Okertal-Atlantis

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Okay, meinetwegen. Aber dann schlagen wir uns für wenigstens zehn Minuten in die Nespresso-Boutique dort vorne, damit ich meinen Koffeinspiegel auf ein erträgliches Level kriege.«

Julia grinste, hakte sich bei ihm unter.

»Geht natürlich klar, du unverbesserlicher Koffein-Junkie. Es wird sowieso Zeit, dass du auf diesem Trip an was Interesse zeigst – und wenn es bloß ein stinknormaler Kaffeeladen ist.«

Während also Bernd, halbwegs glücklich, kurz darauf an seiner Espresso-Tasse nippte, verdichtete sich draußen die Menschenmasse weiter. Der Krach wurde schier ohrenbetäubend.

Schon röhrte ein gepanzertes Wasserwerfer-Fahrzeug vorbei und schwarz uniformierte Polizisten mit Schutzschilden rückten an. Er stürzte den Rest des Heißgetränks auf Ex hinunter.

»Komm, es wird allmählich Zeit. Schieß deine Fotos und dann nichts wie weg hier!«, kommandierte er ungeduldig.

Im Dauerlauf legte das Ehepaar Mader die letzten zweihundert Meter bis zum steinernen Siegesmonument zurück. Eine Horde Polizisten war gerade dabei, das edle Bauwerk mit Absperrgittern notdürftig vor dem heranstürmenden Vandalenheer zu schützen. Graffiti waren unerwünscht, gingen schwer zu entfernen.

Es gelang Julia gerade noch so, ihre heißbegehrten Handyfotos zu bekommen, bevor auch sie ausgesperrt wurde. Bernd trat derweil nervös von einem Fuß auf den anderen. Sein ungutes Gefühl in der Magengrube verstärkte sich sekündlich.

Und dann brach der helle Wahnsinn los. Ehe die Maders sich versahen, wurden sie von der skandierenden Menge mitgerissen. Man hatte offenbar zum Sturm auf den Triumphbogen geblasen. Julia, die fast gestürzt war, verlor zeitweise ihren Gatten aus den Augen. Plötzlich waberten Rauchwolken über den Platz. In einer der Zufahrtsstraßen brannten Barrikaden lichterloh. Sie beobachtete irritiert, wie eine Gruppe junger Kerle Pflastersteine aus dem Trottoir pulte, um sie in Richtung Polizei zu schmeißen.

Sie geriet auf einmal in blinde Panik, bekam Platzangst. Wieder war Bernd aus ihrem Blickfeld verschwunden, ausgerechnet jetzt. Wie aus dem Nichts traf sie zudem ein harter Wasserstrahl, was sie erneut straucheln ließ. Verzweifelt versuchte sie, sich auf die andere Seite des Platzes durchzuschlagen. Ihre Augen brannten wie Feuer und tränten. Vermutlich hatte irgendwer mit Pfefferspray hantiert.

Auf einmal stand sie unvermittelt frei, war nur noch unbeteiligte Beobachterin. Hier, am Rande des Geschehens, konnte sie erstmal durchatmen, die Augen mit einem Taschentuch abtupfen und blinzelnd Ausschau nach Bernd halten. Hoffentlich hatte ihn diese Stampede aus Anarchisten nicht totgetrampelt. Der Tränenfilm auf ihrer Netzhaut verhinderte eine klare Sicht. Alles lag wie im dichten Nebel vor ihr, sie erkannte keine Gesichter.

Julia hatte mit diffusen Angstzuständen zu kämpfen.

»Da bist du ja! Mensch, ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, rief Bernd und marschierte im Stechschritt auf sie zu. Er hielt die Plastiktüte mit der Bluse in der Hand, die sie sich vorhin erst gekauft hatte. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie sie im Getümmel hatte fallen lassen.

Julias Augen waren rot gerändert und tränten wie verrückt. Sie fühlte sich noch außerstande, ihm zu antworten.

»Lass mal sehen … oh, da hat wohl das Tränengas zugeschlagen. Dass du aber auch überall vorne dabei sein musst. Komm, wir gehen erstmal aus der Schusslinie und holen Mineralwasser, damit wir das ausspülen können. Und danach ab ins Hotel, für heute reicht es mir«, schlug Bernd vor. Er griff nach ihrer Hand.

»Okay«, erwiderte Julia kleinlaut und ließ sich bereitwillig von ihm wegzerren. Er wiederum achtete sorgsam darauf, sämtliche Brennpunkte weiträumig zu umgehen, lief mit ihr Zickzack, bis sie in einer Seitenstraße ein kleines Straßencafé erreichten.

Das Auswaschen der entzündeten Augen half nicht allzu viel, also suchten sie noch eine Apotheke auf und besorgten ihr beruhigende Spezialtropfen. Allmählich wurde es besser. Immer noch wirkte Julia jedoch ängstlich, fast wie ein verschrecktes Reh. So verletzlich kannte er seine selbstbewusste Frau überhaupt nicht. Die turbulenten Ereignisse der letzten Zeit hatten ihr robustes Nervenkostüm anscheinend stärker angegriffen als ihm bewusst gewesen war.

»Es ist vorüber, du musst dich nicht mehr aufregen. Du warst nur mitten in den miesesten Pulk geraten. Sowas kann im Unterbewusstsein Urängste erzeugen, und davon können wir Polizisten auch ein Lied singen. Die Enge, Rauch, Feuer, lautes Geschrei … das unüberschaubare Szenario erinnert einen in solchen Situationen an eine Art Kriegszustand – und das Unterbewusstsein reagiert entsprechend darauf.

Aber guck doch mal hin, Julia. Deine Einschätzung vorhin war durchaus richtig. Die meisten Leute wollen tatsächlich nur friedlich demonstrieren, von ein paar gewaltbereiten Hitzköpfen abgesehen«, wollte er sie besänftigen.

Sie verschränkte missmutig die Arme vor der Brust.

»Mir scheißegal, was die machen und wie sie das rechtfertigen. Ich will nur noch hier weg, und das so schnell wie möglich.«

»Okay … also los!«

Einige Querstraßen von der Avenue entfernt erwischten sie endlich ein freies Taxi. Sie hielten es an und ließen sich keuchend in den Fond sinken.

»Ich hätte nie gedacht, dass es in dieser angeblich kultivierten Weltstadt solche asozialen, ja kriminellen Elemente gibt. Was für eine unzivilisierte Horde von Barbaren. Dieses brutale Gerangel hatte mit einer Demonstration beim besten Willen nichts zu tun, mit demokratischer Meinungsäußerung schon gar nicht. Das waren einfach nur verkappte Hooligans«, schimpfte Julia, nachdem sie wieder halbwegs zu Atem gelangt war.

Bernd zog indigniert die linke Augenbraue hoch.

»Siehst du, nun bist du auch in der Realität angekommen. Von wegen ›Stadt der Liebe‹ … es gibt hier etliche Orte, an die man gar nicht erst gehen sollte, erst recht nicht nachts.

Der Park Bois de Boulogne verwandelt sich dann beispielsweise in einen einzigen illegalen Puff. Oder nimm zum Beispiel das berüchtigte Département Saint-Denis, durch das wir auf dem Weg vom Flughafen zur Innenstadt gefahren sind. Dieses heruntergekommene Viertel hat die höchste Kriminalitätsrate der Stadt.

Es gibt etliche U-Bahnstationen, die selbst tagsüber brandgefährlich sind – sowie natürlich das für alle Nicht-Muslime kaum zugängliche Einwandererquartier La Goutte d’Or, eine der übelsten No-go-Areas von Paris, wo rund um die Uhr sogar Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag bereitstehen. Die Zustände dort werden von den Politikern gerne totgeschwiegen.

In all diesen ›Banlieues‹ bekommen selbst die Polizisten Angst, wagen sich kaum hinein. Es gibt in der Stadt also nicht nur Licht, sondern auch sehr viele Schattenseiten und Subkulturen.

Die Gelbwestenproteste sind vergleichsweise harmlos, solange man nicht mittendrin landet. Aber du musstest ja unbedingt den verdammten Triumphbogen von allen Seiten anschauen, anstatt dort rechtzeitig zu verschwinden, wie ich es zu unserer Sicherheit angeregt hatte.«

In Julias grünen Augen stand blankes Unverständnis zu lesen. Sie sah ihren Gatten vorwurfsvoll, wenn nicht sogar ein bisschen zornig, von der Seite an.

»So, du hattest all das vorher schon gewusst. Und warum hast du diese Reise trotzdem für uns gebucht? In jedem Urlaub passiert einem was anderes, wenn man mit dir unterwegs ist.«

Bernd erwiderte vorsichtshalber nichts, war aber heilfroh, dass der Spuk in wenigen Tagen vorüber sein würde. Jetzt freute er sich geradezu auf die Rückkehr in sein Polizeirevier.

*

05. Dezember 2018, Revierkommissariat Wernigerode

Mit gemischten Gefühlen betrat Hauptkommissar Mader seine Dienststelle. Einerseits war er froh, Paris und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten hinter sich gelassen zu haben, doch andererseits fühlte er sich immer noch gestresst, war jetzt erst so richtig urlaubsreif. Der heftige Streit zwischen ihm und Julia am vergangenen Abend hatte ihm den Rest gegeben.

Eine strahlende Marit empfing ihn auf dem Flur, stellte sich ihm in den Weg. Sie schien ihm aufgelauert zu haben.

»Hey, da bist du ja wieder, Chef! Wir haben schon sehnsüchtig auf dich gewartet.« Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, ihn herzlich zu umarmen, seinen Körper an sich zu pressen.

Er blieb stehen, blickte skeptisch drein, stöhnte.

»Soso … dann gibt es also einen neuen Mordfall, oder?«

»Ja, das bedauerlicherweise auch. Aber ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Persönlich, so als Mensch, meine ich«, beharrte seine um elf Jahre jüngere Kollegin.

»Geht mir umgekehrt genauso, aber dazu erzähle ich dir später mehr. Ein neuer Mordfall … und ich dachte, der Harz sei eine ruhige, ereignislose Ecke in Deutschland. Dabei sterben hier die Leute anscheinend wie Fliegen.«

»In letzter Zeit haben wir in Sachsen-Anhalt tatsächlich keine sehr gute Statistik. Die Zahl der Gewaltdelikte ist in den letzten drei Jahren gestiegen, während die Wohnungseinbrüche allmählich wieder zurückgehen. Die allerletzten Stückchen ›heile Welt‹ verschwinden, nun ist das Verbrechen auch hier heimisch. Und ich kann deswegen meinen Weihnachtsurlaub knicken. Eigentlich hätte ich in die Sonne fliegen wollen.«

»Nimm‘s leicht, Marit. Die sogenannten Urlaubsfreuden werden ohnehin überbewertet, das kann ich dir aus jüngster Erfahrung verraten«, brummte Mader ironisch.

Ihre braunen Rehaugen versprühten Fragezeichen.

»War es denn nicht schön in Paris?«

»Jein, würde ich sagen. Die Stadt an sich ist ja ganz nett, aber ich war voll im Romantik-Stress. Julia war richtiggehend hyperaktiv, brachte mich mit all dem Sightseeing manchmal bis an die Grenzen meiner Geduld. Ich hasse lange Warteschlangen – und nicht nur die. Mir kann Paris gestohlen bleiben.

 

Unsere jeweiligen Traumvorstellungen von einer gelungenen Urlaubsreise gingen jedenfalls weit auseinander. Erholen konnte ich mich dabei kaum. Am Ende war dann auch sie unzufrieden, meinte, ich würde ihr mit meinem Starrsinn alles vermiesen und das Verbrechen wie ein Magnet anziehen. Ich erzähle dir später, wie sie darauf kam. Wie ist das eigentlich mit dir, warst du selber schon in Paris?«

»Nee. Und ich will da auch nie hin. Für Städtetrips habe ich wenig übrig und für Frankreich erst recht nicht. Die Sprache ist schrecklich. Ich gehe viel lieber wandern, mache Ausflüge oder möchte am Strand relaxen. Was nun ja dummerweise auch nicht passieren wird.«

Mader legte den Kopf schief, sah sie gespielt vorwurfsvoll an.

»Ah so. Na toll, Madame. Wieso hattest du mir dann zu dieser Reise geraten und behauptet, wenn Julia Paris nicht gefiele, wäre sie keine echte Frau? Bist du etwa keine?«

Marit zuckte mit den Achseln, grinste schelmisch.

»Jedenfalls kein typisches Weibchen. Ich bin Polizistin, da hat man grundsätzlich einen nüchternen Blick auf die Dinge.«

»Auch wieder wahr. Also gut, zurück zum Boden der mörderischen Tatsachen. Was haben wir diesmal?«

»Weibliche Leiche, Alter siebenundzwanzig, gefunden von der Nachbarin im Bett ihrer Mietwohnung. Todeszeitpunkt lag laut Gerichtsmediziner zwischen drei und vier Uhr morgens, genauer kann man es nicht bestimmen. Sie war beim Fund bis zum Hals zugedeckt gewesen. Das Bettzeug könnte also nach dem Tod ihre Körperwärme noch eine Weile gespeichert haben.

Ihre Hände und Füße waren mit stabilen Kabelbindern gefesselt und sie ist, höchstwahrscheinlich mit einem weiteren derselben Sorte, direkt am Fundort erdrosselt worden.

Die Todesursache steht bereits fest. Der Schlag auf den Kopf, der ihr vorher zugefügt wurde, war jedenfalls nicht tödlich.«

»Einbruchspuren?«

»Allerdings, die Wohnungstür ist mit einem Brecheisen aufgehebelt worden. Aber von ihren Nachbarn will keiner was mitbekommen haben. Teils arbeiten diese in Nachtschicht, waren zur Tatzeit nicht zu Hause, teils sind es ältere Leute, die womöglich schlecht hören. Wir müssen diese Leute natürlich nochmal vorladen. Zum Glück gibt es im Haus nur sechs Parteien.«

»Ergo deutet bislang nichts auf eine Beziehungstat hin. Familienmitglieder, Freunde und Bekannte hätten dort klingeln, beziehungsweise aufsperren können, um hineinzugelangen.«

»Richtig. Dasselbe hatte ich mir auch schon überlegt.«

»Ist sie vergewaltigt, ausgeraubt oder misshandelt worden?«

»Nichts von alledem. Es gibt keine Hautpartikel des Täters unter den Fingernägeln. Fremde Fingerabdrücke haben die Kollegen erstaunlicherweise auch nicht sichern können, lediglich ihre eigenen und die der Nachbarin. Offenbar hatte sie momentan keinen Freund. Im Bad stand lediglich eine einzelne Zahnbürste.

Der Täter oder die Täterin muss sie im Schlaf oder Halbschlaf überrascht haben; wobei die brachiale Kraft, mit der ihr die Kehle zugeschnürt wurde, eher auf einen Mann hindeutet, meint der Rainer Müller. Der Kabelbinder hat sich tief ins Fleisch gegraben.

Was das mutmaßliche Motiv für diesen brutalen Mord angeht, tappen wir noch vollkommen im Dunklen. Es existiert weder eine Lebensversicherung, die einen Begünstigten zur Tat verleitet haben könnte, noch wurde ihr Schmuck, Kreditkarten oder Bargeld entwendet. Davon gab es einiges in der Wohnung. Einen Raubmord kann man somit ausschließen.

Feinde soll sie keine gehabt haben. Diese Anne Gräbner wird durchwegs als nette, hilfsbereite junge Frau beschrieben, die jeder gut leiden mochte. Fragt sich bloß, wieso sie dann überhaupt umgebracht wurde. Vielleicht handelt es sich nur um ein Zufallsopfer und der Täter wurde gestört, ehe er seine eigentliche Absicht durchziehen konnte. Es gibt keine Hinweise darauf, was er in der Wohnung gewollt haben könnte.«

»Mist! Und was hatte die Nachbarin dort verloren?«

»Sie wollte Anne angeblich ein Postpaket vorbeibringen, das sie am Nachmittag vor dem Mord an ihrer Statt angenommen hatte. Um diese Uhrzeit war Anne noch auf ihrer Arbeitsstelle im Behindertenheim gewesen. Sie ist … äh, war dort als Ergotherapeutin angestellt.

Später hatte die Nachbarin selbst das Haus verlassen. Sie arbeitet bei einer Putzkolonne. Deshalb war sie erst am nächsten Tag hinübergegangen, um ihr das Paket zu bringen. Sie sah, dass die Wohnungstür einen Spalt offenstand, ging rufend hinein – und fand zu ihrem Entsetzen kurz darauf die Tote. Angela Pfeiffer hat sofort einen Notruf abgesetzt.«

»Der Täter hatte nicht mal die Tür hinter sich geschlossen? Also wollte er vermutlich erreichen, dass sein Opfer schnell gefunden wird«, sinnierte Mader.

»Oder es war ihm schlichtweg egal«, ergänzte Marit.

»Auch möglich. Schön, dann bring mir bitte die Akte – und ein schönes Käffchen. Ich werde mich grob vorinformieren und mir anschließend selbst ein Bild am Tatort machen.

Um zwei treffen wir uns im Besprechungsraum. Sag nachher allen Kollegen Bescheid, ebenso dem Wolters. Wir haben wieder mal die Ehre, unsere bewährte Soko wiederaufleben zu lassen«, verfügte der Hauptkommissar.

Marit rührte sich nicht von der Stelle, wirkte verlegen.

»Ähm … wie soll ich dir das am besten beibiegen … letzteres wird eher nicht passieren. Der Wolters hat sich bereits entsprechend geäußert. Er hält nichts davon, Ressourcen an einen einzigen Fall zu binden. Am besten sprichst du zuerst selbst mit ihm, bevor du den Vorschlag in versammelter Runde bringst.«

Auf Maders Stirn bildete sich eine markante Falte.

»Dann fängt der also auch schon mit Allüren an? Die müssen wir ihm schleunigst abgewöhnen, ansonsten haben wir bald einen zweiten Remmler im Büro hocken. Ich werde daher lieber nicht vorab mit ihm sprechen, dazu hätte ich auch keinerlei Veranlassung. Vielleicht wird die Besprechung nachher tatsächlich richtig peinlich, aber es fragt sich im Zweifelsfall, für wen. Danke jedenfalls für die Vorwarnung.«

»Okay, Bernd … du bist unser Boss und wirst bestimmt am besten wissen, wie man damit umgeht. Die Mordkommission ist Wolters‘ absolutes Steckenpferd, die polizeiliche Königsdisziplin, wie er es neulich nannte. Ich dachte es wäre besser, du wüsstest das, bevor du dich bei ihm in die Nesseln setzt.«

»Das ist mir bewusst, bitte verstehe mich nicht falsch. Aber es ist doch wahr, oder? Die Vernunft muss bei derartigen Meinungsverschiedenheiten siegen. Da kann es kaum schaden, wenn weitere Leute anwesend sind, die ihren Senf dazugeben. Er wird sich an uns anpassen müssen, nicht etwa umgekehrt. Schließlich können wir mit unserer Methode Erfolge vorweisen. Wir haben mithilfe einer Soko sowohl den Brockopathen als auch diesen mordlustigen Krimischreiberling erwischt, verflixt nochmal!«

Marit nickte achselzuckend und entfernte sich. Bernd würde schon noch mitkriegen, wie sehr sich der Neue zu seinem Nachteil verändert hatte.

*

Am frühen Nachmittag …

In Anne Gräbners verlassener Wohnung hing ein unangenehm muffiger Geruch. Zwar hatte es sich um einen unblutigen Mord gehandelt und die Tote war bereits nach wenigen Stunden gefunden worden, aber dennoch glaubte Mader, den charakteristischen Duft nach Tod und Verderben riechen zu können. Vielleicht war diese Wahrnehmung aber auch nur seiner Fantasie geschuldet, die er hier am Tatort zu bemühen hatte.

Sein geschulter Blick registrierte jede Kleinigkeit. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Szenario, fast wie ein Film, den er aus den bereits eruierten Einzelheiten zusammensetzte.

Er sah eine schwarz vermummte Gestalt die unversperrte Wohnungstür aufhebeln, sich hektisch im Treppenhaus nach eventuellen Zeugen umsehen, und vollends in die dunkle Wohnung huschen. Geduckt schlich der Eindringling durch die Diele.

Im Schlafzimmer zur Linken lag eine zugedeckte junge Frau, die ihren Oberkörper leicht von der Matratze anhob. Sie schien sich unsicher zu sein. Hatte sie nun ein merkwürdiges Geräusch an der Wohnungstür gehört oder nur geträumt?

In diesem Moment sprang der Täter die Frau an. Für sie schien er aus dem Nichts zu kommen. Der immer noch schlaftrunkenen Frau blieb keine Zeit zum Schreien. Sie strampelte und schlug so ziellos wie panisch um sich, während ihr der Täter mit einer Hand den Mund zuhielt.

Er zog ihr sein mitgebrachtes Brecheisen über den Schädel, verursachte damit eine stumpfe Verletzung am Vorderkopf. Sie war bewusstlos. Er fesselte ihr sicherheitshalber Hände und Füße und erwürgte sie danach mit einem Kabelbinder, sodass sie aus ihrer Ohnmacht nie mehr erwachen sollte. Dann deckte er sie zu und huschte auf leisen Sohlen davon. Sein Brecheisen nahm er wieder mit.

Die realitätsnahe Szenerie in Maders Gehirn fiel schlagartig in sich zusammen. Mehr Details kannte er noch nicht. Alles weitere wäre bloße Spekulation gewesen, er aber musste sich an Fakten halten. Rückschlüsse konnte man jedoch schon einige ziehen.

Wahrscheinlich trug er bei der Tat Handschuhe und hatte seine Unterarme mit einem Kleidungsstück bedeckt. Ansonsten hätte man unter Anne Gräbners Fingernägeln Hautpartikel gefunden. Eine Beziehungstat ist eher unwahrscheinlich. Das schätzen die Kollegen völlig richtig ein. Annes Gesicht wurde nämlich nicht mit Kissen oder Ähnlichem verhüllt, was andernfalls höchstwahrscheinlich der Fall gewesen wäre.

Man kennt das aus einschlägigen Fällen. Ein Mörder kann seinem Opfer nach der Tat normalerweise nicht ins Gesicht schauen, wenn er eine emotionale Verbindung zu ihm hat. Ob Liebe oder Hass ist dabei egal. Aber hier war das wohl nicht der Fall. Zumindest die Augen hat er ihr nach der Tat geschlossen, steht im Bericht des Rechtsmediziners.

Da dieser Mörder nichts gestohlen und scheinbar auch keine persönlichen Ressentiments gegen Anne gehabt zu haben scheint, muss es um etwas ganz anderes gegangen sein. Wir haben somit ein Mordmotiv, das nicht so leicht zu durchschauen geht.

Na, mal sehen … vielleicht ergeben sich Hinweise bei den Befragungen aus ihrem Umfeld. Schon seltsam, dass der Täter wirklich gar nichts am Tatort zurückgelassen hat. Kein einziges Haar, das einen DNS-Abgleich erlaubt hätte. Entweder trug er eine Mütze oder er ist Glatzkopf – oder er hat einfach Glück gehabt, sinnierte Mader.

Er zog seine Latex-Handschuhe über und stöberte noch eine Weile planlos in Anne Gräbners Schränken, aber ohne was Signifikantes zu finden. Auf dem Küchentisch stand noch das ungeöffnete Postpaket, das die Nachbarin gebracht hatte. Es stammte von einem Internet-Klamottenversand. Mader zog ab, schließlich musste er rechtzeitig zur Besprechung zurück im Revier sein.

Im Hinterkopf dachte er schon über einen passenden Namen für die Soko nach, die er wiedereinzurichten beabsichtigte. Ihm wollte jedoch nichts Treffliches einfallen und deswegen beschloss er, seine Kollegen nach Vorschlägen zu fragen.

Eine halbe Stunde später postierte er sich vor der großen Magnettafel, auf welche Marit bereits das grässliche Tatortfoto des Opfers gepinnt und die bislang bekannten Daten vermerkt hatte. Alles schien wie gewohnt abzulaufen.

Nahezu zeitgleich trudelten nun seine geschätzten Kollegen Marit Schmidbauer, Steffen Beckert, Fred Jablonski, Verena Kant und ebenso Revierleiter Thomas Wolters ein. In diesem Moment hätte Mader sich in seinem Element so richtig wohlfühlen können, wäre da nicht Marits nebulöse Ankündigung gewesen.

Sie hatte die Lage bedauerlicherweise zutreffend eingeschätzt. Nach dem ersten Briefing ging es um die Einrichtung der Soko – und Mader stieß sofort auf kategorischen Widerstand.

»Kommt keinesfalls infrage. Ich möchte nicht, dass fünf meiner besten Ermittler mit geistigen Scheuklappen durch die Gegend laufen, sich wochenlang nur auf einen einzigen Fall konzentrieren und dafür alles andere stehen und liegen lassen. Dafür sind wir wegen Sparmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte zu unterbesetzt. Nein, meine sehr verehrten Herrschaften, es ist heutzutage Multitasking angesagt.

Es ist ja nicht so, dass dies zurzeit unsere einzige Baustelle wäre. Zum Beispiel ist ein gewisser Rainer Klimroth heute in Deutschland eingetroffen, der ja ebenfalls in Ihre Zuständigkeit fällt, wie Sie sich sicher erinnern werden. Argentinien hat ihn bewundernswert zügig an Deutschland ausgeliefert. Er fährt gerade in die Justizvollzugsanstalt Halle ein, wo er in der Untersuchungshaft zeitnah befragt werden muss.

 

Schließlich ist unser Fall Feuersbrunst keineswegs abgeschlossen. Uns fehlen noch etliche Zusammenhänge, ohne die wir bei der Staatsanwaltschaft keine Chance auf eine Anklage bekämen. Die Beweislage ist viel zu dünn, weist eklatante Lücken auf. Das BKA ermittelt, wie Sie ebenfalls sehr genau wissen, nur in Richtung der internationalen Konzerne weiter, nicht jedoch in Bezug auf unsere lokalen Korruptionsgenies. Diese geldgierige Bande dürfen wir schon selber dingfest machen.

Klimroths Komplizin Michaela Thomeier konnten wir, abgesehen von der vorsätzlichen Brandstiftung an ihren eigenen Apartments selbstverständlich, nichts Gravierendes nachweisen. Entweder kennt sie das Verbindungsglied zwischen Megastroi, der Hotelkette Living Dreams und ihrem alten Freund Klimroth tatsächlich nicht – oder sie schweigt wie ein Grab. Mal sehen, vielleicht ist unser ehemaliger Baureferent gesprächiger.

Das ist aber immer noch nicht alles. Wir müssen vor Ort ein paar Befragungen für die Kripo Leipzig durchführen. Die Familie eines mutmaßlichen Serienvergewaltigers lebt drüben in Derenburg. Wir haben die Ehre, bei Vernehmungen und Hausdurchsuchungen behilflich zu sein.«

Sein Raubvogelblick fixierte jetzt explizit Mader.

»Tut mir leid. Sie werden sich ein bisschen umstellen müssen. Je weniger Sie sich dagegen sträuben, desto einfacher wird es.«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, wirkte immer noch leicht amüsiert. In diesem Moment hätte er sich nicht eingestehen können, dass Wolters‘ Argumente eingängig klangen.

»Ah ja, und wie stellen Sie sich das in der Praxis vor? Soll jeder von uns in Eigenregie irgendwas ermitteln, und zwar immer nur dann, wenn er glaubt, gerade Zeit zu haben?«, fragte er süffisant.

»Jetzt werden Sie bloß nicht albern! Ich weiß selber, dass die Chance, einen Täter zu erwischen, in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat am größten ist.

Selbstverständlich sollen Sie weiterhin als Team zusammenarbeiten, nur eben viel … flexibler. Mal mit weniger Leuten, mal mit zusätzlichen Beamten, je nach Bedarf und Notwendigkeit. Mader, ich muss mich blind darauf verlassen können, dass Sie diese Umstellung hinkriegen. Verstehen Sie das bitte, auch ich bin gewissen Zwängen unterworfen. Wir müssen einfach in der Lage sein, auf mehreren Hochzeiten zur selben Zeit zu tanzen.

Höchstens in Krimis wird gemütlich ein Fall nach dem anderen abgearbeitet. Die Harzer Schwerverbrecher halten sich bedauerlicherweise nicht an unseren Terminkalender.«

Damit erhob sich der Revierleiter von seinem Stuhl, empfahl sich höflich und verließ eiligen Schrittes den Besprechungsraum. Zurück blieb ein konsterniertes Häuflein Beamter.

»War das sein voller Ernst?«, überlegte Marit laut.

»Ich fürchte ja. Wir müssen uns unbedingt was einfallen lassen. Keine Soko … der hat doch ein Rad ab. Es gibt noch mehr Beamte in dieser Dienststelle, die er mit den ach so dringenden anderen Aufgaben betrauen könnte.

Da will zweifellos jemand das Rad neu erfinden, bloß um sich auf unsere Kosten mit einem individuellen Führungsstil profilieren zu können. So sieht das jedenfalls für mich aus. Vermutlich sind ihm die Vorschusslorbeeren anlässlich seines Dienstantritts zu Kopf gestiegen. In der Zeitung war die Rede von einem jungen, dynamischen Kriminalisten-Talent. Reine Schikane, was er da abzieht«, grummelte Mader angefressen.

Nun erhob sich auch er, löste den Rest der Versammlung auf. Das Gehörte wollte jetzt in der Abgeschiedenheit seines Büros erst einmal verarbeitet werden.

Nach dieser Besprechung setzte sich Thomas Wolters in seinen Chefsessel, starrte für ganze fünf Minuten die Wände an. Er war mit sich selbst uneins, ob sein Vorgehen tatsächlich das richtige gewesen war. Er hatte sich bei den Leuten der Mordkommission soeben keine Freunde gemacht, das war ihm voll bewusst.

Nie hätte er sich bei Übernahme des Postens träumen lassen, welch negative Begleiterscheinungen so eine Revierleiterstelle mit sich brachte.

Zumindest in diesem Punkt hatte sein Amtsvorgänger durchaus Recht behalten. Die Hauptverantwortung für die Sicherheit der Menschen aus dieser Stadt übernehmen zu müssen, drückte stärker als angenommen. Er schlief neuerdings sehr schlecht. Aber ob Remmlers ›wohlmeinende‹ Insider-Tipps zur Personalführung tatsächlich das Gelbe vom Ei waren, blieb noch dahingestellt. Sie schienen ihm ein wenig zu radikal zu sein.

Sie müssen sich in einigen wichtigen Punkten gegen den Willen Ihrer Leute durchsetzen, sich deutlich von allen Kolleginnen und Kollegen abheben und unpopuläre Entscheidungen treffen, auch wenn es schwerfällt. Vermeiden Sie das Duzen. Und vor allem: Seien Sie kein Wendehals, bleiben Sie bei Ihren ursprünglichen Ansichten, solange es irgendwie möglich ist. Sonst spielen die Mitarbeiter Katz und Maus mit Ihnen, versuchen wie Kinder, ihre Grenzen über Diskussionen und offenen Ungehorsam auszutesten.

Polizisten sind naturgemäß fast alle Alphamännchen und -weibchen, das bringt der Job mit sich. Schließlich ist da Durchsetzungsvermögen gefragt. Es würde niemand lange zögern, wenn es darum ginge, Ihnen das Zepter aus der Hand zu reißen. Und wenn das Kind in puncto Respekt erst einmal in den Brunnen gefallen wäre, dann hätten Sie zukünftig einen sehr schweren Stand bei denen. Führen und fordern lautet das Geheimrezept, hallten Remmlers Ermahnungen in seinen Ohren nach.

Und das waren während seiner mehrwöchigen Einarbeitungszeit beileibe nicht die einzigen dieser Art geblieben.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die Weisheiten auf Mader und Konsorten höchstens bedingt zutrafen. Doch wenn er sich nicht blamieren wollte, musste er dem steinigen Pfad zunächst folgen, den er überstürzt eingeschlagen hatte. Er nahm sich vor, künftig wenigstens ein klein wenig netter zu sein.

Das konnte schließlich nie schaden.

*

Zur selben Zeit in Hauptkommissar Maders Büro …

Viel Zeit zum Grübeln blieb dem Hauptkommissar indes nicht. Fred Jablonski klopfte am Türrahmen, wollte ohne ausdrückliche Einladung hereinhuschen.

»Bitte nicht jetzt, Freddie. Wir reden später drüber. Ich müsste das Ganze erst sacken lassen und mir was überlegen, okay?«

»Ähm … ich will gar keine Nachlese zur Besprechung betreiben. Ich habe vielmehr brisante Infos zu unserem neuen Fall, die womöglich das Tatmotiv ans Licht bringen könnten. Die interessieren dich doch?«

Mader sah skeptisch vom Schreibtisch hoch.

»Wie denn das so schnell? Setz dich hin, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Auch einen Kaffee?«

»Nee danke. Ich bin schon nervös genug. Jetzt im Nachhinein könnte ich mich ohrfeigen, weil ich nicht reagiert habe. Andernfalls könnte die Frau Gräbner womöglich noch leben. Ich wollte die verrückte Geschichte, die du dir gleich anhören wirst, vorhin lieber nicht vor versammelter Mannschaft auspacken. Der Wolters hätte mir sonst vielleicht einen Strick draus gedreht.«

Der hagere Deutschpole wirkte überaus angespannt, als er zu berichten begann. Dem Kollegen war deutlich anzumerken, dass ihn schwerste Schuldgefühle quälten. Offenbar trug er sie seit Tagen in sich, hatte bislang noch niemandem davon erzählt.

»Es müsste in der letzten Dienstwoche von Remmler gewesen sein, kurz vor dessen Ausstandfeier. Da kam der Kollege Kögel bei mir vorbei, hatte eine junge Dame im Schlepptau. Die wollte er mir mitsamt ihrer Story aufs Auge drücken. Sie hieß – und genau das ist mein Punkt – Anne Gräbner.«

Maders Augen weiteten sich.

»Und was wollte sie? War sie bedroht worden?«

»Keineswegs, sonst wäre ich auf diese Sache selbstverständlich angesprungen. Sie hielt ein altes, staubiges Tagebuch mit Textilüberzug fest umklammert. Es hatte angeblich ihrer Oma gehört, welche drei Monate zuvor verstorben war. Anne hatte ihr Haus geerbt und diese persönlichen Aufzeichnungen beim Entrümpeln in einer der Holztruhen gefunden. Und wie es halt so ist, interessierte sie sich brennend für das Tagebuch, nahm es als Bettlektüre mit nach Hause. Omas alte Familiengeheimnisse … hätte wohl jeder von uns so gemacht.«