Skyline Deluxe

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Es erschien ihm ziemlich platt zu sagen, wie schön sie sei. Sie wusste wohl um ihre Selbstdarstellung, wenn sie sich so schminken konnte. Genauso, wie um ihre ungeschminkte, die unscheinbare Erscheinung. Tom war unsicher. Anschauen war so einfach.

Sie erlöste ihn und fragte: „Warum bist du erst weggelaufen?“

„Ich war zu überwältigt.“

„Das ist aber ein hübsches Kompliment.“ Sie lächelte.

Ihr Lächeln zeigte mehr von ihrem unscheinbarem Gesicht. Es war voller unschuldiger Freude über eine hübsche Sache. Wie von einem zehnjährigen Mädchen, das mit einer Freundin ein Eis essen geht. Auf dem Gesicht dieser erwachsenen Frau wirkte es entrückt. Tom war froh, spontan das Richtige gesagt zu haben. Noch immer war er das, was er damit gemeint hatte. Überfordert.

„Und dann hast du doch gewartet?“

„Ich hatte einen Plan.“

Sie lächelte jetzt zufrieden amüsiert. „Das ist ja interessant.“

Tom erzählte ihr von seinem Problem, sie, eine Japanerin, in dem Frühstücksrestaurant anzusprechen und seinem misslungenem Arrangement am Lift einen kleinen Zusammenstoß als Einstieg zu inszenieren. Er wollte ganz aufrichtig zu diesem wunderbaren Wesen sein. Etwas Persönliches erzählen, ohne sie mit seiner Lebensgeschichte zu langweilen. Dieser Plan hatte immerhin mit ihr zu tun. Er erwähnte seine charakteristischen Kreislaufzustände zu gewissen Tageszeiten und nicht zuletzt wie irritierend beein­druckend er sie an dem Tisch gefunden hatte. Tatsächlich legte er ihr seine Bezauberung so umfassend dar, wie er sie am Morgen erlebt hatte und es seiner Eloquenz entsprach. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich dabei von fröhlicher Belustigung, über leicht staunendes Interesse, bis zu mildem Glanz in den Augen, als sie den Kopf nun leicht geneigt seiner Beschreibung ihrer Erscheinung lauschte. Das gefiel ihr wirklich.

„Hast du deshalb deine Zeitung zweimal gelesen? Oder so getan.“

„Du hast es gemerkt?“ Es war ihm nicht mehr peinlich. Musste es ja nicht. Ach zu offensichtlich. „Ich musste Zeit gewinnen. Es gab mir mehr Gelegenheit dich anzusehen. Das ist wahr.“

Selten hatte ihr und ihrem Äußeren ein Mann soviel detailverliebte Aufmerksamkeit geschenkt und diese auch noch in Worte gefasst. Sie fand sich ehrlich geschmeichelt und zupfte unter der Tischplatte am Fingernagel ihres rechten Daumens. Tom erwähnte auch das, was er unscheinbar nannte und wofür er kein passendes Wort in Englisch fand. Er wollte sie bestimmt nicht beleidigen, nicht einmal vor den Kopf stoßen und druckste herum.

„Ich weiß, dass ich keine Schönheit bin“, sagte sie ohne Eitelkeit.

„Du bist eine strahlende Schönheit“, sagte er überzeugend.

„Ja, heute, wenn ich mich schminke. Es ist auch deinetwegen. Ich weiß sehr wohl, dass ich keinem der Ideale entspreche und die Männerwelt mich eher als blass empfindet. Ich habe genug Männer kennen gelernt.“ Auch das kam ohne Bitterkeit. „Sie sind immer ganz Flamme, wenn sie mich in Schale und Make Up auf Parties treffen und von meinem Erfolg erfahren. Mit mir ungeschminkt können sie nichts anfangen.“ Tom verstand das aufs Wort.

„Es freut mich sehr, dass dir meine Unscheinbarkeit ...“, sie benutzte absichtlich das englische Wort insignificance,

„ … gefallen hat.“

„Sie hat mir nicht nur gefallen. Ich mochte dich. Mehr noch. Ich spürte eine unausweichliche Anziehung. Das war das Irritierende. Ich verstand nicht, warum ich dich, ohne dich zu kennen, so gern hatte. Ich fühlte mich unglaublich stark zu dir hingezogen, obwohl ich das an nichts Besonderem festmachen konnte. Es wäre eine Erklärung gewesen, wenn du eine Model-Schönheit wärst. Aber weil ich dich mochte, mochte ich auch deine Unscheinbarkeit.“ Auch er benutzte nun das englische Wort betont. „Ich mochte sie, weil es deine Unscheinbarkeit war. Erklären konnte ich es mir trotzdem nicht.“ Ihr Herz leuchtete.

„Du hast meine Schenkel angestarrt“, sagte sie.

„Außerdem bin ich ein Model“, setzte sie beiläufig hinzu.

Tom stutzte.

„Was denkst du über meine Schenkel? Es ist sehr unhöflich, die Schenkel einer Fremden im Frühstückssaal so anzustarren. Noch dazu in Thailand.“

Hatte er doch gewusst, dass das nicht unbemerkt geblieben sein konnte.

„Deine Hose war sehr kurz“, gab er trocken zu seiner Verteidigung an.

„Es ist in Bangkok schon am Morgen sehr heiß. Ich wollte anschließend an den Pool. Außerdem hätte es unter dem Tisch keiner gesehen, wenn er nicht extra hinsieht.“

Sie neigte bei dem Satz ihren Kopf und zog die Augenbrauen hoch. „Jedenfalls kein Grund, meine Schenkel immer wieder Ewigkeiten anzustarren.“

Sie sagte das mit der pragmatischen Logik der Lösung einer Rechenaufgabe. Ohne Vorwurf im Ton. Sie war keinesfalls böse deswegen, obwohl es wirklich sehr ungehörig war, eine Frau in der Öffentlichkeit so anzustarren. Sie wollte nur eine ehrliche Antwort und ihn ein wenig triezen. Bestimmt hätte sie der Erhalt von Komplimenten bei der Gelegenheit nicht weiter gestört.

Sie sah ihm stets in die Augen.

„Du hättest ja etwas sagen können, wenn es dich so sehr gestört hat“, startete Tom einen kläglichen Versuch. Er wusste sehr wohl, dass eine feine Dame solche Aufdringlichkeiten nicht mit einer Reaktion belohnen durfte.

„Am Anfang hat es mich sehr gestört. Dann komischerweise nicht mehr. Du hast mir auch ins Gesicht gesehen. Das heißt, ins Profil. Lange. Dann wieder auf die Schenkel. Das gab mir zu denken. Jetzt rück schon raus. Waren meine Schenkel auch unscheinbar?“

Tom durfte dezent lachen. „Im Gegenteil, sie erregten mich sehr.“

„Oh“, entkam ihr spontan. So ein lustiges Oh, weil es den tief klingenden Vokal in einem ziemlich hohen Ton ausspricht. Ein herrlich japanisches Oh. Ein süßes Oh.

Aber sie hatte sich gleich wieder im Griff.

„Was dachtest du, als du meine Schenkel anschautest? - … while you were looking at my thighs?“

Es verging ein Moment, während er sie zärtlich ansah, bevor Tom sagte: „Das kann ich dir hier nicht sagen. Vielleicht versteht doch jemand Englisch.“

„Sag's mir ins Ohr.“

„Glaubst du das geht?“

„Na gut, die denken wir sind ein Paar. Beide Ausländer. Halb so schlimm“, antwortete sie.

„Ich lache ein bisschen, dann denken sie, du hast einen Scherz gemacht.“

Tom lachte leise. „Wenn das mal gut geht. Vielleicht verrät uns deine Reaktion. Du weißt doch nicht, was ich gedacht habe.“

„Bilde dir nur nichts ein. Ich weiß ja jetzt, was ich zu erwarten habe. Du hast noch nicht gemerkt, dass ich eine erwachsene Frau ...“, sie unterbrach sich. „Ich denke, ich bin älter als du.“

„Wirklich?“

„Ja, aber das spielt keine Rolle.“

„Natürlich nicht. Es passiert nur zu leicht, dass man Asiaten wegen ihrer Zierlichkeit jünger schätzt. Außerdem habt ihr diese tolle Haut, die nicht zu altern scheint. Viel langsamer jedenfalls. Mehr Spannkraft.“

„Ach was, es war deine männliche Überheblichkeit, die dir einreden wollte, du seist der jungen Frau zwei Tische weiter auch an Erfahrung überlegen“, sagte sie streng.

„Sagen wir, es war mein Beschützerinstinkt.“

„Einverstanden. Erkläre mir jetzt den Unterschied. - Now explain the difference to me.“

Sie legte den Kopf nach rechts, sah ihm in die Augen und gab im Blick die Milde ihrer Vergebung zu verstehen.

Tom verstand und schwieg, denn der Unterschied war nicht groß genug, um eine Erklärung zu rechtfertigen. Er hatte sie voreilig, vielleicht von seiner Anziehung geblendet, jünger geschätzt. Vielleicht fünf Jahre. Jetzt dachte er ganz richtig, sie sei wohl eher fünf Jahre älter. Das erklärte so manches.

„Was ist jetzt mit meinen Schenkeln?“, lenkte sie forsch auf das Thema zurück.

Tom begann nun auf Befehl seine Faszination für die schlanken, regungslosen Beine zu schildern und sprach auch aus, wie er über ihre Haut und deren Musterung sinnierte.

„Meine Haut ist gemustert?“, fragte sie verwundert nach.

„Ich weiß auch nicht. Nicht so gleichmäßig goldbraun, wie die der Thai.“

„Du weißt wohl, dass wir Asiaten wert auf helle Haut legen und vieles dafür tun.“

„Schön, aber ist es natürlich? Ich dachte auch, vielleicht scheinen die Äderchen durch.“

„Soll das heißen, ich hätte Krampfadern?“, verdächtigte sie ihn. „Und das willst du alles im Schatten des Tisches vom übernächsten aus gesehen haben? Du musst ja gute Augen haben.“

„Ich habe sehr gute Augen. Von Krampfadern war keine Rede. Ich finde deine Beine sehr schön. Sehr schön“, wiederholte Tom. Sie war zufrieden.

Er erging sich noch über die in seinen Augen auffällig ruhige Haltung, ihre disziplinierte Bewegungskultur insgesamt. Bis sie wieder auf seine spezifischen Gedanken zu ihren Schenkeln zurück kam. Tom beugte sich zu ihrem Ohr. „Ich bekam unglaubliche Lust, ihre Innenseite zu küssen, zu lecken. Langsam und zärtlich mit meiner langen, spitzen Zunge zu lecken bis zu deinen Schamlippen, an ihnen entlang und wieder zurück. Dann erneut und diesmal den Kitzler zu berühren. Wieder zurück und …“

„Hör bitte auf“, flüsterte sie ganz sanft. „Das ist wirklich zu viel für hier.“

Sie schob ein recht professionelles Lachen hinter her und erwähnte mit normal lauter Stimme deutlich hörbar seinen gelungenen Humor. Ein sehr tiefer Blick folgte. Seine lange, spitze Zunge hatte sie schon bemerkt.

Tom änderte das Thema. Sie brauchten wohl eine kleine Pause, um sich weiter kennen zu lernen. „Du bist Model?“

Sie war doch so unscheinbar, sagte von sich selbst, keine Schönheit zu sein.

„Ja, ein bisschen Laufsteg, für eine Japanerin, bin ich relativ groß, aber hauptsächlich, Hand-, Fuß-, Ohr-, Lippen- und Augenbrauen­model.“ Sie lächelte. „Und Stimm-Model“, setzte sie hinzu.

 

Tom achtete jetzt erst richtig auf ihre schönen Hände.

Ihre Lippen und ihre Stimme waren ihm schon aphrodisiakisch angenehm aufgefallen.

„Augenbrauenmodel?“, wiederholte er fragend.

Er konnte sich denken, worauf das hinauslief, wollte aber mehr erfahren.

„Das ist diese Kosmetiksache. Sie brauchen Leute mit guten Details für Großaufnahmen. Helle Haut und so. Feine Züge. Manchmal wollen sie auch einen bestimmten Typ für avantgardistische Mode. Es ist eigentlich gut, wenn man selbst kein sehr ausdrucksstarker Typ ist. Dann können sie einen in die Richtung schminken, die sie brauchen. Wichtig ist gute Symmetrie und Proportionen. Die kann man nicht herschminken.“

Tom wurde jetzt auch die höhere Schönheit hinter ihrer Unscheinbarkeit bewusst. Es war richtig, sie hatte sehr symmetrische und feine Züge und zarte Hände, deren Bewegungen sie fraglos perfekt kontrollierte. Die lange Nase konnte als Manko gelten, machte aber vielleicht einen avantgardistischen Typ aus. Über die Seidigkeit ihrer Stimme und Lippen herrschte kein Zweifel.

„Die Sprachaufnahmen sind vor allem Werbetexte. Nichts Besonderes. Man rutscht in so was rein, wenn man in den entsprechenden Kreisen ist.“

„Du meinst die Mode- und Kosmetikbranche?“

„Ich meine, ich bilde mir nichts darauf ein. Viele können das. Wenn man das Glück hat, mit Leuten bekannt zu sein, die diese Jobs anbieten, tut man sich leichter.“

„Wie bist du dazu gekommen? Deine Stimme ist wunderbar.“

Sie lächelte erfreut.

„Danke. Hör zu, ich komme aus einer wohlhabenden Familie. Da verkehrt man mehr oder weniger zwangsläufig in einer gewissen Gesellschaftsklasse. Nenne sie die Reichen und Schönen. In Asien ist diese Klassentrennung eventuell etwas konkreter. Man muss nicht arbeiten, obwohl man bessere Ausbildung genießt. Man arbeitet trotzdem, außer man ist Frau und heiratet. Nichtstun gehört sich schließlich nicht und ist auch nicht gesund. Welche Arbeiten kommen für eine junge Frau schon in Frage? Wenn man nicht gerade auf die Verbindungen des Elternhauses bauen möchte, schaut man sich nach Möglichkeiten um. Inzwischen bin ich es, die Models betreut und vermittelt. Asien ist IN.“

Tom hatte sich so was gedacht. Woher sollte sonst ihr ausgezeich­netes Englisch kommen. Derart korrektes Englisch mit dem noch dazu gut manifestierten amerikanischen Akzent war unter Japanern selbst in Geschäftskreisen nicht verbreitet. Im Übrigen erklärte das auch ihr hochprofessionelles Make Up und ihre feine Kleidung, selbst wenn es sich nur um die Pool-Shorts handelte.

„Dann bist du beruflich in Bangkok und im Fünf-Sterne-Hotel?“

Sie lachte verhalten. „Nein, mein Lieber. - No Dear.“

Korrigierend: „Ich bin auf Entspannungstrip, wie so viele Japaner hier.“

„Urlaub in Bangkok?“

„Denk nach. Im Vergleich zu dem stressigen Wahnsinn in Tokyo ist Bangkok erstens unglaublich günstig und reichlich entspannt. Dazu kommt, dass wir nichts arbeiten müssen und es hier alles gibt. Die Beziehungen zwischen Thailand und Japan sind dauerhaft und stabil. Für die paar Tage, die Japaner Urlaub machen, lohnt es sich manchmal nicht, auch noch weiter an den Strand zu fliegen. Vielen Asiaten bedeutet das Baden im Meer nichts. Ist es zu guter Letzt deine deutsche Sparsamkeit, die zu großes Aufhebens um das Fünf-Sterne-Haus macht? Im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten in Tokyo ist das hier alles kein Problem. Die Urlauber kommen schließlich nicht aus der Provinz, sondern sind Teil der Mittel- und Oberschichten der japanischen Großstädte. Da leistet man sich für die kurze Zeit nur das Beste und kostet das aus.“

„Trotzdem beantwortest du deine Emails.“

„Ja, und Bangkok ist auch modetechnisch zu interessant, um das aus den Augen zu lassen, aber ich bestehe jetzt darauf, nicht mehr über all diese Äußerlichkeiten zu sprechen.“

Das Essen war jetzt im Anmarsch. Da wie auf diesen Restaurant­booten üblich praktisch nur Seafood im Angebot war, hatte Tom, der damit größtenteils gar nichts anfangen konnte, panierte Riesen­shrimps mit Salat und Knoblauchbrot bestellt. Sie Hummer.

Wenn schon, denn schon.

Die Kellner servierten mit einem fröhlichen Lächeln und so war das Gespräch für den Moment unterbrochen.

Sein bequemes Fingerfood kam Toms begrenzt kultivierten Essma­nieren entgegen, während sie routiniert den Hummer zerlegte und die einwandfreie Zubereitung lobte. Sie bot ihm an, zu probieren. Er gab zu bedenken, er hätte noch niemals welchen probiert, da ihm das Essen einfach zu umständlich schien.

„Dann wird es ja Zeit. Es ist ganz leicht, wenn man weiß wie's geht.“

„Mir wäre es lieber, wenn du mich fütterst“, schlug Tom vor.

Sie lächelte. „Gute Idee.“

So kindisch die Sache vom Zweck der Nahrungsaufnahme her scheint, so regelmäßig fanden Paare daran Vergnügen, sich zu füttern. Sie tranchierte ein gutes Stück aus dem Tier und schob es in seinen geöffneten Mund. Tom musste unter ihren Augen kauen.

„Na, schmeckt der Hummer, wenn man die Arbeit damit nicht hat?“

Das Ding war auch voller Knoblauch.

„Ja, sehr gut, sehr zartes Fleisch. Schmeckt gar nicht nach Fisch.“

Mit einem sehr süffisanten Lächeln streckte sie ihm mit auffälligem Blick auf seine Zunge schon das nächste Stück entgegen.

„Auf das feine, zarte Fleisch kommt es an.“

Er wurde mit immer weiteren Häppchen versorgt und musste so das Sprechen sein lassen. Die Shrimps blieben vorerst liegen. Beiden gefiel es. Sie sahen sich ununterbrochen in die Augen.

Der Hummer war fast alle, als sie aufhörte. Tom sah es und bot ihr panierte Shrimps an. Sie nahm einen, bestellte aber noch Austern nach. Tom fand es trotzdem bequem, jetzt einfach ein bisschen an seinen Garnelen zu nagen. Nachdem sie den Rest des Hummers verspeist hatte und die Austern noch auf sich warten ließen, fing sie an: „Wir haben nicht viel Zeit.“

Tom zuckte kurz. Das gefiel ihm nicht.

Er wollte aber nicht unterbrechen.

„Ich möchte nicht über Beruf, Familie, Status oder gar Geld, Politik oder die Gesellschaft sprechen“, fuhr sie fort. „Ich möchte über uns sprechen. All diese Dinge sind äußerlich und spielen für uns keine Rolle. - They don't matter for us now. It is all about you and me only.“

„Aber das gehört auch zu uns, der Beruf, die Familie, der Status …“

„Ja vielleicht, wenn wir heiraten wollten. Wir werden nicht heiraten“, sagte sie trocken.

„Wer weiß.“

„Red keinen Quatsch. Das mag ich nicht. Wir mögen uns. Wir sind neugierig. Du zuerst. Dann ich. Du fühlst dich zu mir hingezogen. Von mir angezogen, sagst du. Damit hast du mein Interesse geweckt. Jetzt mag ich dich ein bisschen. Vielleicht weil du mich magst. Ich weiß das nicht genau. Noch nicht. Vielleicht täusche ich mich in dir. Ich glaube nicht. Ich bin neugierig“, wiederholte sie. „Wir lieben uns nicht. Wir sind nicht mal richtig verliebt. Vielleicht werden wir Freunde. Hoffentlich, aber im Moment möchte ich nur dich. Es geht nur um dich und mich.“

Tom war sehr erstaunt über die Mischung ihres ausdrücklichen Willens zur menschlichen Nähe nach so kurzer Zeit und dem auch fragwürdigen Einstieg in die Bekanntschaft durch einen unschick­lichen Schenkelstarrer, ihre Zuversicht in die Verbindung mit der kategorischen Konzentration auf das Unmittelbare, mit Rücksicht auf einen straffen Zeitplan, bei einem vollkommen klaren Anspruch an sie beide und nur aufrechter Einsicht in eine Gefühlswirklichkeit ohne unnötig falsches Sentiment. War das japanisch, Oberschicht oder einfach nur Klasse? Jedenfalls mehr als er sich erhoffen konnte. Diese Frau war ihm überlegen. Das löste ein starkes Gefühl der Geborgenheit bei ihm aus. Er spürte unbewusst, sich fallen lassen zu können.

Sie würde den nächsten Schritt immer kennen.

„Ich bin Musiker. Die Musik ist doch ein untrennbarer Teil von mir. Das muss dich nicht interessieren, aber dann kennst du mich nicht wirklich“, wandte er nicht ganz zu unrecht ein.

„Du bist Musiker. OK.“ Ganz anderes OK. „Schriftsteller, Künstler, Taxifahrer …“, zählte sie auf, was ihr in den Sinn kam.

War ich auch mal, wollte Tom salopp einwerfen, verkniff es sich aber. Es interessierte ihn weit mehr, was sie zu sagen hatte. Sie gleich zu Beginn mit dem von Vorurteilen gepeinigten Berufsbild zu verschrecken, wünschte er sich auch nicht. Gutes Argument für ihren Wunsch, so was außen vor zu lassen.

„ … Arzt oder Ingenieur. Na und? Für mich spielt das keine Rolle. Es zählt nur, wie du jetzt zu mir, mit mir bist. Sonst nichts.“

Mit gewissem Recht schloss sie aus seiner Logis im Fünf-Sterne-Hotel, es könne nicht allzu schlecht um seine Einkommenssituation bestellt sein. Sie wusste nicht, dass er sein Zimmer mit Bonus­meilen der einheimischen Fluggesellschaft beglich, da er sonst auch mit einfacheren Standards durchaus zufrieden war. Zählte doch die Atmosphäre, wenn es sonst sauber war. Da stimmte es bei den Thai auch meist ohne Luxusklasse. Aber wahrscheinlich sind auch genü­gend Bonusmeilen ein Zeichen solider Finanzen.

„Und wenn sich das ändert?“

„Wenn sich etwas ändert, ändert es sich. Wie viele Gedanken willst du dir darüber verbreiten? Ich bin hier, genieße es. Ich genieße es.“

Tom genoss es. Europäer sind es sehr gewöhnt, weiter zu denken. Es hat mit ihrer immer leicht unbefriedigten Art zu tun. Den Wunsch eines Sicherheitsempfindens, den Status zu manifestieren. Das Angenehme aufrecht zu erhalten.

So Faustisch: Verweile doch ...

„Zugegeben interessiert mich die ganze Vorgeschichte auch nicht so sehr, wie die Zeit mit dir zu genießen. Wie wir das geworden sind, was wir jetzt sind. Das ist Vergangenheit und das Ergebnis zählt. Trotzdem bist du das alles auch und ich identifiziere mich sehr über Musik, meine eigene Musik und insgesamt.“

„Aber du bist nicht die Musik, du bist ein Mensch. Als den ich dich erlebe. Was interessieren mich Shows oder Aufnahmen, die du gemacht hast? Wenn du mir etwas vorspielst, ist es etwas anderes. Das ist jetzt, das tust du mit mir. Das bist dann du. Ich will nicht etwas über früher erfahren. Es zählt nur, was ich selbst herausfinde. Wie du zu mir, bei mir, mit mir bist. Nicht, was du mitbringst. Lass dein Gepäck zuhause.“

Die Austern kamen.

„Schon mal Austern gegessen?“

„Das ist eine Frage nach der Vergangenheit“, gab er vorgespielt störrisch an.

„Also nicht. Wieder zu umständlich?“

Tom lächelte. Sie war wirklich sehr schlau. „Und zu glibberig. Ich bin kein großer Fan von Muscheln.“

„Kein Fan von Muscheln? Kein Fan von Muscheln!“, höhnte sie. „Was soll das heißen?“

Dazu grinste sie ausnahmsweise fast ein kleines bisschen.

„Du musst probieren. Man muss alles mal probieren“, dozierte sie.

Er befürchtete, das schleimige Zeug schmecke ihm nicht und er verzog beim Schlürfen das Gesicht, aber es ging. Viel fleischiger als er dachte und nicht zu salzig. Zum Glück hatte er die Shrimps schon fast alle verschlungen, denn er sollte noch mehr Austern essen, verwies aber jetzt darauf, sie müsse auch etwas essen, worauf sie einging. Trotz allem würden Muscheln auch in Zukunft nicht zu seinen Leibspeisen zählen. Vielleicht wollte sie bei ihm mit den Austern die Libido anregen. Es hieß ja, das funktioniere und Japaner sollen in diesen Dingen gut sein. Oder sollte er das besser als Wunschdenken verbuchen?

Tom wartete mit seiner Frage bis sie die Auster geschlürft hatte und die nächste heraussuchte, damit sie sich nicht verschluckte. Das wäre ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen sicher passiert.

„Ich heiße Tom. Darf ich dich nach deinem Namen fragen?“

Sie schluckte, irgendwie um sicher zu gehen, die letzte Auster sei wirklich ganz aus ihrem Rachen verschwunden. Sie wollte ihren Namen eigentlich nicht verraten. Das hatte sie aber ganz vergessen. Weil es bisher an sich höchst unhöflicherweise nicht angesprochen worden war. Beidseits ein faux pas, der praktisch unverzeihlich keinem von ihnen in ihrer so kräftig aufkeimenden Vertrautheit aufgefallen war. Die unfreiwillige Sprechpause führte zu einer Nachfrage: „Willst du mir den auch nicht verraten?“

Sie war noch gestresst. Das geht natürlich eigentlich nicht. Ihre Souveränität war dahin. Sie hätte ihm irgendeinen japanischen Namen nennen können, aber lügen wollte sie nicht. Lügen sind nicht gut für Vertrautheit. Schon gar nicht für junge, zerbrechliche. Bevor er jetzt noch mal nachfragt, ob ihr Name ein Geheimnis sei, oder wie er sie nennen solle, wollte sie lieber antworten. Alles andere wäre peinlich. Was zierte sie sich so? Sie hatte ein bisschen Angst. Angst verletzt zu werden. Sie war scheu. So wie Tom eigentlich noch immer schüchtern war und von Frauen durch­einander gebracht wurde. Ihre direkte, bestimmende Art war nur der übliche Schutzmechanismus. Er unterstützte die Illusion die Kontrolle behalten zu können. Sie wollte sich ihm hingeben. Das hatte sie vor. Wenn bis dahin alles gut ging. Also warum nicht ihren Namen preisgeben? Kindisch.

 

In ihrer Aufregung sagte sie ihn auf die in Japan übliche Weise, den Familiennamen zuerst: „Kashiwa Chiyoko“, und vergaß die unab­dingbare zugehörige Anrede dahinter, aber davon wusste Tom natürlich nichts.

Sofort erklärte sie berichtigend: „Chiyoko. Chiyoko ist mein Rufname.“

Tom sah sie an. Er verspürte natürlich ihre Unsicherheit, die ihn sehr für sie einnahm. Sie war verletzlich. Sie zeigte es. Besser gesagt, konnte sie ihre Verletzlichkeit trotz ihrer guten Selbstbe­herrschung nicht verhehlen. Da wurde sie gleich viel menschlicher und wahrscheinlich regte sich auch sein Beschützerinstinkt gleich wieder. Er dachte an ihre Schenkel. Jedenfalls mochte sie ihn wirklich. Sonst wäre sie nicht verletzlich.

Sogleich antwortete er aufrichtig: „Ein wunderhübscher Name. Ganz allerliebst. - Very lovely.“

Sie lächelte ein 0,02 Millimeter Mundwinkellächeln. Sie war alles andere als beschwichtigt.

„Bedeutet er etwas?“

„Kind der 1000 Generationen oder auch Kind der Ewigkeit. Es sind zwei Silben: Ewigkeit und Kind“, antwortete sie abwesend.

„Was ist?“, fragte Tom.

„Ich wollte Namen eigentlich vermeiden.“

„Aha, und warum? Spricht man sich nicht mit Namen an? Ich war schon ganz unsicher, ob ich nicht einen unverzeihlichen Fehler gemacht habe, mich so lange nicht vorzustellen. Obwohl, es war irgendwie keine Gelegenheit.“

„Zugegeben ist das ein bisschen komisch … a little bit strange“, fing sie an, als er sie unterbrach: „Es ist ziemlich komisch - Quite strange“, und sich am liebsten gleich auf die lange, spitze Zunge gebissen hätte.

Er wollte natürlich die zerbrechliche Vertrautheit nicht mit dem Vorwurf, sie sei komisch, belasten, schob deshalb ein fröhlich konspiratives: „Sagen wir ganz schön komisch. - Lets say pretty strange“, nach und lachte sie an.

Sie lachte mit.

„Iss lieber deine Austern. Dann erklär es mir“, ließ er den Namen vorerst weg.

Sie nahm eine und verschlang sie. Es waren nicht mehr viele übrig.

„Iss du auch noch eine.“

„Nein, die sind jetzt für dich.“ Er sah ihr zu.

Sie schwiegen und genossen es beide.

„Ich bin hier ganz für mich. Möchte mich ausklinken und für ein paar Tage Alles vergessen. Beruf, Familie, Japan, Alles. Ich muss mich nach niemanden und nichts richten. Bin frei und mache nur, wonach mir ist. Da kommst du und es ist bestimmt nicht meine Art, mich mit Fremden einzulassen. Aber du bist du. Du bist hier. Du gehörst zur Echtzeit. Ich möchte diese Begegnung ausprobieren. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich weiß nicht, was es wird. Ich will es nicht wissen. Ich möchte uns aus dem, was mein Leben sonst ausmacht raushalten. Ich habe es dir schon erklärt. Es ist nur zwischen uns. Mein Name erinnert mich an Japan, mein Leben, an mich.“

„Aber es ist wirklich ein schöner Name. Ich finde ihn schön. Du bist doch nicht plötzlich jemand anderer.“

„Nein, nicht anders, aber frei.“

Tom sah sie fragend an. Frei war gut. Frei wovon?

„Versteh mich richtig. Es gibt kein Problem. Weder bin ich eine verlassene Ehefrau, noch eine verkrachte Existenz, es geht uns gut. Es gibt kein Krebs- oder sonstiges Krankheitsdrama, keine Welt­kriegsopfer oder solche Sachen in unserer Familie. Vielleicht ist alles zu gut. Aber eigentlich gibt es eben kein Problem. Ich befreie mich einfach eine Zeit lang von mir.“

„Das hört sich nach einer guten Idee an.“

Tom fand das ehrlich interessant. Diese Frau, Chiyoko, war interessant.

Aber interessant und spannend sagte man nicht.

„Du befreist dich von dir, um besser zu dir, neu zu dir, wieder zu dir zu finden. Dich zu entwickeln.“

„Das ist ein wenig psycho. Ein westlicher Psychologe könnte auch behaupten, mir sei in meiner perfekten Welt langweilig geworden. Ich fliehe vor eingefahrenen Lebenswegen, die mich anöden. Vor Langeweile. Aber mir ist nicht langweilig. Wir haben viel zu tun. Meine Familie ist super. Wir sind Asiaten. Man kann denken, ich zweifle, weil es mir zu gut geht. Ich würde Abenteuer suchen. Das ist Unsinn. Du kannst es auch Traumwelt oder Eskapismus nennen. Ich analysiere das nicht. Wir haben den Zen. Ich lasse es geschehen. Ich möchte es noch mehr geschehen lassen. Ich sehe es als ein Experiment.“

Aha, dachte Tom, ich bin ein Experiment. Er war gar nicht beleidigt deshalb. Das Experiment einer so faszinierenden Frau sein zu dürfen, nahm er gerne als Kompliment. Er war nur Teil des Experiments, aber das übersah seine Eitelkeit geflissentlich.

„Es ist ein Experiment ohne die Realität des Alltags. Anders gesagt: Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gibt sie doch. Es ist schwer zu erklären. Die Personen sind frei von Alltag. Emp­fangsdamen, Kellner und so weiter sind nicht verbunden. Sie haben ja ihr eigenes Leben und erfüllen in meinem Experiment nur ihre Funktion. Ich werde sie wiedersehen oder nicht. Es macht keinen Unterschied. Ich bin in dem Experiment nicht ich. Du kannst du sein. Du kannst Tom heißen, weil ich dich vorher nicht kannte. Letztlich bist du für mich nur du. Das du. Das Komplementär, das erschienen ist. Ich habe nicht gewusst, dass du erscheinen wirst. Ich wollte, hätte es auch nicht wissen wollen. Plötzlich warst du eben da. Ich bin froh, dass du da bist. Ohne dich wäre mein Experiment wahrscheinlich viel langweiliger geworden“, fing sie sich zu guter Letzt noch.

„Nachdem die Versuchsanordnung nun weitestgehend klar umrissen ist, lass uns sehen, was sich daraus machen lässt“, willigte Tom mit neckischem Spott ein.

„Es wäre mir lieber, wir würden nicht unsere normalen Namen verwenden“, blieb sie ernst.

„Das ist doch zu gequält. Kunstnamen erfinden. Ich darf ja Tom sein. Hast du nicht auch einen Spitznamen?“

„Nein, bei uns ist das anders. Trotzdem, wie nennt dich denn niemand sonst?“, fragte Chiyoko.

„Niemand nennt mich Thomas.“ Er sprach es deutsch aus.

„Aber ich mag Thomas.“ Sie sprach es englisch aus.

„I like Thomas. It sounds more sophisticated than Tom. - Es klingt feiner als Tom. Darf ich dich Thomas nennen? - May I call you Thomas?“

“Klar, gerne. Dann darf aber auch ich deinen Namen aussuchen. Was hältst du von Chi?“

„Niemand nennt mich Chi. Das ist eine gute Lösung. Mir gefällt das wirklich. - You found a good solution. I really like that. Chi.“

Sie wiederholte ihren neuen Namen ein paar Mal und lächelte jedes Mal ein strahlendes, kindliches Lächeln.

Sie bewunderte die Klugheit ihres jungen Freundes. Im Moment war sie ein bisschen verliebt. Gar nicht japanisch. Eher verliebt.

Sie versuchte sich zu fassen.

„Heute will ich mit dir die Tempellichter am Chao Praya bewun­dern, Essen schmecken, na ja ist jetzt schon fertig“, sie lächelte ein 0,08 Millimeter Mundwinkellächeln, „über die Reflexionen im Wasser sprechen, Nachtluft riechen, Sterne zählen und bei Thomas sein. Weil er Chi mag. OK?“

Der Chao Praya war ein prächtiger Fluss, die Sternennacht war klar und voller Gerüche. Wer würde sich dieser OKs erwehren?

„Ich zähle zwei Sterne“, sagte Thomas. „Ich auch“, antwortete Chi

„I count two stars.“ - „Me too.“