Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht

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Ich gab es mit dem Stationsleiter auf und ging nachsehen. Draußen machten sich die Polizisten mit ihren Schlagstöcken ans Werk, ohne sich sehr darum zu kümmern, wer dieses ganze Chaos angefangen hatte. Ich war plötzlich sehr froh, dass ich im Gebäude war, weil ich für einen Tag wirklich genug Prügel abbekommen hatte. (Obwohl ich betete, dass niemand von der Freundschaftsgesellschaft verletzt würde. Und vielleicht habe ich mir den Hals ein bisschen verrenkt, um zu sehen, ob ich irgendjemanden erhaschen könnte, der Hallman verdrosch, wie er es verdiente.)

Zu diesem Zeitpunkt bestand nicht mehr viel Bedarf, vom Dach zu springen, also blieben wir an Ort und Stelle, bis sich die Dinge draußen beruhigten. Natürlich musste die Polizei dann mich und Kudshayn und Lord Gleinleigh und den Stationsleiter ebenso wie die Freundschaftsgesellschaft und Hallman und ziemlich viele von den Hadamisten und verschiedene andere Leute befragen, und im Ergebnis kamen wir erst, lange nachdem unser Abendessen uns erwarten sollte, zurück nach Stokesley.

Jedenfalls siehst du, dass alles nur ein unglücklicher Zufall war. Wenn der Caeliger-Motor nicht kaputt gegangen wäre, hätte es überhaupt keinen Ärger gegeben. Aber es ist kein dauerhafter Schaden angerichtet, wie man sagt, und ich verspreche, dass ich von jetzt an eine Zeit lang Ruhe geben werde.

Deine geprügelte Tochter

Audrey

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst


10. Ventis

Uff, mein Gesicht pocht. Egal wie ich liege, ich kann es mir anscheinend nicht bequem machen. Aspirin hilft nicht. Ich wäre versucht, Brandy aus Lord Gleinleighs Studierzimmer zu klauen, aber er hält es versperrt, wann immer er nicht dort drinnen ist, und alle außer mir schlafen.

Großmama erzählt sehr offen Geschichten über ihre Abenteuer, aber irgendwie schafft sie es immer, etwas wie gebrochene Rippen oder Tropenkrankheiten nicht so schlimm klingen zu lassen. Hat sie je vor Schmerzen wach gelegen und sich gefragt, warum sie nicht cleverer sein konnte?

Auf diese Reihe zu zu stürmen, war dumm, das weiß ich. Am Ende hat es überhaupt nichts gebracht. Einer der Leute von der Freundschaftsgesellschaft hatte bereits die Polizei gerufen, mit der Begründung, dass die Hadamisten den Flughafen unrechtmäßig blockierten. Also wäre Hilfe in wenigen Minuten da gewesen, egal was ich getan hätte. Aber alles, woran ich denken konnte, war, dass Großmama irgendeine brillante Lösung für das hier gehabt hätte. Sie wäre vorbeigeschlichen oder hätte Hallman zum Aufgeben überredet oder, ach, ich weiß nicht, einen Drachen auf die Hadamisten gehetzt oder irgendetwas. Ich hatte keine Drachen zur Hand. Nur Kudshayn, und er ist viel zu sehr Akademiker, um auch nur ansatzweise so etwas zu tun, wie Fanatiker wegzujagen. Ich schätze, ich bin das auch, wenn man betrachtet, wie schlecht meine Ablenkung lief.

Und danach ist auch nichts sehr gutgegangen. In den besten Zeiten bin ich nicht Lotte, und eine gebrochene Nase zu haben, versetzt meinen gesellschaftlichen Aussichten einen ernsthaften Dämpfer. Als ich aus dem Flughafen kam, schrie Lord Gleinleigh mich an und beharrte darauf, dass er die ganze Sache »gut unter Kontrolle« gehabt hätte (meine Rede!) und ich mich selbst »unnötig in Gefahr« gebracht hätte. Darauf hatte ich keine gute Antwort, und dann, als ich versuchte, ihm Kudshayn vorzustellen, war alles, was Gleinleigh sagte: »Wenigstens sind Sie hier«, ehe er davonstürmte. Und dann ist da Cora, die Störungen ihrer Routine sehr schlecht aufnimmt. Sie war so aufgewühlt, weil wir nicht ankamen, wie wir es versprochen hatten, dass sie beleidigt davonlief und nicht einmal da war, um Kudshayn zu begrüßen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich morgen verhalten wird. Ich kann nur hoffen, dass sie sich beruhigt hat und wir uns einfach an die Arbeit mit den Tafeln machen können. Selbst wenn diese undurchschaubar sind, bringen sie mich wenigstens nicht dazu, mich idiotisch und schuldig zu fühlen.

Pah. Ich bin ein Weichei, weil mein Gesicht wehtut und ich nicht schlafen kann. Ich sollte diese Seite herausreißen und verbrennen, aber stattdessen werde ich nach unten gehen und mich mit Arbeit ablenken.

Später

Was zur Hölle macht Aaron Mornett hier?

Ich weiß, dass er es war. Er hat die perfekteste, liebenswürdigste Stimme, was absolut ungerecht ist. Jemand, der so hasserfüllt ist wie er, sollte eine angemessen hasserfüllte Stimme haben. Ich habe ihn im Korridor vor der Bibliothek gehört …

Ich sollte die Sache in eine Reihenfolge bringen. Ansonsten habe ich keine Hoffnung, einen Sinn darin zu erkennen.

Es war kurz nach Mitternacht. Ich war nach unten gegangen wie angekündigt. Weil es so spät war und weil ich von der nächsten Tafel bereits eine Kopie erstellt habe, drehte ich nur die kleine Tischlampe auf. Von außerhalb der Bibliothek sah der Raum sicherlich verlassen aus, weil ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.

Die erste Stimme, die ich hörte, war die von Lord Gleinleigh. Es ist dumm, aber ich drehte die Lampe ab, weil ich nicht wollte, dass er auch nur einen schwachen Schein unter der Tür bemerken und sich bewusst würde, dass noch jemand wach war. Er hatte nach dem Chaos heute eine so üble Laune, und ich hatte auch so üble Laune, dass ich keinerlei Gespräch mit ihm führen wollte.

Ich hatte keine Ahnung, warum er noch wach war oder ob er wieder aufgestanden war wie ich, aber ich nahm an, dass er mit der Haushälterin oder dem Butler oder so jemandem über eine Haushaltsangelegenheit sprach. In einem Moment würde er wieder nach oben gehen, und ich könnte mich wieder an die Arbeit machen oder erneut mein eigenes Bett versuchen.

Genau dann hörte ich Mornett. Ich erkenne diese Stimme, sogar durch eine Bibliothekstür. Und dann wackelte der Türgriff, als hätte jemand seine Hand daraufgelegt.

Oh, ich schäme mich so über mich selbst! Ich hätte die Lampe wieder aufdrehen sollen oder zur Tür gehen, sie aufmachen und sie wie eine normale Person begrüßen sollen. Oder ihr Gespräch belauschen und so tun, als hätte ich gerade die Tür aufmachen wollen, falls sie einträten. Aber tat ich irgendwelche von diesen Dingen? Nein. Ich sprintete in Deckung. Alles nur, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, mitten in der Nacht mit völlig verschwollenem Gesicht und ohne Schuhe Aaron Mornett gegenüberzustehen.

Ich hätte ebenso gut sitzen bleiben können, denn sie kamen nicht herein. Aber das bedeutet, dass ich nicht wirklich hören konnte, was sie gerade sagten – nur gedämpfte Bruchstücke, keines von ihnen informativ. Mornett klang jedoch rasend vor Wut. Gleinleigh hielt seine Stimme zu leise, als dass ich viele Worte ausmachen konnte, aber ich hörte Mornett Dinge wie »inakzeptabel« und »wenn Sie glauben, ich werde …« sagen.

Wenn Gleinleigh glaubt, er wird … was?

Komm schon, Audrey. Du kennst die Antwort darauf. Das einzige Geschäft, das Aaron Mornett auf Stokesley haben könnte, schließt die Tafeln ein.

Bin ich es, wegen der er wütend ist? Oder Kudshayn? Oder wir beide. Unsere Arbeit hier muss ihm im Hals stecken wie zwei Hühnerknochen. Mornett ist jetzt schon seit einer Weile Mrs. Keffords Haus-und-Hof-Gelehrter – ich frage mich, ob die Konversation, die Lotte gesehen hat, Gleinleighs Versuch war, sie dazu zu kriegen, ihm Mornett auszuleihen. Als würde ich jemals mit Aaron Mornett arbeiten, nach dem, was er getan hat.

Wenn dieser Bastard auch nur in die Nähe dieser Tafeln kommt, werde ich ihn zu Asche verbrennen, genau wie ich es vor fünf Jahren hätte machen sollen.

FÜNF

JAHRE

ZUVOR

Von: Audrey Camherst

An: Charlotte Camherst

16. Seminis 5657

Clarton-Platz 3, Falchester

Liebste Lotte,

willkommen daheim! Freust du dich nicht, nach deinem Besuch bei Mamas Familie zurück im verregneten alten Scirland zu sein? Seit Wochen habe ich mich jetzt bereit gemacht zu sagen, dass ich ohne mit der Wimper zu zucken den Platz mit dir tauschen würde – trotz tropischer Moskitoschwärme und allem anderen –, nur dass sich die Dinge in letzter Zeit interessant entwickelt haben. Ich bin so froh, dass du zurück bist, weil ich vom Drang, jemandem zu erzählen, was passiert ist, beinahe platze.

Ich war so überzeugt, dass meine Debütsaison nichts als Langeweile bieten würde. Jeder sagt, es ist nicht mehr das, was es früher war, damals zu ihrer Zeit – was die Art von Ding ist, die die ältere Generation immer sagt, aber in diesem Fall denke ich, es ist wahr. Und selbst wenn es noch das wäre, was es früher mal war, denke ich nicht, dass es mir Spaß machen würde. Du wirst wahrscheinlich eine tolle Zeit haben, sobald du alt genug bist, aber du kennst mich. Das ist überhaupt nicht mein Metier. Tanzen hier, Nachmittagstee dort, Reiten im Park … Letzteres ist nicht sehr erquickend, wenn man nie zuvor in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hat. Also wenn es Gelegenheiten gäbe, sein Geschick beim Segeln vorzuführen, würde ich mich tatsächlich gut schlagen. Aber das, was dem überhaupt am nächsten kommt, ist es, auf kleinen Ruderbooten auf dem Immerway zu paddeln, und obwohl ich hervorragend paddeln kann, erwartet man von den Ladys, ruhig dazusitzen und die Gentlemen die Arbeit machen zu lassen. Das ist alles schön und gut für die, wenn sie ihre Kraft demonstrieren können (und ich habe dort draußen einen Kerl nur in einer Weste gesehen, wenn du das glauben kannst – er hatte auch wundervolle Arme), aber nicht direkt ein spannendes Erlebnis für die Ladys. Zumindest nicht, wenn man ich ist.

 

Aber! Ich hätte wissen sollen, dass Großmama mich das nicht alles durchleiden lassen würde. Sie erklärte mir an meinem ersten Tag in der Stadt, dass sie sich nicht im Geringsten darum schert, ob ich einen Ehemann finde oder nicht, außer ich möchte unbedingt einen finden, und als ich sagte, dass ich keine bestimmten Gedanken in diese Richtung hätte, nickte sie einfach und sagte: »Dann nehmen wir dich anderswo hin mit.«

Sie sagt, dass es, auch wenn die Saison nicht mehr das ist, was sie früher war, immer noch wichtig ist, sein Debüt zu machen, weil das der Punkt ist, wenn man die Kindheit hinter sich lässt und ein Mitglied der Gesellschaft wird. Sie meint, dass ich jetzt eine Erwachsene bin, im reifen Alter von achtzehn Jahren. Und als Erwachsene ist es Zeit, dass ich anfange, meinesgleichen und deren Vorgänger kennenzulernen.

Einige von ihnen habe ich natürlich schon früher getroffen, weil man kein Mitglied dieser Familie sein und nicht einen ganzen Haufen Gelehrter treffen kann. Aber weil ich mit Mama und Papa auf See war, heißt das, dass ich sehr viel von den gesellschaftlichen Verbindungen verpasst habe, die du gemacht hast, indem du in Scirland geblieben bist, und Großmama ist fest entschlossen, das aufzuholen.

Deshalb besteht meine Saison bisher aus sehr wenigen Tänzen und Nachmittagstees (allerdings der Form halber einigen von diesen), und sehr viel mehr literarischen Abenden und nachmittäglichen Vorträgen. Großmamas Äquivalent dazu, mich jedem verfügbaren Junggesellen vorzustellen, ist es, dafür zu sorgen, dass ich Leute aus allen möglichen Feldern treffe, nicht nur Philologie: Ich habe mich mit Geologen, Zoologen, Physikern, Chemikern und Massen anderer -logen unterhalten, ganz zu schweigen von Historikern, Geografen, Mathematikern und ein oder zwei Architekten. Ich muss gestehen, Lotte, die beeindruckende Qualität der Initialen M. P. K. nutzt sich ab, wenn man keinen Schuh werfen kann, ohne ein Mitglied des Philosophenkolloquiums zu treffen. Was wir auch manchmal über das Abendessen daheim sagen könnten, aber es ist anders, wenn es Fremde sind – bis man gesehen hat, wie einer jener Fremden etwas zu viel Brandy hatte und anfing, alle in Hörweite über die richtige Pluralbildung von »Oktopus« aufzuklären. (Er bestand darauf, dass es nach dem Nichäischen »Oktopodes« sein sollte.)

Es ist folglich lustig, dass ich ausgerechnet über genau das stolpern sollte, wonach ich nicht gesucht habe, an einem Ort, der laut allen der falsche Platz ist, um es zu finden.

Heute Nachmittag hat Großmama mich auf dem Gelände des Kolloquiums allein gelassen, während sie nach oben ging, um mit dem Präsidenten zu diskutieren. (Er ist überhaupt nicht scharf auf diese Idee, die sie hat, ihre Memoiren zu veröffentlichen – ich denke, weil er weiß, dass sie für das Kolloquium nicht direkt schmeichelhaft werden.) Mich hat das nicht gestört, weil sie mir Zugang zur Bibliothek verschafft hat, obwohl ich selbst noch kein Mitglied bin. Ich könnte mich dort für Wochen beschäftigen, wenn jemand freundlich genug wäre, mir Essen und Wasser zu liefern.

Also bin ich zwischen den Regalen umhergestreift, als ich eine amüsierte Stimme sagen hörte: »Sie wirken etwas jung für ein Mitglied.«

Ich drehte mich um und sah am Ende der Regalreihe einen jungen Mann stehen. Die Fenster waren hinter ihm, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, aber er war ansehnlich gebaut (ich hätte nichts dagegen, ihn nur in einer Weste über den See paddeln zu sehen) und hatte eine noch liebenswürdigere Stimme – tief und voll, mit gerade genug Brummen, um ihr Textur zu verleihen.

Ich konnte nicht widerstehen, frech zu sein. »Henry Finsworth wurde aufgenommen, weil er Koffein isoliert hatte, als er erst vierzehn war«, sagte ich. »Oder wollen Sie andeuten, dass eine junge Dame unausweichlich länger braucht, um etwas Bedeutendes zu vollbringen?«

Er lachte. »Davon würde ich nie träumen.«

Dann trat er vor und etwas zur Seite, sodass er nicht länger von hinten beleuchtet wurde. »Sie wirken nicht viel älter als ich«, sagte ich. Was vielleicht nicht das Höflichste war – aber er hatte mein Alter angesprochen, bevor ich seines ansprach, und außerdem war das tatsächlich das am wenigsten Peinliche, was mir einfiel. Er hatte sehr hübsches, volles schwarzes Haar, das nicht mit Pomade an seinen Platz gepappt war wie bei den modebewussten Männern, und auch wenn sein Gesicht nicht das bestaussehende war, das ich je gesehen hatte, machten die Intelligenz und Aussagekraft in seinem Blick es wett.

»Ich bin zweiundzwanzig«, sagte er, anscheinend überhaupt nicht beleidigt. »Wie Sie gerade betont haben, setzt das in diesen Hallen wohl kaum einen Rekord.«

Aber das legte nahe, dass er wirklich ein Mitglied war anstatt ein Anhang wie ich. So schnell erfuhr ich, wer er war. »Sie sind Aaron Mornett!«

Der Raum zwischen den Regalen war so eng, dass er sich nicht wirklich verbeugen konnte, aber er knickte an der Taille etwas ein und tippte sich anerkennend an die Stirn. »Und Sie sind, wie ich annehme, eine von Lady Trents Enkelinnen.«

Als ich mein Debüt in Falchester gab, fand ich es anfangs seltsam, dass alle zu wissen schienen, wer ich war. Während das theoretisch der Sinn eines Debüts ist, gibt es hier in Wahrheit so viele junge Leute, dass niemand sie alle kennt. Aber sehr wenige jener jungen Leute sind Halbutalu, sodass mir nach einer Weile klar wurde, dass natürlich alle von mir wissen mussten. Trotzdem freute es mich, dass ich seinen Namen zuerst erraten hatte. Das brachte uns auf die gleiche Ebene. »Audrey Camherst. Sie haben erst letztes Jahr das drakoneische System von Gewichten und Maßen geknackt, nicht wahr?«

Er spielte keine falsche Bescheidenheit vor. »Ja, das war ich. Nicht die Art von Zeug, um die sich die meisten Leute im Geringsten scheren, aber bei Ihrer Familie bin ich kaum überrascht.«

»Ich bin auch Philologin«, sagte ich beflissen. »Ich halte mich mit all den Zeitschriften auf dem Laufenden – na ja, so gut ich kann, wenn ich die Hälfte der Zeit mit meinen Eltern auf See bin. Ich habe sogar einige Artikel veröffentlicht …«

»Ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte er und hielt einen Finger in die Luft, als würde er die Zeit anhalten wollen, während er nachdachte. »Sie hatten einen über Wurzelzeichen mit drei Konsonanten in der Zeitschrift für frühe Schriften, nicht wahr?«

Ich kann dir kaum erklären, Lotte, wie es ist, wenn jemand deine Arbeit erkennt. Und auch noch in einer solch obskuren kleinen Zeitschrift! Es wäre eine Sache, wenn ich etwas Bemerkenswertes im Drakoneischen Philologischen Überblick oder einer derart prestigeträchtigen Reihe veröffentlicht hätte – aber er hat gelesen, was ich geschrieben habe! Und er sagte, es war aufschlussreich!

Ich werde nicht versuchen, den Rest des Gesprächs niederzuschreiben. In Wahrheit erinnere ich mich kaum daran. Wir standen auf dem Gang und redeten, bis irgendein verhärmter alter Kerl kam und uns böse anstarrte, weil wir laut waren. Dann gingen wir hinaus ins Foyer, wo ein paar Sofas stehen, und setzten uns und redeten noch mehr. Ich bin nie so schnell so herrlich mit jemandem ausgekommen. Ich glaube, es ist das Vergnügen daran, jemanden kennenzulernen, der nicht nur dieselben Dinge mag wie ich, sondern gleichzeitig noch meine Gesellschaft zu genießen scheint. Wir saßen auf demselben Sofa, so gedreht, dass wir einander ansahen, und nach einer Weile legte ich meinen Arm auf die Rückenlehne. Irgendwann kam seine Hand auf meinem Handrücken zum Liegen – nur eine leichte Berührung, dann nahm er sie weg. Lotte, ich glaube, ich habe jetzt diesen Akt, der als »Flirt« bekannt ist, in freier Wildbahn beobachtet, und er hat mir wesentlich mehr Spaß gemacht, als ich erwartet hatte.

Aaron Mr. Mornett musste gehen, bevor Großmama fertig war, weil sie einen guten alten Streit mit Lord Wishert hatte. Ich ging nicht zurück in die Bibliothek, sondern blieb im Foyer sitzen und ging die ganze Sache mehrfach im Kopf durch, während ich mich in einem warmen kleinen Leuchten sonnte, bis sie wieder nach unten kam.

Und genau dann ging alles schief.

Großmama entschuldigte sich, dass sie mich hatte warten lassen, und ich erzählte ihr, dass es mich nicht störte, weil ich einen sehr netten jungen Mann kennengelernt hätte. Aber ihr geistesabwesendes, zustimmendes Gemurmel endete in einem schockierten Ausruf, als ich ihr seinen Namen verriet.

»Aaron Mornett?«, fragte sie und plusterte sich auf wie ein Drache. »Ach, Audrey. Es tut mir so leid, dass ich dich mit ihm zurückgelassen habe.«

»Es tut dir leid?«, wiederholte ich erschrocken. »Aber er war liebenswürdig.«

»Er mag wohl liebenswürdig scheinen«, sagte sie düster, »aber er ist keine Gesellschaft, die ich dir empfehlen kann.«

Ich habe sie nie so sehr wie eine … ja, wie eine missbilligende alte Großmutter klingen hören. Ich fragte: »Warum? Ist er ein Spieler oder ein Säufer oder ein Wüstling?«

Großmama blieb mitten auf der Vortreppe stehen und verkündete das verächtlichste Urteil, zu dem sie, wie ich denke, fähig ist: »Er ist kein ehrbarer Wissenschaftler.«

Ich hätte nicht schockierter sein können, wenn sie mich ins Gesicht geschlagen hätte. »Aber … er ist Kolloquiumsmitglied!«

»Komm schon, Audrey. Du weißt es besser.« Großmama deutete zur imposanten Fassade des Kolloquiums hinauf. »Ja, theoretisch existiert das Kolloquium, um brillante Forschung anzuerkennen und zu unterstützen. Aber Leute kommen auch aus politischen Gründen hinein oder weil sie Freunde in der feinen Gesellschaft haben oder aus irgendeinem anderen Grund, der gar nichts mit ihrer Arbeit zu tun hat. Und abgesehen davon ist dein Mr. Mornett ein Calderit.«

Sie sagte das Wort, als ob ich es kennen sollte, aber ich glaube nicht, dass ich es je zuvor gehört hatte. »Und was ist das?«, wollte ich wissen und verschränkte die Arme.

»Samuel Calder war ein Prediger in Gostershire, bevor du geboren wurdest. Er glaubte, dass der Niedergang der drakoneischen Zivilisation ein Zeichen dafür war, dass der Herr sie verstoßen hatte, wie er Apra und Atzam aus dem Garten verstieß. Daraus folgerte er, dass sie nicht länger irgendeinen Anspruch auf diese Welt haben.« Großmama wirkte, als wollte sie ausspucken. »Einige seine Anhänger brachten seine Ideen zu deren schlimmstem Ausmaß und nennen sich selbst jetzt Hadamisten – ich nehme an, das ist zumindest ein Name, den du erkennst? Sie glauben, dass die Drakoneer ausgerottet werden sollten. Sie wollen beenden, was der Niedergang angefangen hat, und die Menschen als einzige Besitzer der Welt positionieren.

Jene, die dichter an seinen ursprünglichen Ideen blieben, sind als Calderiten bekannt – aber verwechsle deren Mäßigung nicht mit irgendetwas, das du akzeptabel finden würdest. Sie sagen bloß, dass die Drakoneer nur solches Land besiedeln sollten, das die Menschheit ihnen gnädig überlässt: das Refugium der Schwingen, und nichts sonst. Und eher nach der Art eines Wildreservats statt einer souveränen Nation.«

Natürlich bin ich mit dieser Debatte vertraut. Es gibt so wenige Drakoneer, und noch weniger von ihnen außerhalb des Refugiums. Die meisten Leute haben nie einen getroffen, also ist es einfach für sie, sich alle möglichen idiotischen Sachen einzubilden. Sie hören »Drakoneer« und denken an die Anevrai, reißerische Geschichten über Menschenopfer und all das. Aber Aaron Mornett ist viel zu intelligent, um seine Ansichten von solcher Ignoranz beeinflussen zu lassen, und genau das habe ich Großmama erklärt.

Sie schnaubte und lief die Treppe weiter zur Straße hinunter. »Vertrau mir, Audrey. Du wirst glücklicher, wenn du dich von ihm fernhältst.«

Und damit war die Sache, was sie betraf, erledigt. Aber ich bin nicht überzeugt […]

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