Skyline Deluxe

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Thomas und Chi blieben zurück. Als Einzige.

Wollten sie nicht schon längst ein Taxi?

Thomas winkte beschwippst dem Jungen, der jetzt wieder älter wirkte. Na ja, nach so einer Nacht. Und erinnerte ihn an das Taxi.

Es würde bald kommen.

Der Onkel kam herüber.

Freundlich, fast väterlich sprach er zu Thomas und Chi.

„Vielen Dank. Gäste sind hier selten geworden.“

Thomas stutzte.

„Ihr seid die Einzigen.“

Thomas hob die Augenbrauen. Also doch, dachte er.

„Ja richtig, das Lokal ist leer. Jetzt, als ihr vorher hereinkamt und die ganze Zeit“, sprach der Onkel weiter, ohne dass Thomas gefragt hatte. „Ihr seid die einzigen Gäste seit langem.“ Pause.

„Da wollten wir die Gelegenheit nicht verpassen, bessere Zeiten wieder aufleben zu lassen.“

Das reimt sich, dachte Thomas im Traum.

Diese Ansprache träumte er in Deutsch. In Englisch, der Sprache, in welcher der Onkel in einer realen Situation zu einem Ausländer sprechen würde, reimte es sich nicht. Hätte sich ein träumender Poet einen englischen Vers ersonnen, so könnte er nur holprig und den Wortschatz des Onkel übersteigend ausfallen, der sicher in seiner Rede keinen Wert auf Reime zu legen vorhatte.

„So haben wir die Geister der früheren Gäste in die Bar projiziert und feiern lassen.“

„Die Geister?“, dachte Thomas.

Ich war ja auch einmal Gast, bin aber nicht tot.

Chi schien das alles gar nicht zu kümmern.

Sie hörte selig lächelnd zu.

„Wir sind dankbar, dass ihr geblieben seid und mitgefeiert habt“, fuhr der Onkel fort.

„So konnten wir ein seltenes Mal wieder erleben, wie es damals war, als hier eines der Backpacker-Zentren war.“

Damals, als das Hotel MALAYSIA jedermann ein Begriff war, oder zumindest denen, die es anging. Es hatte einen eigenen Status und das bald gegenüber eröffnete BOSTON INN bediente zwar auf­grund seines aktuelleren Standards neuerer Ausstattung ein leicht gehobenes Klientel, schaffte es aber nie, die Legende zu erreichen. Im MALAYSIA wohnten sie in den Anfängen schon deshalb, weil es die in der Folge in der Umgebung sprießenden Gästehäuser noch nicht gab. Es war weder eigentlich billig noch zu den wirklich besseren Hotels gehörend, doch für Devisenzahler, einfach des Währungsgefälles wegen, günstig und locker zu bezahlen und dabei mit im Vergleich zu den Guesthouses richtigen Zimmern gesegnet. Telefon, Minibar, also kleiner Kühlschrank, Schreibtisch, TV und Vorhängen als Standard der Ausstattung.

Vor allem mit jeweils eigenem Bad.

Es gab Zimmer mit Air Condition, die teurer und daher nicht so beliebt waren. Hinzu kam, das Ventilatoren für Raucher praktika­bler sind, als geschlossene Fenster und Air Con. Denn so lautet die symptomatische Darstellung jener Zeitalter: Die Duldung und Praxis des Genussmittelkonsums ausländischer Besucher war trotz nach dem Gesetz schwerer Strafen selbst auf Besitz und Konsum von Verbrauchsmengen schon allein der Preise wegen in beider Hinsicht recht großzügig geworden. Sowohl die Staatskräfte hatten sich arrangiert, wie auch die Verbraucher ließen sich schwerlich aufhalten. So geht die Geschichte, ein forscher Ruf durch die Gänge des MALAYSIA, es fände eine Razzia statt, was gerne als Streich Einsatz fand, habe regelmäßig zu durchgängiger Betätigung der Toilettenspülung in praktisch allen bewohnten Zimmern geführt. Eventuell war es auch ein Verkaufstrick der Angestellten, die fürsorgliche Warnungen lieber einmal zu oft aussprachen, als den Gästen Ärger einzutragen. Logischerweise musste nach dem falschen Alarm schnell Nachschub her. So ließen sich die Händler einen freundlichen Ruf durch die Stockwerke sicher ein schönes Trinkgeld kosten. Tja, die Leute können einfach nicht genug bekommen. Tendenziell muss für die Marihuana-Händler mit den Besucherströmen junger Reisender aus dem Westen ein Eldorado angebrochen sein. Zahlungskräftig, friedlich und unwissend. Gute Umsätze und eine Polizei, die verständlicherweise weniger Lust auf internationale Komplikationen, als auf freundliche Geschenke hatte. Was wäre schon die Alternative gewesen? Ständig Festnahmen ausländischer Besucher? Bürokratie, überfüllte Zellen, die Gewalt zwischen Insassen begünstigten und eine Erklärungsnot gegenüber der Obrigkeit, weswegen in ihrem Distrikt so viele Probleme auf­kämen, sie ihn wohl nicht im Griff hätten und ob sie ihren Job nicht richtig machten. Nichts wie Ärger also.

Da bevorzugte man lieber die Variante, alles sei bestens im Lot, die Sache ruhig, außer vereinzelter Kleindelikte. Harmlos, wie alle Ausländer und ihre Angelegenheiten. Eine solch wunschgemäße Version würde die Obrigkeit so wenig überprüfen, wie sie diese interessierte, solange man die Version einigermaßen glaubwürdig vermitteln konnte, da die Situation effektiv entspannt war. Solange jeder bekam, wonach ihm war. Ansonsten konnte man auch Geschenke an bestimmte Stellen weiterleiten, die so was auch mochten und sich darüber noch weniger um den Zustand und Verlauf in den Vierteln sorgten.

All das war weit sinnvoller als internationale Komplikationen, wenn wirklich Härte gegen einen Ausländer anzuwenden man sich nicht entziehen konnte, um nicht an Gesicht zu verlieren, weil unnötiger Wind gemacht worden war. Keinesfalls erstrebenswert und enorm ungünstig, sollte es sich bei den ungezogenen jungen Leuten um Kinder reicher oder bekannter Personen handeln. Da musste man als Polizist schon aufpassen, dass denen nichts geschah.

Natürlich verschlechterte sich die Lage auch wieder und Problem­fälle sammelten sich an. Dazu kursierte aufkeimende Gier und Revierkämpfe folgten, denn auch andere schätzten das angenehme Geschäftsklima in einer Nachtwelt des Feierns als eine für sie passende Perspektive. Höheres Einkommen durch scheinbar anstrengungslosen Handel, dessen Produktnachfrage weder nach Innovation verlangte, noch Werbung erforderte.

Der BLUE FOX war direkt gegenüber dem MALAYSIA.

Open 24 Hours.

Was musste hier für ein Durchlauf geherrscht haben? Selbst wenn sich über Wochen auch viele Gäste, die dieselben blieben und auch nach Monaten wieder von Reisen nach Bangkok kamen, dort auf­hielten und es echte Langzeitanwesende gab. Damals hatte sich eine noch zahlreichere Familie die Schichten im BLUE FOX geteilt und waren das nicht alle Teilnehmer des Unternehmens.

Eine Institution sehr asiatischer Ausprägung.

Vollzeitversorgung des Grundbedarfes. Das braucht jeder.

Vor allem in der Fremde. Da wird der Mensch zum Mensch in seinem bescheidenen Wunsch nach Nahrung, Sozialkontakten, Interaktion, Anerkennung, Rausch. Immer willkommen zu sein.

24 Hours.

Der Uterus-Effekt einer höhlenheimeligen Kneipe, die immer auf hat. Geborgenheit. Was dem Reisenden in der Fremde manchmal abgeht, weil er erkennt, dass alles um ihn herum neu und deshalb eigentlich nicht vertraut, sondern fremd ist.

Die Macht der Masse an Menschen, die hier sich betrunken haben, begegnet sind, die Affären, die hier einen Anfang gefunden haben, Trennungen, Streit, Schlägereien, Geschäfte und ein gehöriges Maß an vertrödelter Lebenszeit schwang nach. Es war so einzigartig wie profan. Lokale dieser Art gibt es auf der Welt Tausende.

Die Geschichten, denen sie ein zuhause gaben, sind alle unwieder­bringlich. Der Rausch des BLUE FOX, einer kleinen Bar an der Ecke, die als Leuchtturm des Viertels für Verirrte der Nacht einen Riesenreibach machte und dabei voller Abenteuer war, bedeutete wahnsinnig viel Arbeit, einen Haufen Geld und ein aufregendes Leben, das den Thai beizeiten auch ganz schön auf die Nerven ging. Manche der Ausländer waren doch zu irre. Ein Trott und der Alltag langweilte die Jungen, aber allen war klar, noch besser wie hier wird es nirgends, wo sie nicht herkamen. Unter den Familien ist es nicht üblich, eine Goldgrube gegen moderne Ideen über ein freies Leben einzutauschen.

Da werden sie sich bestimmt einig. Wenn die unzweifelhaft niemals in Frage zu stellende Autorität des Alten den Nachwuchs vielleicht an die Sicherheit seiner Überzeugungen soliden Einkommens erinnern musste, waren sich jene eigentlich selbst im Klaren, dass sie schwer auskamen und so wenigstens überdurchschnittlich dastanden. Etwas anderes hätten sie nicht gelernt und von Luft und Liebe zu leben, bildeten sie sich schon aufgrund ihrer Erziehung und Erfahrung der Lebensrealität eines Normalbürgers nicht ein. Höchstens Mönch konnte man werden, was dem Alten gefallen hätte, entgegen dem, des Arbeitskraftverlustes. Doch Blut hatten sie schon geleckt und mit Geld war man nicht primär auf das Leben im Kloster aus.

Jetzt herrschte nur noch Nostalgie. So wie der Onkel angab.

Der Bedarf an sentimentaler Auferstehung besserer Zeiten war höchst real. Hatte der BLUE FOX in gleichwohl klassischer, wie bedauerlicher Tragik einem der befallartig über das Land Einzug haltenden 7eleven Läden weichen müssen. Diese 7eleven Läden nisteten sich mit Vorliebe an Straßenecken ein. So konnte man sie in zwei Straßen schon von weitem erkennen und von ihnen betreten und verlassen werden. Das erhöhte den Durchlauf. Und so das Geschäft. Viele nahmen gern beim Abbiegen schnell etwas mit. Zigaretten, den Take-Away-Kaffee, Feuerzeug, Getränk, Cracker. Tja, Amerikaner. Haben das Marketing erfunden. Danke.

Weil die Amerikaner mit ihrer unbändigen Fantasie so gerne glaubten, wir wären ihnen für die Einführung des Marketing wirklich dankbar, haben sie auch noch das Investment Banking erfunden. So sind sie eben.

So verschwand eine Institution als Opfer der wirtschaftlichen Ver­hältnismäßigkeit. Gegen 7eleven konnte sich der blaue Fuchs nicht behaupten. Aber 40 Meter weiter die Straße hinunter, Richtung Rama IV gab es ein Lokal sehr ähnlichen Couleur: WONG BAR.

 

Kleiner und anders. Open 24 Hours.

Mit Supermarktumsatz konnte man nicht konkurrieren. Nachfrage für das jederzeit willkommen bestand jedoch wie eh und je.

Auch in und vor dem 7eleven fanden sich nachts Trinker und einsame Wanderer ein, um sich die Zeit mit Unterhaltung zu ver­treiben und herumzuhängen. Oder einfach weil es nirgends sonst das Bier billiger gab. Immerhin war man an der Quelle. Zigaretten, Kondome, Eis, Wasser und alles billig. Flair hatte es keinen.

Die Mitarbeiter der Filiale waren sich wohl bewusst, von Gasthäu­sern untersten Preisniveaus umgeben zu sein und hatten sich an ihr Publikum gewöhnt. Solange es keinen Ärger gab und alle kauften.

Der Onkel im Traum schloss seine Dankeshymnen für beider Besuch und noch mal, dass sie nicht gleich wieder abgefahren seien, mit einem Wai und der Junge trat hervor, sprach, das Taxi sei da und ging zur Tür nachzusehen. Thomas fiel ein, dass er vorher noch auf die Toilette gehen sollte, weil er spürte, wie die Drinks seinen Körper wieder verlassen wollten.

Er wachte auf. Es drückte arg. Er freute sich, nicht im BLUE FOX, sondern im weichen Bett des Deluxe Room zu sein. Dann schnell zur Toilette, egal wie müde. Er wollte schnell hin, aber Chi nicht wecken. Also langsam bewegen, er war aber ungeschickt und stieß sich das Schienbein. Was hatte er nur für Zeug geträumt?

Die durch die Erleichterung von seinem Körper abfallende Spannung ließ auch seine Gedankenwelt wieder klarer scheinen. Thomas wurde sich entgegen der realistischen Wirkung des Traumes auf seinen Geist zusehends bewusst, dass es keiner Erklärungen der Geschehnisse darin bedurfte, da der gesamte Inhalt schlichtweg ein Traum und damit eben unwirklich war. Egal was ihm darin seiner tatsächlichen Erinnerungen an den BLUE FOX wegen als plausibel, möglich oder wahr vorkommen mochte. Sein Bewusstsein trennte langsam die Wahrnehmung seiner Umgebung, des Hotelzimmers und die Wahrhaftigkeit seiner aktuellen Situation des Urinierens, mit einer scharfen Japanerin im Rückhalt von der vor Minuten noch seinen Geist umfassend beherrschenden Illusion der nächtlichen Abenteuer in heruntergewirtschafteten Nachtlokalen ferner Stadtviertel. Etwa in der Art wie sich eine Suspension chemisch in ihre Anteile trennen lässt. In der Wirkung konsequent, aber unmöglich auf einen Schlag. Hatte er zu Beginn noch versucht, die eine oder andere Diskrepanz durch Überlegung zu überwinden und gegrübelt, was eigentlich Chi von der Geisternummer halten mochte, gab er letztlich jegliche Analyse auf und versuchte, nur mehr eine möglichst detaillierte Rekapitulation des Verlaufes zu bewältigen. Logisch musste es nicht sein. Es war ein Traum.

Seine Blase war unangenehm gefüllt gewesen und jetzt geleert.

Dies stellte sich äußerst real dar und die weitere Erkenntnis über die im Bett liegende Chi gestaltete sich nicht so unerträglich, dass man sie dem auch abgeschlossenen Traum nicht vorziehen mochte. So wenig es einer Verbindung beider Begebenheiten bedurfte, keine Notwendigkeit zum Einklang stattgefundener und projizierter Erleb­nisse bestand, so durchstreifte doch seine psychische Verarbeitung, es sei so oder so nun gut, da man schließlich im Hotel gelandet war und bereits geraume Zeit geschlafen hatte.

Sofort vergaß er diesen Unsinn wieder, da es Unsinn war.

Hätten die Ereignisse seines Traumes stattgefunden, müssten sie tagsüber geschlafen, das Frühstück versäumt haben und es wäre bestimmt schon Nachmittag. Dagegen war es noch immer dunkel. Chi´s Duft stieg von seinem Penis hoch zu seiner Nase.

Das manifestierte die konventionelle Realität aktuell als sogenannte Wirklichkeit. Angemessen pragmatisch dachte er daran, sich die Hände zu waschen, ließ es aber in einer Lust am Physischen, körperlich Animalischen sein, da er trotz großem Gefallen an einer gezielten Sauberkeit, momentan die Säfte und den Geruch ihrer beider Körper und deren Folgen des Aktes ausgesprochen genoss und ziemlich richtig damit lag, die ein, zwei Tropfen Urin, welche vielleicht ob seiner Notdurft nach dem Abtropfen hinzugekommen sein mochten und was davon überhaupt an seinen Fingern hatte bleiben können, machten im Gesamtdunst des Bettes kaum einen Unterschied. Die kühle Trockenheit der Air Con half allerdings eine Müffelgefahr zu begrenzen.

Thomas schlich zurück.

Chi hatte ihn schmunzelnd unter der Decke hervor durch die Glaswände des Bades beobachtet, schloss aber die Augen und stellte sich schlafend, als er sich wieder zu ihr wandte, um das Schlafzimmer zu betreten. Erst als er zu ihr ins Bett kroch und dazu die Decke hob, fragte sie: „Was ist? - Are you OK?“

„Sicher. - Sure“, sagte er schnell und küsste sie aufs Ohr, den Arm um sie gelegt.

„Du warst unruhig im Schlaf“, setzte sie nach.

„Ich hab´ geträumt“, antwortete er und so blieb ihre Frage nicht aus, worüber.

„About what?“

„Erzähl´ ich dir morgen.“

„Tell me now. I don´t want to wait“, bat sie ganz sanft darum und nahm Thomas die Sorge, er müsse sich in langen Erklärungen ergehen.

„Just tell me. It´s OK.“

Chi dreht sich dabei nicht zu ihm herum, sondern blieb einfach in seinem Arm liegen, als wollte sie nichts lieber, als in seiner Liebko­sung weiterschlafen und genau so war es auch. Nur den Traum brauchte sie noch dazu und morgen wollte sie davon nichts mehr hören. Da war ein neuer Tag zu leben. Keine alten Träume.

„Wir haben uns auf dem Heimweg vom Restaurantboot total verlaufen, bis wir mehr zufällig, als orientiert in einem ehemals legendären Durchmacherschuppen einer ganz anderen Gegend gelandet sind, wo wir uns ein Taxi besorgen wollten. Vor langer Zeit war ich einmal dort. Es gibt die Bar wirklich. Reichlich wilder Laden“, erzählte er ruhig.

„Die Betreiber haben aus Wehmut die goldenen Zeiten des Lokales anhand der Geister ehemaliger Gäste uns zu Ehren heraufbe­schworen, da wir die einzigen Besucher seit langem waren. Es gab eine ziemliche Party und es ging die ganze Nacht, bis sich der Hausherr am Morgen bei uns höflich bedankte und uns darüber aufklärte, bevor wir heimfuhren.“

„Ganz schön verrückt. - Craaazy“, drößelte Chi in ihr Kissen und schlief zufrieden weiter.

Thomas fragte noch: „Was denkst du?“

Vielleicht in wahrer Hoffnung von ihr noch etwas über Sinn und Zweck des Traumes zu erfahren, aber Chi brachte nur noch höflicherweise ein: „Please let´s sleep“, über ihre Schnurlippen und Thomas glaubte, auch noch einen: „Sweet dreams“, Wunsch zu hören, aber da war auch er schon wieder auf der Passage hinüber in das Reich von König Morpheus.

Chi´s Körpergeruch in seiner Nase, ihre Pobacken an sein jetzt ausgezeichnet entspanntes Becken gedrängt, seine Hand auf ihren Brüsten und die weiche Wärme ihres Körpers gegen die frische Kühle der Air Con, das hintergründig durch die Schallschutzfenster aufwehende Brausen der erwachenden Stadt, der feine Stoff der Bettlaken um ihre Haut und die Haare auf seiner Wange.

Niemand in seiner Situation hätte die Rezeptur dieses magischen Schlafmittels in weitere Zutaten zerlegen wollen.

6

Das Telefon klingelte pünktlich.

Auch Thomas erwachte daraufhin, wollte aber seine Augen lieber geschlossen halten. Chi sprang aus dem Bett und stellte den Wake Up Call ab, indem sie nur kurz den Hörer des Telefons von der Gabel hob, ohne auf die Automatenstimme, die daraus hervor zu tönen begann, zu achten und legte wieder auf.

Thomas öffnete doch die Augen. Er wollte sich die nackte Fee am Morgen nicht entgehen lassen. Seine neugierige Lust war noch größer als seine Müdigkeit. Für alles, was er wirklich gerne tat, brachte er die größte Disziplin auf. Sie beugte sich über ihn und küsste sein von den Kissenfalten zerknautschtes Gesicht.

Er verkündete in räuspernden Silben, noch schlafen zu müssen und Chi erinnerte sich an seine Schilderungen einer charakteristischen Morgentrance.

„Eine Stunde. Sonst versäumst du das Frühstück. Wäre schade um die hübschen Schenkel. Soll ich dir einen Wake Up Call program­mieren?“

Thomas war entschlossen, das Frühstück mit ihr nicht zu versäu­men. Egal wie müde er sich fühlte.

„Weck du mich lieber“, grummelte er.

Was sollte dieses ständige Telefongebimmel?

Chi setzte sich zu ihm ans Bett und küsste ihn noch mal.

„Thomas, ich gehe in mein Zimmer. Ich möchte mich umziehen und ein bisschen sammeln. Wir sehen uns beim Frühstück, OK?“

Das OK war zurück.

Thomas verstand das, war nicht ganz wach, wollte nicht, dass sie weggeht, wollte aber schlafen, wollte sie nicht festhalten.

„Soll ich dir einen Wake Up Call programmieren?“

Sie stand wirklich auf diese automatischen Weckanrufe.

„Ja“, antwortete er fahl und blinzelte sie an.

Chi küsste ihn wieder und deckte ihn noch mit ihrer Decke über seine zu. Nackt stand sie aufrecht vor ihm und sah einen Moment auf ihr schlummerndes Versuchskaninchen. Durch den Schlaf entspannt war sein Gesichtsausdruck unschuldig selig.

Chi dachte an den Sex und gleich wurden ihre Brustwarzen wieder steif. Sie nahm ihre Brüste in die Hände, streichelte sie und bekam schon wieder ein bisschen richtig Lust. Sie wollte ihn schlafen lassen. Er brauchte Erholung. Mit einem total unausgeschlafenem Kerl bei sich am Frühstückstisch hatte man keinen Spaß. Sie wollte sich umziehen. In ihrem Zimmer. Wenigstens eine Viertelstunde für sich sein und Ordnung in ihr Experiment bringen. Reflektieren. Gedanken sortieren. Thomas hätte zugeben müssen, dass dieses Mädchen, er betrachtete Chi ihrer Körpergröße wegen als Mädchen und vergaß geflissentlich, dass sie älter war als er, auch sehr viel sortierter war, als er selbst. Wenn sie ehrlich war, konnte auch sie eine Lustpause gut vertragen. Ihr Po verlangte wenigstens nach Erholung. Er hatte quasi Muskelkater. Analsex ist anstrengend.

Sie bereute nichts. Pause konnte aber kaum schaden.

Sich aufbauende Hormonspiegel machen Spaß.

„Gehst du jetzt gleich?“, unterbrach Thomas mit seiner quengeln­den Frage ihre Gedanken.

„Nein, keine Sorge. Ich muss mich doch anziehen. Schlaf ruhig.“

„Auch so eine sonderbare Idee. Anziehen“, machte er Witze.

Sie huschte ins Bad und zog ihren frischen Slip aus der mitgebrach­ten Kosmetiktasche und stieg hinein.

Schwarze Spitze mit Stickereien in Eierschalen-Apricot.

Abstrakt modernistische Muster. Sehr edel. Sehr teuer.

So wirkte sie nur noch zuckerfeeiger, was Thomas vorerst leider entging.

Chi fing zu singen an. Volkslieder aus ihrer Heimat.

Thomas drehte sich um und sah durch die offene Tür ins Bad.

Er sah sie von hinten auf den Zehenspitzen vor dem Spiegel.

So furchtbar müde, wie er sich fühlte, diese singende Elfe in Spitzenhöschen durfte nicht ohne dankbares Publikum sein.

Kein gesunder Mann könnte sich an einem solch verzierten Po, auf porzellanweißen Füßen balanciert, satt sehen.

Ihre trainierten Muskeln kamen bildschön zur Geltung.

So sollten anatomische Skulpturen aussehen.

Traumbildhaft schwebte sie aus dem Bad.

Eingelullt von den schlichten Melodien ihrer samtigen Stimme döste er wieder weg. Chi schaltete den Wasserkocher an und brühte sich mit einem der beiden pro Tag verfügbaren Pulverpäckchen einen Nescafé. Sie trällerte immer noch, kleidete sich dabei an und sammelte ihre Sachen zusammen. Sollte sie ihn wecken? Ja, einfach zu verschwinden, könnte einen falschen Eindruck hinterlassen.

Sie setzte sich zu ihm ans Bett, küsste seine Stirn, die Hand auf seiner Schulter: „Ich gehe jetzt. Bis gleich.“ - „Wir treffen uns unten“, wiederholte sie ihr Versprechen und gab ihm einen weiteren Kuss. Sie ging, packte ihr Täschchen und zog die Zimmertür leise von außen hinter sich ins Schloss.

Niemand beachtete sie in den Gängen. Die Hotelgäste waren mit sich beschäftigt oder pflegten die Tarnkappe der Nichtpersonen. Man zischte wie auf offener Straße aneinander vorbei, als sei der Andere kein Wesen. Dies sollte eine anonyme Art von Privatsphäre sicherstellen. Man hatte nichts miteinander zu tun. Ich tu dir nichts, du tust mir nichts. Ich bin nicht da für dich, weil du nicht da bist. Das nannte man Diskretion.

Höchstens mal ein freundliches Lächeln oder zustimmendes Nicken. Wenige trauten sich floskelartige Worte, Bemerkungen zum Klima und ähnliche Banalitäten oder gar konkrete Aussagen zu tauschen, was als unschicklich, aufdringlich und auf verdächtige Weise jovial missverstanden werden konnte. Die Anderen waren die Anderen und sollten und wollten das auch bleiben.

 

Kontaktaufnahme hatte seinen Platz in der Bar.

Noch viel anonymere, nichtvorhandenere und sicher höchst diskrete Zimmermädchen nahmen trotzdem alles wahr. In ihrem Zimmer suchte Chi die blaue Shorts vom Vortag heraus. Eigentlich wollte sie die waschen lassen. Aber einen zweiten Tag ging sie noch.

Es war einfach ein Spiel beim Frühstück, so wie gestern angezogen zu sein. Sie nahm ein frisches Shirt, das dem gestrigen glich.

Shorts waren gut. Es würde heiß werden.

Sie duschte, cremte ihr Gesicht ein und blieb, wie am Morgen zuvor, ungeschminkt. Sie sah sich im Spiegel und in ihre eigenen Augen. Ein wenig sah sie ihnen den kurzen Schlaf an. Noch immer war das Neue in ihrem Gesicht. Hier war sie allein. Morgen Mittag würde sie ihn verlassen. Ob Chi auch ohne ihn weiterlebte? In Chiyoko. Ob man eine Erfahrung, eine so eskapistische Erfahrung dauerhaft in die Persönlichkeit einbauen konnte? Ob das Gefühl blieb? So fragte sie sich stumm. Die Schwere der Gedanken wollte nicht zu ihrer Stimmung passen. Sie wollte weiter herausfinden, was ihr Experiment noch hergab. Die Zeit mit ihm genießen. Sie hatte Lust darauf. Sie hatte einen Mordsspaß. Gar nicht zu viel nachdenken. Sie hatte jetzt auch keine Angst mehr vor ihrer eigenen Courage. Sie war soweit. Bald würde auch Thomas zum Frühstück kommen. Sie ließ ihr Zimmer zurück. Es erschien ihr plötzlich fremd. Ein Hotelzimmer. Unpersönlich, klein, temporär, langweilig. Nicht das Zimmer der Ereignisse. Unlebendig. Wie könnte es an­ders sein, wenn du es in dem anderen Zimmer treibst, sprach das Superior Zimmer zu ihr. Sie merkte, dass es viel mit der praktisch doppelten Größe und der Ausstattung des Deluxe Rooms zu tun hatte. In zwei Zimmern mit Bad und Essgelegenheit, ließ sich leben. Ein einzelner Raum blieb immer nur ein Aufenthaltsort. Daran ändert auch der Luxus wenig. Letztlich dient er nur dem Zweck. Außerdem war hier eben alles so ordentlich, wie es Chiyoko immer hatte. Sie fuhr hinab.

Der Frühstücksempfangsdame war die feine, allein reisende Japanerin bekannt. So brauchte Chi ihre Zimmernummer nicht nennen. Stattdessen erledigte ein schlichtes Begrüßungsnicken die Sache. Tatsächlich vermutete Chi diesmal einen skeptischen Moment im Blick der Angestellten, schrieb diesen Eindruck aber ihrer speziellen Disposition zu. Sie war in einem Ausnahmezustand. Zu wenig Schlaf, übererregt, euphorisch und doch noch nicht ganz so sicher, wie sie gerade glaubte. Alles war doch sehr schnell gegangen. Es mochte verwirrender wirken können, als sie es sich derzeit eingestand. Sie meinte die Kontrolle zu haben und das stimmte wohl soweit. Soweit dies dem Menschen überhaupt gege­ben war. Chi sammelte ein paar Kleinigkeiten am Buffet auf einen Teller und steuerte auf den Tisch vom Vortag zu. Der war besetzt. Sie wollte es Thomas leicht machen, indem sie am selben Platz zu finden wäre. Na gut, dachte sie. Mal sehen, ob er mich findet. Sie ging zu einem Platz viel weiter hinten im Restaurant. Sichtbar von hier, denn der ganze Saal war sehr offen gestaltet, aber gut zehn Meter entfernt. Bisher war sie meistens dort gesessen.

Nicht das ein Anspruch bestand. Viele Hotelgäste setzten sich für die Zeit ihres Aufenthaltes gerne auf Stammplätze.

Vor allem Touristen. Ein kindisches Eroberungsverhalten.

Da war es praktisch, wenn man selbst auch denselben Platz einnahm, um sich nicht damit zu überschneiden, niemandem in die Quere zu kommen. Sonst meckerten die Platzeroberer. Chi dachte einen Moment darüber nach, ob sie gestern den Platz in der Nähe von Thomas unbewusst gewählt hatte. Am übernächsten Tisch.

Dazwischen hatte ja nur der junge Kerl in Katerstimmung gesessen. Sie hatte beim Hereinkommen an dieser Ecke schon gesehen, dass ihr Platz hinten bereits mit einem neuen Gast besetzt gewesen war, und sich spontan nach einer Alternative umgesehen und geglaubt, einfach den nächstbesten Tisch gewählt zu haben. Allerdings wun­derte sie sich jetzt, ausgerechnet neben diesem ungepflegten Kerl Platz genommen zu haben. Das passte nicht zu Chiyoko.

War es Thomas, der sie angezogen hatte? Zu viele Gedanken.

Eine Hostess bot Kaffee oder Tee an. Chi nahm Tee. Sie war nicht verliebt. Sie liebte, was sie taten. Sie liebte diese Erfahrung. Sich selbst. Ihr erweitertes Selbst. Sie wusste, sie konnte nicht mit Thomas leben. Sicher, ein paar Wochen vielleicht.

Aber nicht eigentlich.

Der neuerliche Wake Up Call traf Thomas in einer noch nicht lange erreichten Tiefschlafphase, so dass er ihm echt unpassend erschien. Er tat sich schwer diesem Kreislauftief zu entsteigen. Es hatte keinen Sinn, herum zu trödeln. Wenn er nur aufstünde, würde er schon in Schuss kommen. Er meinte nicht mehr, geträumt zu haben. Man programmiert im Traum keine Wake Up Calls. Hätte er schon schlafwandelprogrammieren müssen. Seit wann programmieren Schlafwandler ihre eigenen Wecker? Außerdem spürte er das verräterische Handtuch auf der Matratze und sah gleich darauf die Cremedose auf dem Nachttisch zum ersten Mal. Das heißt erst jetzt nahm er sie als Cremedose war. Dose mit Creme darin auf dem Nachttisch. Schlagartig wurde ihm klar, dass Chi nicht planlos vorging. Dachte er, dachte dann, der Pulverkaffee würde ihm behilflich sein. Er schmiss sich in den Bademantel und kreuzte zur Küchenzeile. Kaffee- und Milchpulver und der Zucker waren schon in der Tasse. Thomas musste nur den Wasserkocher einschalten. Wie fürsorglich von ihr. Kein großer Akt, doch war er wirklich froh, nicht mit mangels Aufwärmphase ungeschickten Fingern an diesen Kunststoffpäckchen herumreißen zu müssen, um an die Zutaten des anregenden Getränkes zu kommen. Chi hatte zudem einen der polierten Kaffeelöffel gerade ausgerichtet auf einer Papierserviette des Hotels neben die Tasse gelegt. In der Mitte des Tabletts. Auch im Bad war alles schön an seinem Platz. Hand­tücher, Seife, sein Rasierzeug aufgereiht.

Als ob es keinen Zimmerservice gäbe.

Thomas war voll warmer Wertschätzung für diese kleinen Signale.

Zeigten sie doch: Ich bin nicht weg. Ich möchte, dass du deinen, diesen Tag schön beginnst. Mit Gedanken an mich. So wie ich an dich denke. Damit du mich nicht vergisst, bis wir uns wiedersehen.

Nicht einmal diese halbe Stunde.

Nicht denken musst, du träumtest nur.

Wasser heiß. Kaffee. Dusche. In der Dusche erwehrte er sich nicht der Erinnerung an ihre Saugkraft. Da fiel ihm die Cremedose ein. Ganz zielsicher und schnell in einem Supermarkt gekauft, in den sie nicht gehen wollte, an den sie nicht mal gedacht hatte, von dem sie nicht gewusst hatte, kam ihm widersprüchlicher weise in den Sinn. Weiter. Föhnen. Diese tollen Hotels mit Fön. Rasieren. Er rasierte sich sehr sorgfältig. Er wollte eine schön glatte und weiche Haut anbieten. Wenn er schon nicht mit dieser Porzellanfee mithalten konnte, wollte er wenigstens sein Bestes geben. Deshalb cremte er sich mit einer Lotion das Gesicht.

Er ließ alles in Unordnung zurück. Blick auf die Uhr. Höchste Zeit.

Eine frische Jeans.

Er hätte wirklich gern mehr Kaffee gehabt.

Langärmliges Hemd, Socken und richtige Lederschuhe.

Thomas legte Wert darauf, dem Kleidungskodex des Landes zu genügen und nicht dem Irrtum touristischer, nachlässiger Strand­attitüde zu verfallen. Im Hotel, Frühstücksrestaurant war es sowieso kühl wegen der Air Con. Draußen schwitzte man so oder so.

Es wies einen als feines Gemüt aus, sich der Öffentlichkeit ange­messen zu präsentieren. Eine Frage der Höflichkeit. Als ihre neue Begleitung wollte er Chi in einem rechten Licht erscheinen und geschmackssicher wirken lassen. Niemand der sich mit einem ungehobelten Ausländer abgab. Nicht zuletzt wollte er ihr gefallen.