der Familie, die man an einem Tage, wie der heutige, in ihrem friedlichen Beisammensein nicht stören darf, hielt sie davon ab, und so fuhr sie fort, ihre Besuche vergnügt in Gedanken abzustatten.

Sie flog in die Brigittenau zu ihrer Wäscherin und von da zu dem Buchbinder Hasse in Lerchenfeld, und von Lerchenfeld in die Kumpfgasse zur alten Blumenresel, zu lauter wackeren, schwer ringenden Menschen, die heute aufatmen – Susanne hat sie von ihren drückenden Sorgen befreit. Von der Kumpfgasse begibt sich das Fräulein nach der Freiung, sie tut es ein wenig zögernd.

Ach – es kann nicht anders sein!.. Wenn sie von Leuten kommt, die sich eine Ehre aus ihr machen – jetzt naht sie einer Wohnung, die auch nur im Geiste zu betreten eitel Ehre für sie ist, denn in dieser Wohnung residiert ihr Vetter Joseph, der kaiserlich königliche Hofrat. Ein Pracht- und Mustermensch, der Vetter Hofrat, angebetet von seinen Untergebenen, hochgeschätzt von seinen Vorgesetzten, ein Beamter mit großer Zukunft. Und was für ein Ehemann! Die Ritterlichkeit, die Liebe selbst. – Verehrter Joseph!.. Ja, was für ein Ehemann! Was für ein Vater, und – Susanne darf sagen – was für ein Vetter!

Musterhaft schon von jeher, hatte Joseph aus reinem Pflichtgefühl die Großtante manchmal in ihrer Dachkammer besucht und auf Susanne einen Eindruck gemacht, dessen Tiefe sie erst ermaß, als sie hörte: der Vetter heiratet ein schönes, sehr reiches Fräulein.

Sie erschrak tödlich über diese Nachricht und dann über ihr Erschrecken. Hatte sie denn auf ihn gehofft, den Hohen, Einzigen? – Niemals! Mit Seelenstärke überwand sie ihren unberechtigten Schmerz; sie begeisterte sich sogar für die Frau ihres Vetters und fuhr fort, ihn zu bewundern. Seine glänzende Heirat machte ihn nicht hochmütig, er blieb immer gleich huldvoll gegen die arme Susanne.

In ihren schwersten Tagen – nie wird sie es ihm vergessen –, wenn sie ihn auf der Straße traf und wegen ihres in der Auflösung begriffenen Fähnchens und ihres ärmlichen alten Umhängetuches vor Beschämung am liebsten zu einem Schatten auf dem Trottoir zerflossen wäre – hatte er sie nie verleugnet. Im Gegenteil, sie immer herablassend gegrüßt mit zwei Fingern der schwedisch behandschuhten Rechten, die er eigens zu diesem Behufe, sogar im Winter, aus der Tasche des kostbaren, ehrfurchtgebietenden Paletots gezogen; manchmal auch: „Gu'n Morgen, Sette,“ dazu gesagt …

„Gu'n Morgen, Sette!“ … Wie lange, wie süß hatte es immer in ihr nachgehallt und sie mit einem Klange umschmeichelt, für den sie nur eine richtige Bezeichnung fand – einem balsamischen Klange.

Jetzt, zu Geld und Gut gekommen, zeigte Susanne sich dankbar, indem sie jede Gelegenheit ergriff, ihrem Vetter oder einem der Seinen eine Aufmerksamkeit zu erweisen, und mit den Christgeschenken trieb sie es großmütiger von Jahr zu Jahr. Ihr Budget wurde dadurch sehr beschwert – aber ihre Seele bekam Flügel.

Und nicht genug …

Mit den Wonnen des heutigen Tages fand das Glück sich noch nicht ab. Es brachte Fortsetzung – einen unaussprechlich lieben Besuch. Morgen, Susanne darf darauf rechnen, nach der heiligen Messe, wird der Vetter weihrauchduftend erscheinen, in Begleitung seiner imponierend schönen Frau, seines lieben fünfzehnjährigen Sohnes und seiner kleinen Tochter. Sein mächtiges, glatt rasiertes Gesicht wird von dem Lichte würdevollen Wohlwollens erhellt sein, und er wird sagen: „Wirklich, Sette, zu viel, wir bitten …“

Die schöne Base jedoch wird ihm ins Wort fallen – spöttisch lachend, wie sie pflegt, wahrscheinlich weil es ihr so reizend steht: „Nein, wie die gute Susette nur jedesmal errät, was wir uns am meisten wünschen! Wie sie das nur anfängt, die gute Susette!“

Eine große Verwirrung wird sich des Fräuleins bemächtigen. Sollte die Kammerjungfer das geheime Einverständnis, in dem sie sich befinden, verraten haben? – Aber nein, das wäre zu schlecht, solche Schlechtigkeit kann nicht vorkommen in der Nähe dieser Menschen. Damit wird sie sich trösten; es werden noch einige Reden gewechselt werden, und dann wird Joseph aufstehen und sprechen: „Wir sind auch gekommen, um dir glückliche Feiertage und ein glückliches neues Jahr zu wünschen, Sette. Kinder, gratuliert der Tante!“

Die wohlerzogenen artigen Kinder werden sogleich die Absicht an den Tag legen, dem Fräulein die Hände zu küssen, was sie natürlich nicht zugeben wird. Und die schöne Cousine wird – abermals mit ihrem reizend spöttischen Lächeln, ihre Wange derjenigen Susannes bis auf einen Zentimeter nähern und dabei die Luft küssen … Und dann werden sie gehen, und Susanne wird sie bis an die Haustür begleiten, ins Zimmer zurückeilen, die Arme ausbreiten und rufen:

„Sie waren da! Sie waren da!“ und Rosi, die verdienstvolle Magd, wird ihre Zustimmung kundgeben. „No jo. Dos sind holt Herrschoften. Do hoben's Fräul'n auch amol an B'such von Herrschoften kriegt und nit immer nur von so Leut, die wos wolln. No joh!“

Ach, der Vorgenuß und der Nachgenuß, das sind die rechten. Der Augenblick selbst hat etwas Überwältigendes … Schon das gewisse Würgen im Halse, das sich einstellt, wenn um Zwölf die Glocke ertönt …

Hilf Gott! just als sie es denkt, da läutet's. Was bedeutet das? Wem kann es nur einfallen, daher zu kommen am Weihnachtsabend? Rosi erwartet allerdings ihre Schwestern, aber die klingeln nicht, die klopfen.

Etwas Unheimliches ist's zum Glücke nicht, das Fräulein hört ihre Dienerin auf dem Gange sehr heiter sprechen, und nun tritt die schmunzelnd ein und sagt:

„Eine Visit soll ich anmelden. Noh, Tonerl, is g'fällig?“

Es ist gefällig; der Angerufene, Toni Kunzel, erscheint. Mit ernster, geschäftsmäßiger Miene, den großen, lichtblonden Kopf vorgebeugt, geht er gradaus auf den Tisch zu und legt drei Pakete von verschiedener Größe darauf. Zu grüßen hat er vergessen vor lauter Wichtigkeit. Er wickelt das Mitgebrachte schweigend aus den vielen, nicht eben blanken Papieren, in die es eingehüllt ist, knüllt jedes extra zusammen und steckt es in die rückwärtige Tasche seines grünen Jäckchens, das zuletzt wegragt wie ein Pfauenschwanz.

Nach und nach sind zum Vorschein gekommen: eine vergoldete Nuß, ein roter Apfel und ein lebzeltener Husar, mit einem von kleinen Zähnen etwas angenagten Federbusch. Toni legt alles schön nebeneinander, ändert die Reihenfolge einige Male, bis sie ihm recht ist und der Husar zuerst und die Nuß zuletzt kommt. Dann fährt er mit dem Rücken der Hand an dieser Darbringung, sie gleichsam unterstreichend, vorbei und sagt:

„So, Fräul'n. Nimm Sie sich das. Weil heut Christabend is. Daß Sie auch was hat;“ und sieht sie dabei so kapabel und überlegen an, aus unsagbar ehrlichen und unschuldigen Augen, und wartet siegessicher auf die Äußerung des Beifalls, den seine Großmut erwecken muß.

„O du Toni!“ will Susanne ausrufen, aber mitten im Satze kippt ihre Stimme um; es schießt ihr heiß in die Augen, und ihr Näschen rötet sich. Sie nimmt den edlen Spender beim Kopf und drückt einen Kuß auf seinen Scheitel, und Toni, offenbar ungemein geschmeichelt und gerührt, packt ihre kleine Rechte und küßt sie auf das allerinnigste. Dann läßt er noch eine Anpreisung und Gebrauchsanweisung seiner Gaben folgen: „'s is alles gut. Alles vom Christkinderl. Sie kann alles essen, auch die Nuß. Aber schad wär's halt.“

 

Damit empfiehlt er sich.

Das Fräulein ist wieder allein. Süße, schöner denn je belebte Einsamkeit!.. „O du Toni!“ und! „Nein, das Kind!“ sagt sie unzählige Male. Da hat sie nun die erste Christbescherung erhalten in ihrem ganzen Leben, und das macht ihr einen Eindruck … sie wird ganz töricht, als sie sich Rechenschaft von ihm geben will … Es ist ein himmelblauer Eindruck, meint sie, und lacht und strickt dazu. Himmelblau mit goldenen Sternchen, und stellenweise, wo er durchsichtig wird, guckt ein wehmütig grauer Hintergrund heraus. Musik ist auch dabei, die Sternchen klingen. Ein wenig verrückt diese Idee … sei's darum! Nach einem außerordentlichen Ereignis hat man eben andre als Werkeltagsgedanken, und – was fährt Susannen nicht alles durch den Kopf! Viel angenehmer Unsinn, an den sie beileibe nicht glaubt, den sie sich aber doch vorspiegeln läßt von Dame Phantasie, weil die heute so gut bei Laune ist.

– Wenn ein Kind das Herzensbedürfnis empfand, dich zu beschenken, spricht die alte, ewig junge Faslerin, warum sollten nicht auch Erwachsene es empfinden? Warte nur, was heute noch alles kommt!

Susanne depreziert: Wer sollte mir etwas schenken? Der es tun könnte, der Vetter, ein Familienvater, hat andre Sorgen – und meine übrigen Bekannten sind arme Leute. –

Das macht nichts, auch die können geben. Die Blumenresel zum Beispiel, die gerade jetzt, dank deiner Verwendung, dreißig Jubiläumssträuße in der Singerstraße abzuliefern hat, könnte wohl im Vorübergehen eine schöne, frische Rose für dich abgeben. Sie brauchte sich deiner nur zu erinnern, wie der kleine Toni sich deiner erinnert hat … Und der Buchbinder Hasse in Lerchenfeld, für den du den Mietzins erlegtest, und der aus Abschnitzeln so allerliebste Notizbüchelchen macht. Ein Dutzend davon hast du ihm abgenommen und verschenkt bis auf eines, das du kindische alte Person gar zu gern selbst behalten hättest, das rehbraune mit dem vierblättrigen Klee – du überwandest diese Regung des Geizes, denn Rosi lechzte ja förmlich nach dem Büchlein, im Interesse ihres Liebhabers, ohne Zweifel. Wenn nun dem guten Hasse einfiele, was dem Kunzeltoni eingefallen ist, daß auch du am Christabend etwas haben sollst, wenn der Meister ein solches Büchlein brächte, oder schickte, durch die Post … Es wäre noch Zeit, eben schlägt's Sieben, da kommt der Briefträger ins Haus …

Kling! kling! o Tag der Wunder! wird die Schwätzerin recht behalten? – Es hat wieder geläutet: Rosi geht die Haustür öffnen und schreit so laut auf, daß man's deutlich bis ins Zimmer hört: „Jo wos denn? Na, so wos …“ Und schon wirbelt sie herein, und ihr auf dem Fuße folgt ein Kommissionär, dessen Gesicht feuerfarbig und dessen Gang schwankend ist, und trägt ein mit winzigen Kerzen bestecktes, mit dem feinsten Konfekt behangenes Christbäumchen.

Susanne starrt und starrt und bringt keine Silbe über die Lippen.

Um so beredter ist Rosi, die spricht ohne Aufhören: „Von der Freiung Nummer sechzehn is er geschickt, sogt er. No joh, vom Herrn Vetter, no i sog's holt – die Herrschoften … 's is lang nix kommen, ober wenn emol was kommt, kommt was Rechts. Do stellen's es her auf'n Tisch, 's Christbäumerl.“

Merkwürdigerweise zögert der Kommissionär, er sieht sowohl Rosi wie Susanne betroffen an, und sagt, er habe den Auftrag, das Präsent dem Fräulein persönlich zu übergeben. Die Versicherung Rosis, das Fräulein stehe vor ihm, will ihm nicht recht einleuchten. Fräulein Rainer mit einem A sei ihm gesagt worden.

„Reiner mit E,“ berichtigt Susanne, und er wiederholt:

„Mit E?“ und stellt das Bäumchen auf den Tisch, um in seiner Tasche nach dem Adreßzettel zu suchen, den ihm sein Auftraggeber eingehändigt hat. Rosis Geduld jedoch ist erschöpft. Sie nimmt den Mann bei den Schultern und schiebt ihn mit kräftigen Armen aus dem Zimmer. Der Angetrunkene sucht Widerstand zu leisten, es ist aber vergeblich. „Gib ihm einen Gulden!“ ruft Susanne ihrer Dienerin nach, und das kommt mit einem Jauchzen heraus, glückseliger als das der Kunzelkinder. Die Jugend ist die Zeit der Freude, sagen die Leute. Irrtum! Irrtum! alt muß man sein und eine Freude kaum mehr erwartet haben, um sie zu begrüßen, wenn sie kommt, wie Frühlingsodem an einem Wintertag.

Unwillkürlich hat Susanne vor dem Bäumchen die Hände gefaltet. Ich lasse einen Glassturz darüber machen, beschließt sie, an meinem Sterbebette soll es stehen. Mein letzter Blick soll darauf fallen und Gott danken, daß er seine Menschen so gut gegen mich sein ließ.

Wie Susanne das Bäumchen immer aufmerksamer betrachtet, entdeckt sie halb verborgen im Moose, das den zierlichen Stamm umgibt, ein Päckchen in schneeweißem Papier. Sie entfaltet es: sein Inhalt besteht in einem mit rosafarbigem Atlas überzogenen Etui. Auf dem Deckel ist ein Papierstreifen angesteckt, der eine in der mikroskopischen Schrift des Vetters ausgeführte Widmung trägt. Sie lautet:

 
Es zeigt Dir dieser Stein hier,
Was immer ist ohne Dir:
 
Dein Seppel.

Ohne „Dir“ und – „Seppel!“ O verehrter Joseph! – Nun, ein Scherz, aber, Susanne kann sich nicht helfen, er hat etwas Verletzendes für sie, und geradezu von Schwindel wird sie ergriffen, als sie das Etui öffnet und … Gott! was blinkt und blitzt ihr entgegen in allen Farben des Regenbogens? – ein wundervoll gefaßter Solitär …

Wahrlich, das übersteigt das Maß, innerhalb dessen eine freudige Überraschung noch angenehm ist; das geht in das Gebiet des beunruhigend Unbegreiflichen über.

Am liebsten würde Susanne die Widmung von dem Etui herabnehmen, dasselbe sorgfältig zusammenpacken und sogleich mit einigen dankend ablehnenden Zeilen an den Vetter zurückschicken. Doch fürchtet sie, ihn dadurch zu verletzen, und beschließt, die delikate Angelegenheit morgen mündlich abzumachen. Halb im Scherz, halb im Ernst wird sie den Vetter fragen, ob er sie für eine Person hält, die man ohne weiteres grausam beschämen darf? und den Solitär an das Herz legen, an dem er seine Heimstätte zu suchen und zu finden hat, das Herz der Gemahlin.

Susanne hat sich in Gedanken alles zurecht gelegt, aber schlafen wird sie heute kaum. Die Sorge um den wertvollen Schmuckgegenstand, den sie gegen ihren Willen in Verwahrung hat, wird ihr die Ruhe rauben. Noch ist sie unentschieden, in welchem ihrer Schränke sie ihn bergen soll, als derbe Schritte das Nahen Rosis anzeigen, und Susanne nichts übrig bleibt, als das Päckchen einstweilen wieder im Moose zu verstecken. Mit einem brennenden Wachsstock in der Hand tritt die Magd ein, ist sehr unwirsch und brummt: „Nit zum Wegbringen der Mensch. Betrunken wie a Kanon am heilgen Weihnachtsabend. Steht noch auf der Stieg'n und studiert sei schmierige Adreß. ‚Nummer fünf heißt's,‘ sogt er, Nummer drei heißt's, sog i, kennen's nit lesen?“

„Nummer fünf?“ fragt das Fräulein beunruhigt, „liebe Rosi, wenn es wirklich fünf hieße und nicht drei?“

Ihr Bedenken wird mit Überlegenheit belächelt, die ihr wohltut; dabei zündet die Magd Kerzlein um Kerzlein an. Das reich geputzte Bäumchen erstrahlt in magischem Glanze, und dieser Glanz dringt in alle Seelentiefen Susannens und leuchtet jeden Zweifel, jede leise auftauchende Sorge hinaus.

Sie ist völlig verzückt. Ihr gutes, kleines Mopsgesicht gewinnt einen Ausdruck rührend reiner Freude, und sie sagt glückselig bewegt: „Mein erster Christbaum, Rosi, mein erster Christbaum, Ro – “