Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht

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29. SEMINIS

Liebste Lotte,

ich weiß nicht, ob es Zufall oder geplant ist, aber ich habe seit unserer Begegnung im Kolloquium recht häufig Mr. Mornett getroffen.

Ich hatte nicht die Nervenstärke, ihn über die Dinge zu befragen, die Großmama gesagt hat – ich will ihn nicht vertreiben. Was auch immer Großmama von seiner Forschung hält, ich kann keine abfällige Bemerkung über seinen Verstand machen. Jedes Gespräch mit ihm ist faszinierend. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich jede Gehirnzelle einsetzen muss, die ich besitze, nur um ihm zu folgen, und danach würde ich schwören, dass mein Schädel mit neuen vollgepackt ist, wie ein Muskel, der durch Benutzung wächst. Bei uns gibt es keinen dummen Klatsch über die Gesellschaft oder müßiges Geplauder über das Wetter. Es geht nur um antike Texte, Archäologie, Geschichte, die Dinge, die uns beide interessieren.

Und er hasst Drakoneer nicht, was auch immer Großmama behauptet. Er hat nie welche getroffen, aber er hörte ganz höflich zu, als ich ihm von Kudshayn und den anderen erzählte, die ich kenne. Vielleicht kann ich, nachdem die Saison beendet ist, Arrangements treffen, dass er nach Yelang oder Vidwatha reist und einige kennenlernt […]

12. FLORIS

[…] Ganz ehrlich, Aaron bringt reichlich gute Argumente vor. Kudshayns Gesundheitszustand ist schlecht, weil seine Mutter ihre Nachkommen in eine unpassende Umwelt brachte. Sollten wir sie nicht drängen, dort zu bleiben, wo sie sicher sind, statt sie solche Risiken eingehen zu lassen? Die Drakoneer leben schon seit Ewigkeiten im Refugium und sind an jenes Klima sehr gut angepasst. Es wird Generationen dauern, bis sich einer von ihnen erhoffen kann, sich in Südanthiopien wohlzufühlen. Und das bedeutet Generationen an gescheiterten Gelegen und schädlichen Mutationen.

Alles, damit sie auf Land »zurückkehren« können, das sie seit Jahrtausenden nicht gesehen haben. Land, das bereits besiedelt ist! Wir können jene Leute keinesfalls vertreiben, und Aaron sagt, es ist unvernünftig zu erwarten, dass Menschen wieder Seite an Seite mit ihnen leben, wenn man bedenkt, was in der Vergangenheit passiert ist. Also ist die einzige Möglichkeit, wie sie es einnehmen könnten, durch Eroberung. Wieder tote Drakoneer, wieder tote Menschen, wieder böses Blut über den Schichten, die von vor Jahrtausenden übrig sind. Wozu? Wenn sie in Dajin ein perfekt geeignetes Bergtal haben, wo sie leben können?

Aber ich kann nichts davon zu Großmama sagen. Sie würde nur glauben, dass er mich verdirbt oder so etwas. Heute Nachmittag habe ich endlich aus ihr herausbekommen, warum sie denkt, dass er ein so schlechter Wissenschaftler ist. Sie behauptet, sein Werk über Gewichte und Maße sei ein Plagiat! Aber sie hat nicht mehr als zehn Worte mit ihm gewechselt, und ich schon. Ein Verstand, der so brillant ist wie seiner, muss niemand anderem die Ideen klauen.

21. FLORIS

Liebe Lotte,

Sieg!

Es hat fürchterlich viele Diskussionen gebraucht, aber Großmama hat eingelenkt, dass ich Aaron sehen darf, dass sie keine Beweise für ihre Anschuldigungen hat und dass sie ungerecht ist, wenn sie mir erklärt, dass ich mich nicht mit ihm abgeben sollte. Na ja, sie hat es nicht in diese Worte gefasst, aber ich weiß, dass es das ist, was sie wirklich gemeint hat. Und obwohl es wahr ist, dass er gewisse Sympathien für calderitische Ansichten hegt, habe ich ihn nie ein schlechtes Wort gegen Drakoneer als Individuen sagen hören.

Um das zu feiern, habe ich ihm erzählt, dass er eines der dämlichen Dinge tun kann, die Leute in unserem Alter während der Saison tun, nämlich mich in einer kleinen offenen Kutsche im Arnessy-Park herumzufahren. Aber ich bin sicher, dass die meisten jungen Leute, die das tun, nicht über Philologie diskutieren, während sie fahren. Ich habe die Geschichten gehört, wie Großmama mit Großpapa zusammengekommen ist. Wir Camherst-Frauen mögen Männer, die derartige Dinge für romantisch halten. (Na ja, ich zumindest. Ich weiß sehr gut, dass mein Geschmack nicht deinem entspricht.)

Tatsächlich – sag niemandem, dass ich dir das verraten habe, aber ich denke, ich werde meine Theorie vielleicht mit Aaron teilen. Erinnerst du dich, die, bei der ich Mama gebeten habe, mir bei den Berechnungen zu helfen? Es wird das erste Mal sein, dass ich sie vor irgendjemandem außerhalb der Familie erwähne … aber ich habe darüber nachgedacht, dass ich vielleicht sogar versuchen könnte, sie beim Drakoneischen Philologischen Überblick einzureichen. Aaron kann mir sagen, ob die Idee gut genug ist. Ich vertraue auf sein Urteilsvermögen […]

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst


18. Graminis

Dieser gottverdammte

Ich kann nicht glauben

Herzloser, manipulativer BASTARD!!!!

Von: Audrey Camherst

An: Charlotte Camherst

30. Graminis

Clarton-Platz 3, Falchester

Liebe Lotte,

da geht meine letzte Hoffnung hin.

Großpapa hat mich heute zu einem Treffen mit dem Herausgeber des Drakoneischen Philologischen Überblicks mitgenommen. Ich wusste, dass es ein verzweifelter, letzter Versuch war, aber trotzdem hatte ich Hoffnung …

Ach, es bringt nichts. Sie wollen keine Richtigstellung drucken, weil ich keine Beweise liefern kann, dass ich diejenige bin, die berechnet hat, dass der antike drakoneische Kalender um das ekliptische Jahr aufgebaut war. Egal, dass meine Mutter eine Astronomin ist. Egal, dass er kein ausreichend guter Mathematiker ist, um eine Integration zu berechnen, ganz zu schweigen davon, dieses Problem zu enträtseln. Egal, dass ich sogar das Notizbuch habe, in dem ich alles herausgearbeitet habe. Es ist kein Datum bei irgendwelchen meiner Notizen, und selbst wenn dort eins wäre, hätte ich es später hinzufügen können, oder nicht? Vielleicht sogar, nachdem Mr. Mornett mir von seiner Theorie erzählt hätte. Immerhin muss ich, wo meine Großmutter und mein Großvater so illuster sind, natürlich Druck spüren, mich in der Öffentlichkeit selbst als Wissenschaftlerin zu etablieren.

Höhnisches Monster. Ich wusste, dass der Herausgeber Großpapa nicht mag, aber ich habe alles andere versucht. Es gibt einfach keine Möglichkeit zu beweisen, dass Aaron Mr. Mornett dieser verlogene Bastard meine Idee gestohlen hat, nicht andersherum. Die Leute, die ihm misstrauen, glauben mir. Der Rest zuckt mit den Schultern. Immerhin ist er ein Mitglied des Philosophenkolloquiums! Und ich bin nur ein Kind. Ein weibliches, halberiganisches Kind, das nach Strohhalmen greift, weil jeder in meiner Familie berühmt ist, und was habe ich getan, um mich auszuzeichnen? Wenige kleinere Artikel in einigen obskuren Zeitschriften veröffentlicht? Kein Wunder, dass ich versuche, die Lorbeeren hierfür einzuheimsen.

Er hat gestern sogar versucht, mit mir zu reden, wenn du das glauben kannst. Ich weiß nicht, was er dachte, dass passieren würde – dass ich irgendwie nicht bemerken würde, was er getan hatte? Oder ihm verzeihen? Er verdiente viel Schlimmeres, als dass ich ihn ohrfeigte. Nur dass es so öffentlich war und ich jetzt blamiert bin – nicht von der amüsanten Sorte; von der bemitleidenswerten Sorte – und er für immer als derjenige in Erinnerung bleibt, der so clever die Länge eines drakoneischen Jahres berechnet hat. Während ich diejenige sein werde, die deshalb Zicken gemacht hat.

Ich werde Großmama fragen, ob ich Falchester verlassen kann. Es ist mir egal, dass die Saison nicht vorbei ist. Es gibt hier nichts mehr für mich außer Beschämung.

Audrey

HEUTE

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst


11. Ventis

Heute Morgen bin ich aufgewacht und dachte halb, ich hätte mir Mornetts Stimme letzte Nacht eingebildet. Mein Kopf fühlt sich an, als sei er doppelt so groß, wie er sein sollte. Vielleicht hat die Schwellung auf mein Gehirn gedrückt und mich das alles halluzinieren lassen.

Also gut, das habe ich nicht wirklich geglaubt. Aber ein Teil von mir wollte es, also ging ich zum Frühstück hinunter, als sei nichts passiert – als würde es, wenn ich so täte, als sei nichts passiert, wahr werden.

Ich fand Kudshayn verloren wirkend im vorderen Korridor. Gewöhnlich hätte ihn einer der Bediensteten in den Frühstücksraum geführt, aber das Haus war seltsam verlassen. Ich glaube, sie versteckten sich alle vor dem furchteinflößenden Drachenmenschen. Und Kudshayn war noch nie in Scirland, deshalb hat er keine Ahnung, wie unsere Landhäuser aufgebaut sind.

Er wirkte sowohl erleichtert als auch entsetzt, als er mich sah. »Dein Gesicht«, sagte er und streckte eine Klaue aus, berührte mich aber nicht. »Es tut mir so leid. Das ist wegen mir passiert.«

»Blödsinn«, sagte ich – oder versuchte es. Er hatte Drakoneisch gesprochen, also antwortete ich ihm instinktiv in derselben Sprache, aber drakoneische nasale Vokale funktionieren nicht sehr gut, wenn einem die Nase zugeschwollen ist. Ich wechselte ins Scirländische und sagte: »Es ist wegen dummer Fanatiker passiert, und es ist kein dauerhafter Schaden entstanden. Es tut mir nur leid, dass du hier ein so schreckliches erstes Erlebnis hattest. Komm zum Frühstück, und wir werden sehen, ob wir es verbessern können.«

 

Er und ich frühstückten allein, weil sich herausstellte, dass Lord Gleinleigh in einer Geschäftsangelegenheit sehr früh fortgegangen war. Ich kann nicht sagen, dass es mich störte. Und ich habe Kudshayn nicht mehr gesehen, seit … oh, Himmel, es muss über zwei Jahre her sein. Dieses Symposium in Va Hing, wo er solche Atemprobleme hatte, also ist es nicht so, als hätten wir damals viel Gelegenheit zum Reden gehabt.

Natürlich konnte ich nur Haferbrei essen, weil sich mein Gesicht so anfühlte, wie es das eben tat, aber die Haushälterin hatte eine volle Auswahl aufgetischt. Kudshayn betrachtete seinen Toast mit demselben Gesichtsausdruck, den er jedem unvertrauten Ding zuwendet: unbeteiligt und geduldig, als würde er jede seiner Eigenschaften beobachten, ehe er die Entscheidung traf, ihn zu essen. »Ich kann um alles bitten, was du willst«, erklärte ich ihm. »Die Haushälterin war mit ihrem Wissen am Ende und hat gesagt, dass sie nicht weiß, was sie einem Drakoneer servieren soll. Ich habe ihr erzählt, dass du beinahe alles essen kannst, was Menschen essen, und dass die Ausnahmen wahrscheinlich ohnehin nicht auf ihren Tisch kommen, aber sie schien mir nicht zu glauben. Ich denke, sie wäre vielleicht froh, eine kleine Anweisung von dir zu bekommen.« (Solange sie über mich kommt, nehme ich an. Es wird eine Weile dauern, bis sich die Bediensteten hier an seine Anwesenheit gewöhnen.)

Kudshayn nahm einen experimentellen Bissen Toast, erst trocken, dann mit Butter, dann mit Marmelade, dann mit Butter und Marmelade zusammen. »Das geht schon«, sagte er. »Es ist mit Butter und Früchten am besten.«

Ich musste grinsen, obwohl es mein Gesicht schmerzen ließ. Ich denke, die Sonne wird ins Meer fallen, ehe Kudshayn sich ändert. »Ja, das ist es, und je mehr, desto besser. Aber vielleicht können wir Mrs. Hilleck nur ein bisschen schockieren und ihr erzählen, dass du rohes Steak oder eine Tafel ungesüßte Schokolade zum Frühstück willst.« Ich bin nicht so grausam, ihr zu erzählen, dass er Tofu oder irgendetwas anderes liebt, das sie auf dem Markt in Lower Stoke nicht leicht bekommen kann.

»Ich werde das in Betracht ziehen«, sagte Kudshayn. Was völlig wahr war, da bin ich sicher – genauso, wie ich sicher bin, dass seine Antwort, nachdem er es in Betracht gezogen hat, dieselbe sein wird. Wie kann ich nur von ihm erwarten, sich dafür zu interessieren, die Haushälterin zu schockieren, wenn es Tafeln zu übersetzen gibt?

Nun gut. Es hat keinen Sinn, gegen die Gezeiten anzukämpfen. »Wenn wir hier fertig sind«, sagte ich, »werde ich dir zeigen, was ich bisher geschafft habe. Du kannst mich aus dem Sumpf ziehen, in dem ich feststecke.«

Seine Nasenlöcher flatterten fragend. Ich seufzte und zwirbelte meinen Löffel in meinem Haferbrei. »Die zweite Tafel. Ich denke, ich kenne die allgemeine Bedeutung davon. Auf gewisse Weise ähnelt sie sehr unseren Heiligen Schriften. Wie die ersten paar Drakoneer Partner wählten und Gelege legten und weiter über die Generationen, wie so-und-so den-und-den zeugt – aber sie versucht auch zu erklären, wie bestimmte Stammlinien begründet wurden, denke ich, und sie bezieht sich immer wieder auf verschiedene Orte, wenn sie umherziehen, was, wie ich mir sicher bin, alles für deine Anevrai-Vormütter sehr bedeutsam war. Aber es gibt so viele Eigennamen – zumindest nehme ich an, dass es Eigennamen sind –, und ich glaube, einige von ihnen beziehen sich auf dieselben Personen oder Orte, aber es ist schwierig, sicherzugehen.«

Kudshayn mampfte sich durch eine weitere Toastscheibe und dachte nach. Dann fragte er: »Kannst du irgendwelche von den Orten identifizieren?«

»Keiner der Namen klingt vertraut. Ich kann nicht einmal etymologische Verbindungen von ihnen zu modernen Namen ziehen – na ja, ich kann es, aber die bestehen alle aus Schall und Rauch. Es gibt jedoch Beschreibungen, und ein Geograf könnte diese vielleicht mit bekannten Orten in Zusammenhang setzen.« Während ich den Speck in meinen Mund stopfte, fügte ich an: »Andererseits, vielleicht ist alles erfunden. Es klingt für mich nicht sehr nach Südanthiopien – nicht einmal das Klima, das es früher hatte.« Es verblüfft mich, dass Großpapas Heimatland früher dichte Zedernwälder und so weiter hatte, aber er schwört mir, dass es wahr ist.

Es ist so seltsam, wenn man bedenkt, dass das, was wir gerade hier tun, nächsten Winter wegen des Falchester-Kongresses vielleicht politische Folgen haben könnte. Eine antike Genealogie ist der Stoff, aus dem Langeweile gemacht ist … außer jene Genealogie bezieht sich auf Personen, die in einer Umwelt leben, die mehr nach dem zentralen als dem südlichen Anthiopien klingt, obwohl alle immer schon glauben, dass Südanthiopien das antike Heimatland der Anevrai war.

Was, wenn dieser Text etwas anderes behauptet?

Es sollte egal sein. Das hier ist eine antike Geschichte, ein Mythos, keine nüchternen, historischen Fakten. Nichts davon ist wirklich passiert, nicht so, wie es beschrieben wird. Aber es könnten darin Körnchen an Wahrheit vergraben sein, und selbst wenn sie das nicht sind, werden die Leute sie ohnehin so lesen. Würde das bedeuten, dass alle anfangen, darüber zu diskutieren, ob man Drakoneern erlauben sollte, sich wieder in Vystrana und Tashal statt in Akhien und Haggad anzusiedeln? (Sie würden das Klima dort deutlich angenehmer finden.) Oder wird es nur ein weiterer Hebel werden, um zu sagen, dass sie im Refugium und unter menschlicher Kontrolle bleiben sollten?

Entweder dachte Kudshayn nicht dieselben Dinge, oder er beschloss, sie nicht zu teilen. Er sagte nur: »Ich würde gerne sehen, was du bisher hast. Es war etwas frustrierend für mich, dass Lord Gleinleigh dir nicht erlaubt hat, mir irgendetwas im Vorhinein zu schicken.«

Und es war Kudshayn, der das gerade sagte. Sein »etwas frustrierend« ist für jeden anderen »zum Haareraufen«. Ich denke, all der Gleichmut, den ich nicht besitze, wurde ihm im Ei zugewiesen, sodass keiner mehr für mich übrig blieb.

Ich sagte: »Natürlich. Ich warte nur darauf, bis du mit dem Frühstück fertig bist.«

Was ich nicht als Aufforderung meinte, doch natürlich nahm er es als solche auf und schluckte den Rest seines Toasts mit einem Happen hinunter. Dann wischte er sich sehr sorgfältig die Hände ab und folgte mir zur Bibliothek.

Ich sollte wirklich die Tafeln wegräumen, die ich fertig transkribiert habe. Ich fürchte ständig, dass die Hausmädchen eine davon versehentlich auf den Boden fallen lassen, obwohl es ein spektakulär ungeschicktes Hausmädchen sein müsste, damit das passiert. Oder Hadamisten könnten vielleicht einbrechen – ich hatte zuvor nicht daran gedacht, aber nach dem, was auf dem Flughafen passiert ist, fange ich an zu glauben, dass wir mehr Vorsichtsmaßnahmen treffen sollten. Heute jedoch war ich froh, dass sie alle ausgelegt waren, weil ich wollte, dass Kudshayn sie in all ihrer Pracht sah.

Er ist allerdings höflicher als ich. Als wir hineinkamen, war Cora dort, und statt sie zu ignorieren, um sich sabbernd über die Tafeln zu lehnen (nicht buchstäblich; keiner von uns würde riskieren, Speichel auf sie zu bekommen), verbeugte Kudshayn sich. Er ist sehr gut darin, menschliche Gesten zu nutzen, auch wenn seine Verbeugung eher yelangesisch als scirländisch aussah, und seine Schwingen stießen nicht einmal gegen irgendetwas, als er sie machte. Auf Scirländisch sagte er: »Sie müssen Miss Fitzarthur sein.«

»Sie sind Kudshayn«, sagte sie. »Waren Sie derjenige, der letzte Nacht mit Onkel gestritten hat?«

»Wie bitte?«

»Nein«, beschloss sie. »Ihre Stimme ist zu tief, und Sie haben einen Akzent, auch wenn er nicht sehr stark ist. Ich frage mich, wer hier war?«

Die Schwellung reichte nicht, um meine Miene zu verbergen, als Kudshayn mich ansah und eine Erklärung wollte. »Audrey?«

»Hast du gehört, worüber sie gestritten haben?«, fragte ich Cora.

Ich war zu aufdringlich. Sie zuckte zurück. »Nein«, sagte sie. »Ich habe nur das Ende davon gehört. Er erklärte wem auch immer es war, dass er ihn hier nicht mehr sehen wollte – dass Onkel den Besucher hier nicht wiedersehen wollte, meine ich. Ich fand es seltsam, dass er einen geladenen Gast gleich am ersten Abend hinauswerfen wollte, aber jetzt ergibt es mehr Sinn.« Dann hielt sie inne und überdachte es. »Außer dass es das nicht wirklich tut, weil ich immer noch nicht weiß, wer hier war.«

Kudshayn sah weiterhin mich an. »Audrey?«

Ich drückte eine Hand an meine Schläfe, als würde dies das Pochen aufhören lassen. »Ich habe sie auch gehört, aber nicht, was sie gesagt haben. Der Besucher – es war Aaron Mornett.«

Ich glaube nicht, dass ich Kudshayn je so wütend wirken gesehen habe. Er breitete nicht seine Flügel aus oder irgendetwas, aber die plötzliche Anspannung in seinem Körper ließ mich verstehen, warum die Leute solche Panik vor Drakoneern haben können. In jenen Augenblicken ist es leicht, sich zu erinnern, dass sie enger mit Drachen verwandt sind als mit uns … und Drachen sind Raubtiere.

Was natürlich nicht bedeutet, dass die Drakoneer welche sind, und Kudshayn ist weit davon entfernt, ein Krieger zu sein. Aber ich hätte es Cora nicht verdenken können, wenn sie gekreischt hätte und weggerannt wäre. So reagieren die meisten Leute, und sie war nie zuvor einem Drakoneer begegnet. Stattdessen runzelte sie nur die Stirn und fragte: »Wer ist Aaron Mornett?«

Es ist eine sehr gute Sache, dass sie nur wenig von der antiken und nichts von der modernen Sprache kennt, denn Kudshayns Antwort war dreckig genug, um ihr vor Schreck die Schuppen abfallen zu lassen. Ich sagte: »Er ist mein Erzfeind. Und ich denke, er war hier, weil dein Onkel versucht hat, ihn zu rekrutieren, oder weil Mornett dachte, er hätte eine Chance, an den Tafeln zu arbeiten, oder … oder irgendetwas. Was auch immer er hier getan hat, es kann nicht gut sein.«

Cora war immer noch verwirrt. »Was meinst du damit, dass er dein Erzfeind ist? Was stimmt mit ihm nicht?«

»Er ist kein ehrbarer Wissenschaftler«, sagte ich. Ach, wäre ich nur vernünftig genug gewesen, auf Großmama zu hören, als ich achtzehn war. Ich kann nicht glauben, dass ich je auf seine Lügen hereingefallen bin – außer dass ich es kann, weil Aaron Mornett die Gezeiten dazu überreden könnte, die Richtung zu wechseln. Ganz zu schweigen davon, dass ich jung und dumm war und glaubte, dass ich einen Seelenverwandten gefunden hätte.

Kudshayns Kragen war immer noch vor Zorn aufgestellt. Aber er hat viel Übung darin, in Gesellschaft von Menschen ruhig zu bleiben, also war seine Stimme, als er sprach, völlig sanft. »Was willst du tun?«

Wie konnte ich das beantworten? Es bringt nichts zu sagen, dass ich ihn so verletzen will, wie er mich verletzt hat. Es besteht keine Chance, dass ich das je schaffe, weil er sich nicht im Geringsten um mich schert und das auch nie getan hat. Sein Ruf ist nicht der, der er einmal war, und ich kann zumindest etwas Anteil daran beanspruchen, aber selbst wenn Lord Gleinleigh daheim wäre, könnte ich wohl kaum in sein Studierzimmer stürmen und den Mann aufgrund eines späten nächtlichen Streits, den ich kaum gehört habe, verunglimpfen.

Ich sagte: »Ich will wissen, was er hier gemacht hat.«

Cora sagte nachdenklich: »Er ist nicht über Nacht im Haus geblieben, weil ich gehört habe, wie Onkel ihn hinausgeworfen hat. Also muss er, wenn er nicht hergefahren und dann über Nacht wieder weggefahren ist, in Lower Stoke übernachtet haben. Das ergibt tatsächlich Sinn. Der Nachtzug von Falchester nach Locheala hält dort um elf Uhr einundzwanzig, was ihm gerade genug Zeit lassen würde, um vom Bahnhof hierherzulaufen, ein Gespräch mit Onkel zu führen und kurz nach Mitternacht belauscht zu werden. Aber es gibt bis acht Uhr vierzehn keinen Zug zurück nach Falchester. Also könnte er mittlerweile wohl fort sein, aber er hätte für den Rest der Nacht irgendwo bleiben müssen, außer er hat die ganze Zeit auf einer Bank vor dem Bahnhof gesessen. Ich kann herumfragen.«

Ihre vernünftige Aufzählung von Fakten brachte mich wieder auf den Boden, besonders weil sie die verdächtig späte Stunde erklärte. »Würdest du das? Es wird mir nicht beantworten, was er hier wollte, aber es würde helfen, irgendetwas zu erfahren.«

»Natürlich«, sagte sie. »Aber warum fragst du nicht einfach Onkel, wenn er zurückkommt?«

Ich seufzte. »Weil das bedeuten würde, zuzugeben, dass ich sie letzte Nacht belauscht habe. Ich werde es in Betracht ziehen, ich will nur … du verstehst.«

 

Cora wirkte, als würde sie es überhaupt nicht verstehen, aber sie ging hinaus und ließ mich mit Kudshayn allein.

Er kam und legte seine Flügel um mich, und ich schlang meine Arme um seine Taille. Das ist nicht so gut, wie eine Flügelumarmung zu erwidern, aber es war das Beste, was ich tun konnte. »Ich muss wegen ihm etwas unternehmen«, sagte ich an Kudshayns Rippen – es ist unpraktisch, dass er so viel größer ist als ich. »Ich kann nicht so bleiben, mich vor ihm verstecken, vor Schatten erschrecken. Seit fünf Jahren fahre ich zur See und meide Orte, an denen ich sein will, weil ich weiß, dass ich ihn dort vielleicht treffe.«

Kudshayns Schwingen schlossen sich etwas enger um mich und umfingen mich in einer warmen, tröstlichen Höhle. »Sei du selbst«, sagte er. »Übersetze das Epos. Gewinne Ruhm, den er nicht ankratzen kann. Und dann wird dir eines Tages bewusst werden, dass er unwichtig für dich und für alle anderen ist. Das wird die beste Rache sein.«

Er hat recht … aber es ist so abstrakt, ganz zu schweigen davon, dass es so weit in der Zukunft ist, dass es schwierig ist, mich mit solchen Gedanken zu beruhigen.

Jedenfalls kam Cora gegen Mittag zurück und erzählte, dass er im Bahnhofshotel über Nacht geblieben und mit dem 8:14-Zug weggefahren sei, was eine überraschend große frühmorgendliche Aktivität für ihn zeigte. Zumindest weiß ich, dass er weg ist, was bedeutet, dass ich leichter atmen kann.

Aber Kudshayn grub zwei tiefe Risse in den Teppich in der Bibliothek, als ich ihm erklärte, dass Mornett da gewesen war, und wenn ich Klauen hätte, hätte ich vielleicht dasselbe getan. Ich traue diesem Mann nicht weiter, als ich ihn werfen kann, und es gefällt mir nicht, dass ich nicht weiß, was er vorhat. Vor fünf Jahren hielt ich eine Viper an meiner Brust. Ihn irgendwo zu haben, wo ich ihn nicht sehen kann, ist nicht viel besser.

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