Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Von: Charlotte Camherst

An: Audrey Camherst

23. Pluvis

Clarton-Platz 3, Falchester

Liebste Audrey,

wie du sehen kannst, bin ich in Falchester! Wir sind letzte Woche angekommen und waren seitdem so beschäftigt, dass das hier der erste Moment ist, den ich habe, um mich hinzusetzen und dir zu schreiben. Gibt es kein Telefon, wo du bist? Papa hat mir erzählt, dass Stokesley nicht so sehr weit entfernt ist, nur über die Grenze in Greffen – bitte sag mir, dass du zu Besuch kommst, während ich hier bin. Ich weiß, dass du formelle Bälle und so etwas verabscheust, aber es würde mir so viel bedeuten, dich wenigstens für ein paar Tage bei mir zu haben.

Wenn sonst schon nichts, musst du einfach das Kleid sehen, das ich zu meiner Präsentation bei Hof getragen habe. Es ist absolut antik – nicht buchstäblich, weil es natürlich speziell für mich genäht werden musste, aber es unterscheidet sich nicht sehr von dem, das Großmama getragen haben muss, als sie präsentiert wurde. Warum müssen verstaubte alte Zeremonien in verstaubter alter Kleidung durchgeführt werden? […]

[…] Aber ich möchte dich nicht mit Gerede über Leute langweilen, die du nicht kennst und um die du dich nicht scherst. Ich habe Lady Cossimere nur erwähnt, weil ich dir von der seltsamen Sache erzählen wollte, die an jenem Abend passiert ist.

Irgendwann, als ich stehen geblieben war, um wieder zur Puste zu kommen, habe ich gehört, wie Lord Gleinleigh angekündigt wurde. Also bin ich natürlich sofort an eine Stelle gesprintet, von wo aus ich den Eingang sehen konnte, weil ich wissen wollte, wie er aussieht. Ich dachte, tja, wenn meine Schwester Tafeln für ihn übersetzt, sollte ich Hallo sagen. (Es gibt immer noch Leute hier, die darauf beharren, dass eine Dame nie ein Gespräch mit einem Mann anfangen sollte, dem sie nicht vorgestellt worden ist – kannst du das glauben? Zum Glück habe ich Cousine Rachel hier, um ein vernichtendes Starren einzusetzen, wenn nötig.)

Also habe ich Lord Gleinleigh gesehen. Aber dann musste ich mit Mr. Trunberry tanzen, und eines kam zum anderen, und eine ganze Stunde verstrich, ehe ich eine Gelegenheit bekam, auch nur daran zu denken, mit Lord Gleinleigh zu reden, und dann musste ich ihn natürlich im Gedränge suchen. Schließlich fand ich ihn oben auf der Galerie, die um den Ballsaal von Lady Cossimere führt … wo er mit Mrs. Kefford sprach.

Ich war so schockiert, wie du jetzt bist! Und ja, ich bin sicher, dass sie es war. Vergiss nicht, dass ich an jenem Tag bei dir war, als wir Großpapa zum Mittagessen getroffen haben – wie du dich erinnerst, nachdem er das Synedrion dazu bekommen hatte, dafür zu stimmen, den Kongress auszurichten, und danach diesen unglaublich öffentlichen Streit mit ihr in der Säulenhalle draußen hatte.

Es sollte mich nicht überraschen, dass sie bei Lady Cossimere war. Jeder, der jemand ist oder sein will, kommt zu ihren Gesellschaften, und Mrs. Kefford ist unbestreitbar jemand, selbst wenn ich wünschte, sie wäre es nicht. Aber mit Lord Gleinleigh zu reden? Und es wirkte auch wie ein richtiges Gespräch. Ich meine, dass sie einander eindeutig kannten, und wenn sie nur das Wetter diskutiert hätten, dann habe ich nie gewusst, dass Regen eine so ernste Sache sein kann. Es wirkte, als würde Lord Gleinleigh versuchen, Mrs. Kefford von irgendetwas zu überzeugen. Er war sehr ernst und energisch, und sie wirkte fasziniert, aber auch ein wenig verärgert. Ich wollte wirklich nähertreten und lauschen, aber es bestand absolut keine Chance – besonders nicht, weil es bei diesen Veranstaltungen wenige Mädchen gibt, die so dunkelhäutig sind wie ich. Lord Gleinleigh hätte mich auf jeden Fall als deine Schwester erkannt, und Mrs. Kefford hätte sich vielleicht an mich erinnert, besonders weil ich ihnen sehr nahe hätte kommen müssen, um irgendetwas zu hören.

Aber ist das allein nicht seltsam? Ich hatte keine Ahnung, dass Lord Gleinleigh Mrs. Kefford überhaupt kennt, ganz zu schweigen davon, dass er ihr so nahesteht. Ich vermute, dass er wohl im Synedrion ihrem Mann hätte begegnen können, aber sie vertreten Sitze in unterschiedlichen Kammern und sind nicht als Freunde bekannt. Oder vielleicht haben Mrs. Kefford und er sich auf dem Kontinent kennengelernt. Wie ich höre, verbringt sie dort sehr viel Zeit, und sie könnte uns allen einige Kopfschmerzen ersparen, wenn sie dauerhaft in Ecraie wohnen bleiben würde. (Na ja, es würde Scirland einige Kopfschmerzen ersparen. Aber dann hätten die Leute in Thiessin diese stattdessen.) Sie sammeln beide drakoneische Antiquitäten, also könnten sie sich vielleicht über jene Kanäle kennengelernt haben. Aber sie ist extrem gehässig zu ihnen – den Drakoneern, meine ich, nicht den Antiquitäten –, und Lord Gleinleigh nicht, erst recht nicht, wenn er dich jene Tafeln für ihn übersetzen lässt. Ich bin überrascht, dass er überhaupt gewillt ist, ein zivilisiertes Wörtchen mit Mrs. Kefford zu sprechen, oder sie mit ihm. Wenn sie nicht so viel von ihrem Vermögen für Antiquitäten ausgeben würde, würde ich schwören, sie sei eine Hadamistin, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie sie mit einer roten Maske herumläuft.

Jetzt habe ich mit gemeinen Spekulationen die Stimmung völlig gekippt. Und dennoch ist das einzige andere Thema, über das ich schreiben könnte, Firlefanz und die Jagd nach einem Ehemann, also werde ich aufhören, bevor ich noch irgendetwas schlimmer mache. Ich bleibe, wie immer,

Deine dumme und frivole Schwester

Lotte

Von: Audrey Camherst

An: Charlotte Camherst

24. Pluvis

Stokesley, Greffen

Liebste Lotte,

entschuldige dich nie, weil du mir über Firlefanz und die Jagd nach einem Ehemann schreibst. Ich mag zwar für mich selbst keinerlei Interesse daran haben, aber ich befasse mich für dich sehr gerne damit, weil es dich glücklich macht.

Früher habe ich mich nicht damit befasst, weißt du. Ich dachte, als Lady Trents Enkelin sei ich verpflichtet, über alle femininen und kitschigen Dinge die Nase zu rümpfen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, etwas darüber in Großmamas Hörweite zu sagen, und meine Güte, sie hat mich dermaßen hart auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Sie hat ihre Stimme nicht gehoben. Sie hat mir nur sehr ruhig erklärt, dass, falls irgendeine Verpflichtung auf mich als ihre Enkelin zuträfe, diese es dann wäre, das Recht jeder Person anzuerkennen, ihre eigenen Träume zu verfolgen, statt derjenigen, die sie meiner Meinung nach haben sollte. Zu dem Zeitpunkt, als sie fertig war, wollte ich unter den Teppich kriechen und sterben. Aber ich bin froh, dass sie es getan hat, weil sie natürlich recht hatte. Großmama hat Drachen erforscht, statt brav daheim zu sitzen, wie sie es nach der Meinung aller anderen hätte tun sollen. Papa ging weg und fuhr zur See, weil er kein Interesse an Drachen hatte. Wenn eine von uns wahrlich Lady Trents Erbes würdig ist, bist du das, liebe Lotte, weil du rebelliert hast, indem du in die Arme der feinen Gesellschaft gerannt bist, während der Rest von uns, so schnell wir können, in die andere Richtung läuft.

So, habe ich dich erröten lassen? Hoffentlich. Es heißt, das sei gut für den Teint.

Aber natürlich, weil ich die bin, die ich bin, ist es deine Geschichte über Lord Gleinleigh, die ich am interessantesten finde. Mrs. Kefford – uff! Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich glaube, sie ist eine Hadamistin, weil das dann rechtfertigen würde, wie sehr ich sie hasse. Auf gewisse Weise allerdings sind Calderiten fast schlimmer. Ich meine, nicht wirklich. Sie glauben nicht, dass die Drakoneer Dämonen sind oder versuchen, ihr Reich wiederherzustellen, damit sie die Menschheit unter ihren klauenbewehrten Füßen zermalmen können oder irgendetwas Derartiges, und ich bezweifle, dass Mrs. Kefford je einen Ziegelstein gegen einen drakoneischen Kopf geschleudert hat. Aber es ist etwas besonders Ekelhaftes an einer Person, die einen Drakoneer anlächelt und deren Artefakte sammelt und sich dann umdreht und alles tut, was sie kann, um sicherzustellen, dass die Drakoneer im Refugium gefangen bleiben, wie Tiere in einem Zoo.

Ich finde es wirklich seltsam, dass er mit ihr geredet hat. Ich meine, er hat noch nie einen Drakoneer getroffen, und er hat eindeutig die calderitische Tendenz, antike Dinge zu horten, als ob wir mehr Anspruch auf die Relikte der Vergangenheit hätten als die modernen Drakoneer. Vielleicht haben sie sich durch den Antiquitätenmarkt kennengelernt – Mrs. Kefford wäre wohl kaum die zwielichtigste Person, mit der er in jener Hinsicht zu tun hatte. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand mit auch nur einem Hauch calderitischer Anwandlungen so viel Geld zahlen würde, um Kudshayn hierher zu fliegen. (Er kommt nach Scirland, um mit mir an den Tafeln zu arbeiten!) Also wer weiß.

Nun – irgendjemand könnte es wissen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, bist du in der perfekten Position, um nach Informationen zu schnüffeln. Der Himmel weiß, dass es in der feinen Gesellschaft reichlich Leute von Mrs. Keffords Art gibt, und wenn mir auch bewusst ist, dass das nicht direkt dein Umgang ist, ist Klatsch für die Leute in Falchester wie die Luft zum Atmen. Würdest du zumindest für mich die Ohren offenhalten? Lass mich wissen, falls du irgendetwas hörst, das ein Licht auf die Sache werfen könnte. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Mrs. Kefford irgendwo im Umkreis von hundert Meilen von diesen Tafeln ist, bildlich gesprochen.

 

Es gibt hier ein Telefon, aber es ist im Studierzimmer von Lord Gleinleigh, und wenn er fort ist – was er oft ist –, bleibt dieses Zimmer verschlossen. (Ich glaube, seine Haushälterin, Mrs. Hilleck, hat Angst vor dem Telefon.) Aber natürlich werde ich es einrichten, einige Tage in der Stadt zu verbringen, wenn ich kann. Lord Gleinleigh mag bei diesen Tafeln ja schrecklich geheimniskrämerisch sein, aber wenn er nicht vorhat, mich hier das ganze nächste Jahr wie im Gefängnis einzusperren, kann er nicht untersagen, dass ich meine Familie besuchen darf. Er hat bereits mein Ehrenwort, dass ich mit niemandem darüber plaudern werde, was ich gerade hier lese, und wie kann ich es verpassen, deine absurd hübschen Kleider zu sehen? Du wirst mir alles über deine Verehrer erzählen, und ich werde dir alles über unregelmäßige Deklinationen von Nomen erzählen, und wir werden beide überglücklich sein, dass die andere so viel Spaß hat.

Deine ständig tintenbefleckte Schwester

Audrey

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur


Ich kann in Onkels Wörterbuch keinen Eintrag zu Calderiten finden, und Mrs. Hilleck hat keine Ahnung, was das bedeutet. Ist es eine Beleidigung? Ich wünschte, ich hätte davon gewusst, als ich jene Bücher über Drakoneer bestellt habe, sodass ich gleichzeitig ein Buch über Calderiten hätte bekommen können. Außer dass ich keine Ahnung habe, wie man es anstellt, ein Buch zu einem Thema zu finden, wenn man nicht einmal weiß, was das Wort bedeutet.

Ich könnte Onkel fragen, wenn er heimkommt, und dann ein Buch bestellen, wenn ich es immer noch für nötig halte. Aber Audrey denkt, dass er keiner ist, was auch immer sie sind, also zählt das vielleicht nicht als die Art von Hinweis, nach denen er mich suchen lässt. Ich wünschte, er hätte mir genauere Instruktionen gegeben, was er eigentlich wirklich will.

Sie sagt es nicht direkt, aber ich glaube nicht, dass Audrey ihn sehr mag. Ich kann es ihr nicht verdenken. Ich mag Onkel auch nicht sehr.

Erhalten in Sanwoodstr. 23 via Darvisstr., Falchester

Ecraie Thiessin 7. Ventis

Marcus Fitzarthur, Lord Gleinleigh

KAPITALER MOTORSCHADEN REPARATUR ZWEI WOCHEN PASSAGIER VERSPÄTET BITTE INSTRUKTIONEN – BRALT

Reçu à #68 Rue Courbée par Place des Oiseaux, Ecraie

Falchester Scirland 7. Ventis

William Bralt

PASSAGIER AUF ERSTEN VERFÜGBAREN KOMMERZIELLEN FLUG BUCHEN WERDE ERSTATTEN – GLEINLEIGH

Erhalten in Sanwoodstr. 23 via Darvisstr., Falchester

Ecraie Thiessin 7. Ventis

Marcus Fitzarthur, Lord Gleinleigh

CAELIGERLINIE SEHR BESORGT ANDERE PASSAGIERE SEHR ÜBER ZUGANG VERSTÖRT – BRALT

Reçu à #68 Rue Courbée par Place des Oiseaux, Ecraie

Falchester Scirland 7. Ventis

William Bralt

DANN GANZEN FLUG AUFKAUFEN BRINGEN SIE IHN EINFACH HER – GLEINLEIGH

REPTILIENINVASION

Halbblut greift unschuldige Frau an

MENSCHEN VON SCIRLAND, VEREINT EUCH! Die Bedrohung durch die Reptilien ist früh an unseren schönen Ufern angekommen. Nicht damit zufrieden, auf die große Versammlung nächsten Winter zu warten, um über ihr Schicksal zu entscheiden, haben sie einen BOTSCHAFTER als Vorhut geschickt, und das in einem grotesken Stil – allein auf einem Flug in einem Caeliger, der für die Nutzung durch MENSCHLICHE WESEN gedacht ist.

Aber jene, die sehen wollen, wie wir LEBENDIG in den Tempeln der Geschuppten VERBRANNT werden, wenn sie IHRE GRAUSAME HERRSCHAFT über die Menschheit wiederherstellen, KÖNNEN ihre Pläne NICHT vor uns VERBERGEN! Unsere Brüder und Schwestern haben von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des Invasors erfahren und sich in einer großen Menge versammelt, um zu zeigen, dass er hier und auch sonst überall auf dieser prächtigen Welt nicht willkommen ist. Wir haben das Empfangsgebäude am Flugfeld von Alterbury umringt und WOLLTEN ihm NICHT ERLAUBEN, es zu verlassen. Sollte das Monster dorthin zurückgehen, wo es hergekommen war! Und seine sykophantischen Sklaven mitnehmen!

Die Kräfte der Korruption sind jedoch stark. Die halbblütige Enkelin der GROSSEN VERRÄTERIN war dort. Sie griff eine UNSCHULDIGE FRAU und einen EHRLICHEN SEKRETÄR an, als sie versuchte, die Bestie zu befreien, und schrie die ganze Zeit ÜBLE GESÄNGE in der Reptiliensprache. Aber wir hielten stand! Unsere Reihe wackelte nicht, unser Wille brach nicht. Unsere Waffenbrüder und Schwestern rangen sie nieder und lehrten sie die WAHRE STÄRKE DER MENSCHHEIT.

Ach, weint um den Niedergang unseres Landes. Jene LAKAIEN der Reptilienagenda, die Polizei von Falchester, kamen dem Halbblut und ihrem dämonischen Liebhaber zu Hilfe. In der folgenden SCHLACHT wurden viele verletzt und noch mehr verhaftet, während die AUSLÄNDSCHE BESTIE frei herumlaufen durfte.

Ihr müsst verstehen: Das hier ist nicht das erste Scharmützel in diesem KRIEG, und es wird auch nicht das letzte sein. Die Kreatur hat sich versteckt, aber wir werden SIE FINDEN und AUS UNSEREM LAND VERTREIBEN. Jene, die nicht sehen wollen, wie ihre Kinder dem FEURIGEN GÖTZENBILD dieser Monster GEOPFERT werden, müssen wachsam bleiben – denn wohin sich einer wagt, werden VIELE WEITERE folgen!

Für die Kaution jener, die unschuldig im Gefängnis sitzen, wird am kommenden Cromer-Abend im Versammlungshaus eine Kollekte stattfinden.

Von: Jacob Camherst

An: Audrey Camherst

10. Ventis

Clarton-Platz 3, Falchester

Liebe Audrey,

was zum Teufel glaubst du, dass du da gerade tust? Eine gesunde Abenteuerlust ist eine Sache, das hier ist etwas völlig anderes.

Dein dich liebender, aber zutiefst alarmierter Vater

Von: Audrey Camherst

An: Jacob Camherst

10. Ventis

Stokesley, Greffen

Lieber Papa,

also gut, die Sache ist etwas außer Kontrolle geraten. Aber ich konnte wohl kaum zulassen, dass sie Kudshayn gefangen halten, oder? Besonders, weil ich der Grund bin, dass er den ganzen Weg hierhergekommen ist.

Ich nehme an, du hast die Geschichte aus den Zeitungen. Ich erzähle dir besser die tatsächliche Geschichte, weil ich sicher bin, dass die ein Kuddelmuddel daraus gemacht haben. Aufstände! Hadamisten! Lady Trents Enkelin! Sehr sensationelles Zeug, gut für die Überschriften, aber arm an Details, die dich sicherlich verstehen lassen werden, warum ich eingreifen musste.

Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass Lord Gleinleigh arrangiert hatte, Kudshayn nicht einfach um die Welt zu fliegen, sondern ihn mit einem Privat-Caeliger herzubringen. Das war sehr freundlich von ihm, fand ich, aber auch praktisch: Ein Drakoneer auf einem kommerziellen Flug würde sicherlich alle möglichen Probleme verursachen. Die meisten Leute haben immerhin nie einen in echt gesehen. Selbst falls sie freundlich statt feindselig zu ihm gewesen wären, wäre es ein fürchterlicher Aufruhr geworden – um nicht zu erwähnen, sehr hart für den armen Kudshayn, der sich damit hätte abfinden müssen, alle zwanzig Minuten für fünfzehn Minuten angestarrt zu werden.

Deshalb der Privat-Caeliger. Damit gab es auch einige Probleme – Landegenehmigungen und so weiter –, weil ein fremdes Luftschiff, das herumfliegt, wie es ihm gefällt, und auf irgendwelchen Feldern landet, um nachzutanken, dazu neigt, die Leute nervös zu machen, als wäre es wieder ein neuer Luftkrieg. Aber die Arrangements wurden alle getroffen, und Kudshayn schaffte es den ganzen Weg nach Thiessin, bis die Sache wirklich schiefging.

(Nein, ich weiß nicht, was genau kaputt war. Frag Großtante Natalie nach Dingen, die wohl als »kapitaler Motorschaden« mit einer zweiwöchigen Reparaturzeit zählen würden. Das ist alles, was ich mitgehört habe.)

Natürlich wollte Lord Gleinleigh Kudshayn nicht zwei Wochen in Thiessin gestrandet lassen. Weil wir ihn nur nach Scirland herüberbringen mussten, traf der Graf doch noch Arrangements für einen kommerziellen Flug. Nur dass es, wie ich mitbekommen habe, trotzdem irgendwelche Probleme gab, also flog Kudshayn am Ende allein – abgesehen von der Mannschaft natürlich, weil er nicht besser weiß, wie man einen Caeliger steuert, als ich weiß, wie man einen Kuchen bäckt.

Ich bin nicht sicher, wie die Hadamisten Wind davon bekommen haben. Möglicherweise war das ein unvorhergesehener Nebeneffekt von irgendetwas, das Lord Gleinleigh und ich geplant hatten? Ich hatte vorgeschlagen, dass er vielleicht einige Leute von der Drakoneischen Freundschaftsgesellschaft zu einem Dinner hier auf Stokesley einladen könnte, um Kudshayns Ankunft zu feiern, aber er lehnte ab. (Er ist kein sehr geselliger Mann – ich habe noch nicht einmal die Nachbarn besucht, und sie haben auch uns nicht besucht, soweit ich weiß – aber ich glaube, es lag speziell daran, dass er sich Sorgen macht, dass wir etwas ausplaudern, was wir nicht sollten. Es ist hier alles sehr geheimnisvoll.) Er schlug jedoch vor, dass die Freundschaftsgesellschaft Kudshayn vielleicht am Caeliger-Flughafen begrüßen möchte, und so schrieb ich ihnen. Ich habe keine Ahnung, wie die Neuigkeiten wohl von ihnen zu den Hadamisten gelangt sind, wenn diese zwei Gruppen in der drakoneischen Frage so weit auseinander stehen, wie nur möglich ist … aber es ist die einzige Erklärung, die mir einfällt. Das, oder ein Telegrafen-Bediener hat getratscht.

Jedenfalls erfuhren Lord Gleinleigh und ich erst davon, als wir am Landeplatz auftauchten und feststellten, dass Kudshayn zusätzlich zu sieben Leuten von der Freundschaftsgesellschaft ein Willkommenskomitee aus mehreren Dutzend weiterer Leute hatte, die denken, dass er ein schreckliches Monster ist.

Wenn nicht all die dummen Protokolle wären, hätten wir kein Problem gehabt, weil die Hadamisten natürlich nicht den ganzen Landeplatz umstellen konnten, aber Kudshayn war ins Empfangsgebäude gegangen, um den Papierkram auszufüllen, auf dem sie bestehen, wenn man aus einem fremden Land ankommt. (Mir ist gerade aufgefallen, dass ihre Formulare kein Feld für »Spezies« haben. Meinst du, dass sie das vor dem Kongress ändern werden?) Und wenn er in Winton gelandet wäre, hätte es viel zu viel Verkehr in das und aus dem Gebäude gegeben. Sie hätten mit ihrem Protest gewöhnliche Leute verärgert. Aber Lord Gleinleigh hatte es so eingerichtet, dass er nach Alterbury geflogen wurde, weil das praktischer für uns liegt, wenn wir aus Greffen kommen, und der Platz dort ist klein genug, dass sie es schafften, die Ausgänge zu blockieren, sodass Kudshayn drinnen in der Falle saß.

Du kannst dir vorstellen, wie alarmierend ich den Anblick fand. Rote Masken überall um das Gebäude, starrend und ausdruckslos, außer wo einige von ihnen dreist genug waren, ihre Gesichter offen zu zeigen. Ihr Anführer war einer von denen ohne Gesichtsbedeckung. Ich bin sicher, du hast in der Zeitung gesehen, wer es war: Zachary Hallman, und ich sitze jetzt drei Minuten hier und versuche, mir einen Beinamen einfallen zu lassen, den ich seinem Namen anhängen kann und bei dem du, wenn du ihn liest, nicht »Audrey!« rufen wirst. Mir ist nichts in den Sinn gekommen, also lasse ich dich dir einfach etwas Angemessenes vorstellen. (Oder unangemessen, wie du magst.)

Er stolzierte mit einem Megafon herum und schrie alle möglichen furchtbaren Dinge – du kennst die Art von Gift, die sie spucken, Menschenopfer und so weiter. Die Freundschaftsgesellschaft war immer noch da, aber sie hatten sich in eine sichere Entfernung zurückgezogen. Sie waren mindestens vier zu eins in der Unterzahl, also kann ich es ihnen nicht verdenken. Sie hatten ein freundliches kleines Treffen mit einem Gelehrten auf Besuch erwartet, und stattdessen bekamen sie eine Konfrontation mit einem Pack schrecklicher Fanatiker.

Ich schätze, es herrschte ein gewisses Gleichgewicht, und unsere Ankunft brachte es ins Wanken – weil Hallman mich natürlich erkannte. Das gab ihm frischen Wind in die Segel, ganz zu schweigen von denen der Menge. Lord Gleinleigh rief mir zu, ich solle wieder in den Motorwagen steigen – als hätte ich untätig herumsitzen können! Ich marschierte vorwärts, ehe er darauf kommen konnte, mich mit Gewalt wieder hinein zu verfrachten, und ging dort hinüber, wo der Ärger brodelte.

 

Ist dir je aufgefallen, wie grauenhaft dieser Kerl Hallman aussieht? Nein, warte – ich glaube nicht, dass du ihn je selbst gesehen hast, weil du auf See warst, als ich ihn kennengelernt habe. Ich meine nicht, dass er hässlich ist. Es gibt sehr viele Leute mit hässlichen Gesichtern, die völlig angenehm anzusehen sind. Nein, Zachary Hallman könnte auf eine raue Art ziemlich gut aussehend sein, wenn es nicht um die Bösartigkeit wäre, die sich über jede Falte auf seinem Gesicht gelegt hat. Er trat vor und … Tja, ich werde nicht aufschreiben, wie er mich genannt hat, weil ich nicht will, dass du verhaftet wirst, weil du ihn angreifst. Es kümmert mich nicht im Geringsten, was er über mich sagt, aber du hast eine väterliche Verpflichtung, stinkwütend auf jeden zu sein, der deine Tochter beleidigt.

»Ja, das bin ich«, sagte ich in meinem besten Tonfall von frecher Unbekümmertheit. »Wenn Sie mich entschuldigen, ich habe da drinnen einen Freund, der dringend andernorts gebraucht wird.«

Lord Gleinleigh versuchte, sich seinen Weg vor mich frei zu rempeln und etwas zu sagen, aber ich duckte mich geschickt um ihn herum. Hallman wählte inzwischen drei Bezeichnungen aus, um Kudshayn zu beschreiben, keine davon schmeichelhaft. Dann sagte er: »Wir wissen, was man mit Kreaturen wie Ihrem Freund macht. Lassen Sie uns sehen, wie es denen gefällt, wenn wir sie als Opfer an ihren heidnischen Sonnengott verbrennen!«

»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie diesen Blödsinn über jene Säulen glauben, die genutzt wurden, um Menschen bei lebendigem Leib zu verbrennen«, sagte ich mit all der Verachtung, die ich aufbringen konnte, weil ich hoffte, dass diese das plötzliche Aufwallen von Angst, dass sie vorhatten, das Gebäude in Brand zu setzen, übertünchen würde. »Selbst wenn die Anevrai das getan hätten – was unter glaubwürdigen Forschern sehr bezweifelt wird –, halten moderne Drakoneer diesen Gedanken für entsetzlich. Sie ziehen einen guten Yakeintopf deutlich vor.«

Es war jedenfalls etwas in die Richtung. Ich kann mich nicht genau erinnern, was ich gesagt habe, weil ich damit beschäftigt war zu versuchen, mir einen Ausweg aus dieser Pattsituation auszudenken. Die Hadamisten hatten alle die Hände oder Ellenbogen untergehakt, um eine Menschenkette zu bilden, wie eine erwachsene Version des Spiels »Land, Land, wir wollen Soldaten«. Sogar wenn ich es geschafft hätte, die Freundschaftsgesellschaft aufzustacheln, bezweifelte ich, ob wir ihre Reihe durchbrechen konnten. Und mittlerweile hatten wir einen ziemlichen Haufen Zuschauer, aber die schienen alle damit zufrieden zu sein, herumzustehen und miteinander zu tuscheln. Wenn ich doch nur zu Kudshayn hätte durchkommen können …

Lord Gleinleigh hatte für den Moment den Versuch aufgegeben, Hallmans Aufmerksamkeit zu bekommen, und zischte mir stattdessen zu, dass ich aufhören sollte, närrisch zu sein, und zurück in Sicherheit gehen sollte. Aber dann kam mir eine Idee, und ich grinste Hallman an. »Armer Mann«, sagte ich, wobei mein Tonfall vor Unaufrichtigkeit triefte. »So von der Überlegenheit der Menschheit besessen … dennoch haben Sie nicht gelernt, in drei Dimensionen zu denken. Was nützt Ihre Blockade, wenn mein Freund einfach über Ihre Köpfe hinwegfliegen kann?« Und ich richtete meinen Blick nach oben, auf den Uhrturm über dem Gebäude.

Sie fielen alle darauf herein, selbst der Graf. Natürlich war Kudshayn nicht aufs Dach geklettert. Du weißt ja, wie er ist. Er würde nie auch nur von etwas so Akrobatischem träumen. Aber Hallman wusste das nicht, und der Rest seiner Gefolgsleute genauso wenig, und so hatten sie alle einen Augenblick lang Panik, weil sie dachten, Kudshayn würde gleich wie der Zorn der Sonne auf sie herabstoßen.

Genau dann stürmte ich auf ihre Reihe los.

Ich wählte meine Ziele sehr sorgfältig: eine Frau mittleren Alters und einen hageren Kerl, der wahrscheinlich als Sekretär arbeitet. Du wärst stolz auf mich gewesen, Papa. Ich habe mich an mein Ju-Jutsu-Training erinnert. Natürlich bin ich furchtbar aus der Übung, also habe ich nicht versucht, über sie zu springen, aber ich habe mich direkt unter ihren Händen durchgerollt, während sie abgelenkt waren, so sauber, wie es nur geht, und ich dachte, dass alles genau so gelaufen sei, wie ich es geplant hatte.

Nur dass ich auf meinen Rocksaum trat, als ich hochkam, weil ich mir eines meiner respektableren Kleider angezogen hatte, da ich nicht erwartet hatte, mich mit hadamistischen Demonstranten befassen zu müssen. Er riss, und ich stolperte, und dann packte mich der Sekretär in etwas, das er wahrscheinlich für einen Schwitzkasten hielt. Also warf ich ihn über meine Hüfte, doch mittlerweile hatte Hallman bemerkt, was ich da tat, und brüllte, dass alle mich aufhalten sollten.

Ich kann dir nicht wirklich erklären, wie ich auf dem Boden geendet bin – es ist alles etwas verschwommen. Ich tat mein Bestes, um mich zusammenzurollen, wie ich es gelernt habe, aber das hilft nur wenig, wenn ein halbes Dutzend Leute einen angreifen. Ich wäre k. o. gegangen, wenn die Freundschaftsgesellschaft nicht eingeschritten wäre.

Meine Hand auf die Sonne, ich hatte absolut nicht vor, einen Krawall anzuzetteln. Der Plan war, dass ich ins Gebäude gelangen und Kudshayn meine Idee erläutern würde, über den Uhrturm zu entkommen. Er ist hoch genug, dass er einen guten, langen Gleitflug geschafft hätte, und ich dachte, er könnte mich entweder tragen, oder falls er glauben sollte, dass das seine Flügel zu sehr belasten würde, mich im Gebäude zurücklassen, während Lord Gleinleigh und er davonkommen würden. Das Warten hätte mich nicht gestört. Aber stattdessen stolperte ich über meinen Rock und wurde ausgebremst, und dann beschloss irgendein ritterliches Mitglied der Freundschaftsgesellschaft, dass er nicht danebenstehen und zusehen konnte, wie eine hilflose junge Dame ganz unten in einem Menschenhaufen endet, und, tja … die Sache geriet etwas außer Kontrolle.

Aber zumindest bedeutete das, dass ich es schaffte, mir krabbelnd meinen Weg aus diesem ganzen Chaos zu bahnen (wobei ich einen schockierenden Anteil meines Rocks zurückließ) und auf die Tür zu zu taumeln, woraufhin sich diese lang genug öffnete, dass sich ein Paar klauenbewehrter Hände herausstrecken und mich nach drinnen zerren konnte.

Natürlich war es Kudshayn. Sobald ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, warf ich meine Arme um ihn und rief: »Dank der Sonne, dass du in Sicherheit bist!«

Er befreite sich von mir und bemerkte: »Deine Nase ist gebrochen.«

(Sie war nur ein bisschen gebrochen. Aber keine Sorge: Lord Gleinleigh ließ ohnehin seinen Leibarzt auf mich schauen, also werde ich, sobald die Schwellung und blauen Flecken weg sind, meine Heiratsaussichten überhaupt nicht beschädigt haben. Sofern welche bestehen.)

Ich tastete sie behutsam ab – aber, wie sich herausstellte, nicht behutsam genug. Gebrochene Nasen tun arg weh! Meine Stimme war so belegt, als hätte ich eine furchtbare Erkältung. »Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen.«

Kudshayn warf einen Blick an mir vorbei auf das Chaos, das durch das kleine Fenster in der Tür zu sehen war. »Ich verstehe … was schlägst du vor, wie das zu schaffen ist?«

Ehe ich das mit dem Dach erklären konnte, fing der Stationsleiter an, mit den Armen zu winken und darauf zu beharren, dass wir sofort weggehen sollten – fuhr fort, zu winken und zu beharren, sollte ich sagen, weil ich den deutlichen Eindruck hatte, dass er das schon getan hatte, seit die Probleme begonnen hatten. Er hatte offensichtlich nie im Leben einen leibhaftigen Drakoneer vor sich gehabt und war mehr als nur ein wenig nervös, als ihm eine zwei Meter große, humanoide Drachenkreatur gegenüberstand, deren Schwingen, obwohl sie höflich gefaltet waren, ständig gegen die Bänke in der dicht vollgestellten Halle rumpelten. Im Vergleich dazu zählte eine halberiganische junge Frau, aus deren Nase Blut strömte, als Verbesserung.

Kudshayn ging auf seine übliche Art damit um, was heißt, dass er seine beste Version eines höflichen, unbeweglichen Felsens spielte. Da ich nicht eine zwei Meter große, humanoide Drachenkreatur bin, die aussieht, als würde sie einen Menschen mit Vergnügen mit einem Bissen fressen, besaß ich die Freiheit, den Stationsleiter anzubrüllen und wissen zu wollen, was für eine Person einen unschuldigen Reisenden hinaus in die Hände eines feindlichen Mobs treiben würde, und wir waren mitten in unserem eigenen Wettgebrüll, als Lärm von draußen kam. Pfiffe und jemand anderer mit einem Megafon – diesmal nicht Hallman. Die Polizei war angekommen.

Weitere Bücher von diesem Autor