Skyline Deluxe

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Wenn sie tatsächlich eine Künstlerin ist, könnte das eine Erklärung für die Unscheinbarkeit bieten. Mancher entwickelte die Demut, seine eigene Person weit hinter die Kunst selbst zu stellen. Allerdings waren, seiner Erfahrung nach, viele besonders eitel, weil sie sich etwas auf ihr Talent einbildeten. War es nicht ein Gottesgeschenk? In Japan legte man doch Wert auf Demut. In Asien war die Person doch eher zweitrangig. Sich wichtig tun, galt als unfein. Eine schöpferische Seele könnte ein guter Grund für seine spontane Zuneigung so intensiver Ausprägung zu dieser Fremden sein. Ähnliche Gemüter zogen sich durch deckungsgleiche Schwingungen an. Eine Art Telekinese. Sie könnte dann im Geist über ein aktuelles Werk versunken sein. Wenn es aber diesen Gleichklang zwischen ihrer beiden Wesen gibt, musste sie das auch spüren und doch irgendwie reagieren. Oder war ihre Aufmerk­samkeit wirklich so andächtig auf eine andere Angelegenheit gesammelt? Meine Güte, zu viele Gedanken. Reagierte sie vielleicht einfach wie Frauen anderer Nationen, aller Nationen, die nicht gerade im technologischen Rückstand archaischem Totemkult huldigten? Sie war doch in Thailand. Im Fünf-Sterne-Hotel. Also Kosmopolitin. Hatte sie heute noch ein Rendezvous? Dann wäre sie doch hergerichtet und geschminkt. Würde sich nicht zurück­genommen präsentieren. Wartete sie einfach auf ihren Ehemann oder eine andere lang vertraute Person? Eine gute Freundin?

Tom sinnierte. Nein, sie wartet nicht. Ihr Verhalten zeugt von einer Pragmatik das Frühstück zu vollziehen, welche deutlich macht, sie werde den Saal nach Abschluss des Mahles genauso profan verlassen, da sie danach hier nichts mehr verloren hätte.

Ein Besteck fallen lassen? Sie war ja am übernächsten Tisch. Warum sollte sie sich bücken? Nein, man hob kein Besteck vom Boden auf. Das tat das Personal und man bekam frisches. Sie würde keine Reaktion zeigen. Wäre nur blöd. Ansprechen, im Sinne, was sie heute vorhätte, war plump. Ihm zu plump. Man hat ja auch so seinen Stolz. Und einfach plump. Er wollte ihre Intelligenz nicht beleidigen. Komplimente kämen nicht in Frage. Sie müsste eine Oberflächlichkeit unterstellen, den Vorschub von Allgemeinplätzen durchschauen. War sie doch offenkundig nicht auf optische Wirkung aus. Seine spezielle Begeisterung, bezogen auf ausge­rechnet diese, von ihm festgestellte und daher vor allem ihn persönlich berührende Unscheinbarkeit könnte einer Unbekannten kaum anders als verquer, fast gezwungenermaßen seltsam vorkommen. Womöglich eher beleidigend. Die Glaubwürdigkeit von etwas wie: „Hallo, ich finde Sie so wundervoll unscheinbar“, war eindeutig so minimal, wie es unmittelbar blöd klang.

Komplizierte Darlegungen mussten scheitern. Es wäre schnell peinlich. In einem öffentlichen Raum schier unerträglich. Vor all den anderen Japanern furchtbar. Bei all den Problemen entdeckte er jetzt ein neues. Was, wenn sie bald ginge?

Das war die Lösung! Sie musste schließlich auch wieder gehen. Sie sah, wie er schon eruiert hatte, nicht nach endlosem Frühstück aus und es war eh bald Schluss damit. Er würde gehen und an den Aufzügen warten. Wie zufällig. Ein Telefonat oder Email auf dem Smartphone vortäuschen, bei ihrem Erscheinen wegen der Ab­lenkung vom Telefon beim Betreten des Lifts stolpern und so ein Missgeschick zur Kontaktaufnahme herstellen, höfliche Entschul­digung anbringen. Da konnte man sich vorstellen und vielleicht den Namen erfahren. So beginnt ein Gespräch.

Alter Trick. Funktioniert. Wahrscheinlich sogar bei Japanern.

Japanerinnen.

Guter Plan.

Ab sofort keine verfänglichen Blicke mehr in ihre Richtung und dezent das eigene Frühstück abwickeln, um dann über die Wiederaufnahme gelassenen Zeitungslesens eine zeitliche Puffer­zone aufzubauen, die sich am Fortgang des ihren orientierte, damit er nicht zu früh zu den Liften aufbrach. So eine Tageszeitung konnte man schließlich so lange lesen, wie man wollte und jederzeit weglegen, wenn man zum Beispiel zu einem festgesetzten Zeitpunkt, aber nicht früher als nötig, quasi zu einem Termin aufbrechen sollte.

Das wäre auf gewisse Art sogar den Tatsachen entsprechend. Genial.

Die hochflexible Tätigkeit des Zeitungslesens bot zusätzlich die Möglichkeit, unauffällig in Bewegung zu bleiben. Beim Umblättern den Stand der Dinge ohne augenscheinliches Interesse zu recher­chieren. Er studierte Abschnitte vorgeblich bewandert. Abschnitte des Wirtschaftsteiles. Die eine und andere Meldung schien es ihm auch angetan zu haben. Dann belustigte er sich über die geliebte Comicseite, um sympathisch zu wirken, sollte es doch zu einer unbemerkten Wahrnehmung seitens der Angebeteten kommen.

Geschickt erkannte er an der abnehmenden Nahrung vor ihr und darauffolgenden Zurechtlegung des Besteckes auf dem Teller den kurz bevorstehenden Abschluss ihres Morgengedecks. Beinahe wäre ihm der Lesestoff ausgegangen. Seine Nervosität quälte Tom dabei, seine Szene zu vollenden. Bei einer so zierlichen Person wäre ein Nachschlag unwahrscheinlich. Sie würde nicht verweilen und Löcher in die Luft gucken. Da würde er sich zu sehr täuschen. Dem ernsthaften, wie unwillkürlich mechanischen und dadurch in seiner Einbildung echt wirkenden Blick auf seine Armbanduhr, es hingen für einen Frühstücksaal, des bevorstehenden Tages wegen zweckmäßig Uhren an den Wänden, fügte er das sportliche Zusammenfalten der Zeitung hinzu, woraufhin er im Vergleich zu seiner vorangegangenen Wissbegierde, die Umgebung betreffend etwas sehr teilnahmslos aufstand und zielstrebig den Saal verließ. Das könnte reell in plötzlicher Eile Erklärung finden.

Inzwischen war er erst richtig nervös geworden. Er hatte vergessen, der Dame am Eingang freundlich zuzunicken. Das geschah nicht aus Zeitdruck. Er durfte sich ja wohl nicht umdrehen. Im Gang versuchte er zu schlendern, was dem jüngst verstrichenen Hand­lungen widersprach. An den Aufzügen druckste er herum. Wie lange konnte man da lungern, ohne komisch zu wirken? Ohne einen der Knöpfe zu drücken, gedrückt zu haben. In Richtung des Saales durfte er nicht schauen. Erst mal nicht. Wenn es die sprichwörtlichen Kohlen zum Sitzen gab, so stand Tom auf brennenden Spießen. Sekunden dehnten sich. Minuten blähten sich zu Dekaden. Andere Hotelgäste, ein japanisches Paar, erschienen, erfassten den nicht aktivierten Anforderungsknopf, sahen verdutzt zu Tom, der eigene Verwunderung vortäuschte und Gesten vollführte, die eine Zerstreutheit zur Ursache des Versehens veranschaulichten. Er wedelte mit seinem Mobiltelefon. Daran hielt er sich unbewusst fest. Die Nervosität war reichlich echt und ungelegen. Aus Toms Warte verstanden. Lächeln. Der Mann hatte den Knopf inzwischen betätigt. Höllische Sekunden verstrichen bis der Aufzug kam. Tom suchte vermeintlich etwas auf dem Bildschirm des Fernsprechgerätes. Das Paar stieg ein. Tom blieb zurück, was ihm noch weit entgeistertere Blicke des Paares durch die sich schließende Metalltür verschaffte.

Eine fröhliche alte Europäerin, Portugiesin oder Spanierin flitzte heran, setzte eine ironisch enttäuschte Miene auf, lächelte ihn an und trat in einen gleich anschließend ankommenden Fahrstuhl ein, den vier Personen zügig verlassen hatten. Drei schnatternde Thai Teenies aus besserem Hause und ein ernster, sachlich leger gekleideter Amerikaner mittlerer Jahre, Halbglatze, leicht untersetzt.

Keiner davon nahm Tom zur Kenntnis. Die Portugiesin machte weiter lächelnd auffordernde Bewegungen, ihr in dem Lift Gesellschaft zu leisten. Wie es aller Logik zu Folge sinnvoll erschien. Tom winkte freundlich ab. Die Türen schlossen sich auch diesmal, ohne ihren Zweck an ihm erproben zu dürfen. So als Tür wollte man einfach durchschritten werden. Wieder konnte die kleine alte Frau ihr Minenspiel der Betrübtheit aufführen, lächelte aber durch den letzten Spalt abermals. Tom zögerte. Seine zum erfolgreichen Einstieg in die gewünschte Kontaktaufnahme notwendige Haltung schmolz dahin, wie Eis in der Mittagshitze der Stadt. Er drückte den Knopf. Bevor noch jemand kam. Die unendlichen Zeiteinheiten begannen. Er hielt es nicht mehr aus und drehte den Kopf nach rechts.

Während sie auf ihn zukam, sah sie ihm direkt in die Augen. Unverblümt offen und eisengerade. Ihre Gesichtszüge blieben regungslos. Sympathisch und verbindlich, aber ohne erkennbare Emotion. Tom versuchte eine auszumachen und war doch ein bisschen erfahren mit der scheinbaren Ausdruckslosigkeit asiatischer Gesichter. Man musste nur die Signale zu deuten wissen. Die Mimik der Asiaten unterschied sich von der extrovertierten, europäischen Version. Trotzdem existierte eine. Vielleicht könnte er ein minimales Lächeln, ein klitzekleines Hochziehen der Mund­winkelenden nachweisen, das einem Gesicht diesen sympathischen Ausdruck verlieh. Oder bildete er sich das ein. Wunschdenken. Wenn, waren es allerhöchstens o,o2 mm ihrer Mundwinkel.

Immerhin auf beiden Seiten zusammengerechnet fast ein halbes Zehntel.

Diese Gedanken hätten sie wirklich amüsiert und ihr einen deutlicheren Ausdruck guter Laune abgerungen, dessen Lächeln sie nicht verhindern wollte oder hätte können. Die Konzentration des Blickes auf den jungen Mann, der bemüht war wieder auf das Display seines Smartphones zu schauen, ließ sie nichts dergleichen erahnen.

Tom war irritiert. Sie kam auf ihn zu. Er drückte auf den Liftknopf. Zu seinem Glück öffnete sich die Tür, der bereits zuvor erfolgten Betätigung geschuldet, praktisch im folgenden Moment. Allerdings war das nicht sein Plan. Er hatte mit einer Anfahrt aus den höheren Stockwerken gerechnet und wollte in der Zeit seine Stolperszene einleiten. Nun trat er wie selbstverständlich, jedoch, um nicht durch eine unbegründbare Verzögerung seltsam zu wirken, zwangsläufig in die Aufzugstür, den Blick weiter scheinbar auf das Telefon­display gesenkt und höflich zu ihr, wie zu jemand, der einem so angenehm wie bisher unbekannt erschien, hinüber schielend. Sie fixierte ihn ununterbrochen. Er hielt die Tür den Moment bis sie da war auf, sie trat hinein und vermeldete in einwandfreiem Englisch mit eindeutig amerikanischem Akzent und ganz unverfänglich: „Thank you for waiting.“

 

Tom war bis ins Mark gerührt. Der sanfte Klang ihrer Stimme schenkte ihm eine liebevolle Flut an Zuneigung. Er hatte versucht, noch ein wenig den Gleichgültigen durch die Telefonstarrerei zu spielen, brauchte jetzt aber einen verräterischen Moment zu lange, um sich zu fassen. Sie waren vorerst allein im Lift. Zu zweit. Tom blickte auf. Der Stolperplan war dahin. Er traute sich vorsichtig und langsam, in ihre Augen zu sehen. Er suchte noch immer das erlösende Lächeln. Wenn es denn da war, musste es sich um eine fünfzigprozentige Steigerung auf 0,03 mm der Mundwinkel handeln.

„I mean it“, sagte sie. Beinahe hätte er das Mobiltelefon fallen gelassen, der reinen Muskelentspannung wegen. Es musste am Kreislauf liegen. Tom war in einem Aufzug zum Himmel. Sie sah ihm weiter direkt in die Augen. Die Intimität des winzigen Fahrstuhlraumes war optimal. Man konnte nicht weg. Zu zweit. Keine Zeugen.

„Have you got any plans for this evening?“, fuhr sie fort. Die Tür ging auf. Die Gäste davor realisierten, dass diese Fahrt weiter nach oben gehen sollte, und hielten sich mit Einsteigen zurück. Sie wollten hinunter.

Die Tür schloss.

„I am free“, brachte Tom zum Glück knapp heraus und es war die richtige Antwort. „My room no. is 2324. Will you give me a call around seven?“ Ihrer beider Blicke waren irgendwie eingeloggt, aber Toms Verzauberung rührte einfach von ihrer wundervollen Stimme. „Sure“, antwortete er und lag auch damit richtig. Die Tür öffnete sich. 23. Stock. Sie löste den Blick und verschwand. Tom blieb selig zurück. 25. Stock. Aussteigen Tom.

Er schwebte durch den Flur in sein Zimmer als ihm einfiel, dass ihm nicht so recht klar war, wie er in ihrem anrufen sollte. Er sah auf eines der Telefone. Da stand die Lösung auf einem Aufkleber mit Nutzungserklärung und steigerte seine Stimmung erneut. Einfach die 8 vorwählen und die Zimmernummer. Unglaublich praktisch diese Fünf-Sterne-Hotels.

Nach endlosen Minuten weiter, horizontloser Blicke über Bangkoks Dächer, in welchen nur die Vision dieser unscheinbaren Frau erschien, fiel ihm ein, dass er an dem Tag ein Studio besichtigen wollte. Erst als er ihre wenigen, an ihn gerichteten Sätze und den Klang ihrer Stimme zigmal in seinem Geist wiederholt hatte und sich in der Erinnerung ihrer Schenkel und der Nase, ihrer inzwischen unbedingt liebenswerten Unscheinbarkeit ergehen konnte, dachte er daran, auf die Uhr zu sehen. Ziemlich übermannt von der leichten Fügung der Kontaktaufnahme, fand er sich immer noch nicht verliebt. Tom beglückte sich darüber, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hatte. Er mochte diese Frau und sie mochte ihn. Gegen die Vernunft, gegen seine Gewohnheit, gegen seine Erfahrung über seine Neigung, aus heiterem Himmel. Er dachte jetzt an Freundschaft, was weit unrealistischer war, als reiner Sex. Kurz gesagt, ging seine romantische Seele mit ihm durch.

Das einzige, was wirklich klar sein mochte, weil es einigermaßen nachweislich erkennbar war, blieb der naheliegende Umstand, dass sein auffälliges Interesse an ihr, seine langen Blicke, natürlich nicht unbemerkt geblieben waren und die unscheinbare Dame als Alleinreisende, vielleicht alleinstehende Frau der Neugierde eines gutaussehenden, jungen Europäers nicht abgeneigt gegenüberstand. Tom war doch immer noch sehr naiv. Gerade Frauen betreffend. Der unverbesserliche Romantiker. Dann wieder nicht.

Wie hätte sie seine aufmerksame Beobachtung im Frühstücks­restaurant übersehen können? Hätte sie ja vielleicht blöd sein müssen. Ihre Konsequenz, diese vorerst zu ignorieren, war nicht als Abneigung zu deuten, sondern war taktisch oder zumindest begründet. Wirklich nicht abwegig. So viel verstand auch der in seinem selbstsüchtigen Narzissmus einfältige Tom. Er war zu klug, um sich von seinen sehnsuchtsvollen Träumereien blenden zu lassen und zu weise, um sich nicht seiner träumerischen Glückseligkeit hinzugeben, solange es ging.

Er hatte diese Frau kennenlernen wollen und es war entgegen seiner Bedenken so einfach passiert.

Im Moment war sein Glück perfekt.

2

In bester Laune duschte er sich, rasierte sich besonders gründlich mit dem vorhandenen Vergrößerungshohlspiegel, diese Fünf-Sterne-Badezimmer sind schon klasse, zog sich frisch an und ließ ein Taxi kommen. Das Studio lag in Sapan Quai, einem weit weniger gehobenen Stadtteil nördlicher Richtung. Dort waren sicher die Mieten günstiger. Seine Stimmung blieb ungebrochen, nachdem der Taxifahrer, welcher sich das angesichts der Hotelbestellung in der Auffahrt nicht getraut und daher erst jetzt den Taxameter eingeschaltet hatte, anfing, über die weite, bei dem Verkehr unpraktikable Strecke zu lamentieren, was sicher zu einem überhöhten Pauschalpreis für den Ausländer führen sollte, obwohl das natürlich nicht erlaubt war. Tom beschwichtigte ihn strahlend mit sauber ausgesprochenen Wohlwollensformeln im Sinne von Es gibt kein Problem, Alles wird gut, Gute Fahrt, gutes Geld, die den Fahrer einerseits in Zuversicht zu hüllen geeignet waren und ihn vor allem insofern einschüchterten, da die seltene Spezies, Thai sprechender Ausländer, den normalen Einheimischen immer wieder in Staunen versetzt und außerdem schon ein Zeichen von überdurchschnittlicher Güte ist. Angesichts Toms selbstbewussten Frohsinns, der dem Fahrer nicht verborgen, obwohl ihm dessen aktueller Anlass unbekannt blieb, tat dies sein übriges, einen abergläubigen Taxifahrer nun in willfährige Pflichterfüllung zu beruhigen. Tom gab ein großzügiges Trinkgeld. Immer gerne, er hatte nie seine eigene Zeit im Taxi vergessen. Der Fahrer zeigte seine Zufriedenheit dem ebenso sichtlich mit persönlichem Edelmut, wie finanziell gesegneten Fahrgast entgegen.

So ähnlich erging es Tom auch bei der Studiobesichtigung.

Der andauernde Herzensglanz seines frühmorgendlichen Erfolges wandelte auch hier die professionellen Schmeicheleien gegenüber dem potentiellen Kunden in echtes Ansehen und Tom hielt sich mit verbindlichen Zusagen zurück, da er sich einerseits nicht einwickeln lassen und die Sache in Ruhe überschlafen wollte und andererseits praktisch sein gesamtes Bewusstsein neuerdings stark von einer romantischen Vorfreude auf die Überraschungen des Abends vereinnahmt wurde. So nahm Tom die vielen technischen Details, die ihm als Vorteil des Studios dargelegt wurden, nicht einmal mit halbem Ohr wahr. Tatsächlich interessierte ihn das nie sonderlich. Das glaubten immer nur die Studiobesitzer, weil sich ein Großteil der Kunden deswegen wichtig machte, auch um nicht eingestehen zu müssen, davon eigentlich nichts zu verstehen, weswegen sie befürchteten, übers Ohr gehauen zu werden.

Vollkommener Quatsch. Der technische Standard reichte meistens aus. Entscheidend war die Zusammenarbeit und die Vibes zwischen ihm und dem Toningenieur. Sie luden ihn zu einem kleinen Jam ein, was sehr geeignet erschien, genau diesen Teil zu etablieren. Vielleicht merkten sie auch, dass Tom im Gedanken nicht so recht bei der Sache war, und versuchten ihn so, etwas auf ihre Seite zu ziehen. Nun war das Zusammenspiel wirklich das richtige, denn Tom konnte seine überaktive Gefühlswelt ausleben und musste nicht reden oder gar Zusagen treffen. Ein wenig delikat war es aber, als er die gut laufende Session so kategorisch abbrach, weil er einfach nicht zu spät ins Hotel kommen wollte und das Bangkoker Verkehrschaos nicht als berechenbar eingestuft werden konnte. Die Rush Hour begann früh und konnte Stunden dauern. Längere Strecken waren da einfach unkalkulierbar. Die Studiobesitzer waren verwundert, dass der entspannte Ausländer nicht weitermachen wollte und nur die mehrfache Versicherung, es stünde noch ein wirklich wichtiger Termin an und es läge wirklich nur daran, konnte seine Gastgeber überzeugen. Zu enthusiastisch wollte er auch nicht wirken, da er ihnen keine unnötigen Hoffnungen machen und sich die Entscheidung vorbehalten wollte. Sein eigenes momentanes Glück geriet dem Studio nicht zum Vorteil, da Tom es noch nie geschafft hatte, seine persönlichen Stimmungen aus dem Geschäft­lichen herauszuhalten, und deshalb wenigstens gelernt hatte, sein eingeschränktes Urteilsvermögen in solchen Fällen ruhen zu lassen. Natürlich konnte er ihnen die Geschichte des Tages nicht auf die Nase binden und was sollte es schon? Er würde sich melden. Das sagte man gerne, um nicht Nein sagen zu müssen. In Asien galt das auch. Tom meinte es ehrlich und würde sich melden. Es war kurz nach halb fünf, als er im Taxi zum Hotel saß. Zeit genug hoffte er. Es war sechs, als er anfing, sich Sorgen über eine verspätete Ankunft zu machen. Er fragte sich, ob er von seinem Mobiltelefon im Hotel anrufen und sich mit dem Zimmer verbinden lassen sollte, wenn er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Er war nervös und da schwand die Glückseligkeit leicht dahin. Natürlich würde jeder in Bangkok eine kleine Verspätung verstehen.

Das Problem war bekannt.

Tom war kindisch. Das gehörte zu seiner Stimmung. Er verlor den sogenannten Realitätsbezug und gab sich ganz den wunderbaren Wunschbildern seiner Gefühle hin. Trotzdem funktionierte sein Denken. Er musste sich aber bemühen. Daher entschloss er sich, in den Skytrain umzusteigen, was auch den Taxifahrer erleichterte. Er suchte um diese Tageszeit lieber kurze Fahrten, anstatt im Stau zu stehen. Es gab eine Station der auf Trassen über den Straßen laufenden Stadtschnellbahn direkt vor dem Hotel. Nur vier Stationen von hier. Konnte kaum mehr als zwanzig Minuten dauern, aber das Taxi konnte leicht eine Stunde hängen.

Tom war nun etwas verhetzt, als er gerade in seinem Zimmer angekommen zum Telefon griff, um nicht zu spät zu sein. 232…. Ah ne, KLACK machte das Kunststofftelefon, als er fahrig auf die Gabel hieb, um abzubrechen. 82324. Tonwahlverfahren.

Pop Pu Piip Pu Pep.

„Hi, how are you?“, war da wieder diese samtweiche Stimme.

„To be true, a bit stressed from the traffic and Skytrain. Had an appointment in the city up north. Just didn´t want to miss out“, klang er strapaziert, aber straight.

„Hey, relax, take a shower, take your time. Don't worry, I'll get myself busy with emails until your next call. OK?“

Tom glaubte fast, ein erstes Lächeln zu hören. „Half an hour?“, schlug er unsicher fragend vor.

„Whatever you need. I'll wait until you call. Bye.“ Sie legte auf.

Tom war perplex. Inzwischen Mitte Dreißig hatte er bei all dem Erfolg in der Frauenwelt kaum Souveränität oder sich anderweitig entwickelt. Letztlich war er ihnen, seinen Gefühlen und allem, was damit zusammenhing, ausgeliefert. Wahrscheinlich war es die einzig richtige Art, damit umzugehen. Was hätte man schon an Einfluss nehmen sollen. Wozu das führte, konnte man bei all den anderen sehen.

Eine Frau, eine, die kaum zwei Minuten mit ihm in einem Aufzug gefahren war, sich aber wie eine Schulfreundin benahm, ihm dabei jede nur erdenkliche Zuversicht gebend. Er wollte so schnell wie möglich fertig sein und zu ihr. Dann setzte er sich doch erst mal hin. Diese Stimme. War es das, was er so an ihr mochte, auch wenn sie nicht so toll aussah, überlegte er kurz. War doch Unsinn. Er hatte ihre Stimme doch nicht gekannt. Konnte man schwerlich aus langen Beinen schließen. Stimmt, das war es zuerst. Die Schenkel. Er mochte ihre Schenkel. Ihre ruhigen gemusterten Schenkel, die ihm so überaus reizvoll schienen. Er versuchte, diese engelhafte Stimme mit den Bildern von ihr zusammenzuführen. Er befürchtete, sich ein idealisiertes Traumbild zu malen und beim Wiedersehen enttäuscht zu sein. Wenn sie das bemerkte, wäre sie sicher gekränkt. Das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Er wollte sie keinesfalls kränken. Tom sah auf die Uhr. Es waren schon zehn Minuten verstrichen. Jetzt mal unter die Dusche. Erst noch: Durst. Er war wirklich in der anderen Welt. Deshalb brauchte er auch mehr als eine halbe Stunde. Dafür kam er wieder in die euphorische Laune. Er war jetzt wieder nervös, aber mehr aus Sorge, diese Freude könnte ihn verlassen. Er rief sie an.

„Hi, I am really hungry now. Are you ready?“, antwortete sie sogleich.

„Yes, I'm hungry, too. You wanna go to the restaurant?“

“No, let's go out. Just come to my floor with the elevator. I'll be waiting.“

Sie legte auf, klappte den Laptop zu und verließ das Zimmer Richtung Aufzug. Sie war längst fertig und hatte auf ihre Art Vorfreude genossen. Den ganzen Nachmittag hatte sie schon frei, war stundenlang im hoteleigenen Gymnastik- und Trainingsraum zugange und im Spa der Schlammbäder, Kräuterbehandlung und Gesichtsmasken unterzogen gewesen, danach in aller Ruhe nach oben gegangen, hatte sich geduscht und Make Up angelegt. Sich dann in eine schlichte Kombination aus feinster Seide gehüllt, die wenig Haut zeigte, aber ihre Brüste und langen Beine zur Geltung brachte. Ihre Brüste waren klein und fest, mit schönen Knospen. Der glatte Stoff war mit Wildseide-Fäden durchzogen. In einer engmaschig, gleichmäßig verteilten Unregelmäßigkeit zu ungefähr acht Prozent. Nur einzelne Fäden, die als solche kaum auffielen, aber insgesamt dem sandfarbenen Glanz der feingesponnenen Seide eine geheimnisvolle Indifferenz schenkten. Die Seide changierte bei jeder Bewegung in selbst nur gedämpfter Beleuchtung. Der Effekt war besonders auf dem eigens dafür entworfenen Bund schön sichtbar, der durch große Höhe und Breite, die Hüfte beim Gang mit sanften Wellenbewegungen umschmeichelte. Eine sehr raffinierte und teure Kreation, die sie zum ersten Mal trug.

 

Es machte ihr große Freude.

In seiner aristokratischen Eleganz für öffentliches Erscheinen geschaffen, beherbergte der Schnitt ein 4,7 Zentimeter langes Halfter. Eingenäht, eine winzige Einzelschusspistole für Damen unterzubringen, die sie zu tragen gewohnt war. Zuverlässig und einwandfrei gearbeitet konnte damit eine einzige Kugel eines Kalibers … ein Kügelchen abgeschossen werden. Dafür gab es kein Kaliber. Zur Selbstverteidigung im akuten Notfall war sie schlecht geeignet, einen Menschen zu töten. Vielleicht wenn man ihn direkt ins Auge traf. Es ging um Abwehr. Dazu taugte das Geschoss allemal, würde es doch durch Kleidung tief ins Gewebe eindringen, mindestens starke Schmerzen und mehr oder weniger Zerstörung verursachen. Unter der Achsel steckte sie durch eine Applikation kaschiert, die sich auf der anderen Seite aus Symmetriegründen wiederholte, im vorgesehenen Halfter. Teil der Kreation. Raffiniert und teuer.

Sie hatte die Idee nie gemocht. Eine Waffe zu tragen. Alle Roben für öffentliche Auftritte hatten diese Täschchen an verschiedenen Stellen. Die Hosen und Kleider. Sie trug immer diese Pistole, wenn sie in Japan das Haus verließ. Sie hatte es nie gemocht. Die Maßgabe stand auch nie zur Debatte. Die Pistole war nicht mit nach Thailand gekommen. Sie wollte darauf verzichten. Inzwischen hatte sie beschlossen, keine Waffenhalfter mehr in ihrer Kleidung zu haben. Sie würde sie nicht mehr tragen. Sie hatte es nie gemocht. Sie hatte es noch ohne ausprobieren wollen. Sie wusste es jetzt ganz sicher. So schwer es vielleicht durchzusetzen war. Es war Teil dessen, was passieren würde. Teil des Anfangs. Es hatte damit begonnen, diese Reise anzutreten.

Auch Tom hatte nun sogleich sein Zimmer verlassen. Er war aufgeregt. Als zwei Stockwerke tiefer die Tür aufging, sah er in ein Gesicht, das strahlend lächelte. Eine Frau, die er nicht sofort erkannte, aber gleich erkannte. Es war das unscheinbare Wesen von heute morgen. Aber sie sah aus wie das Covergirl der asiatischen Ausgabe von Harper's Bazar. Sie hatte dieselbe lange Nase und nur weil Tom sie ungeschminkt vom Morgen erinnerte, fand er im zweiten Blick die einfachen Züge in ihrem Gesicht wieder, so dass es ihm vertraut blieb. Schön war sie, sie war es am Morgen gewesen und jetzt entdeckte Tom erst wie ebenmäßig und symmetrisch ihre Erscheinung tatsächlich war. Wie als ging die Tür zum Himmel auf. Nur dass er nicht Einlass erhielt, sondern jemand heraustrat. Sie verstand sich zu schminken. Keine Silbe brachte er über die Lippen. Sie hätte ihn auslachen können, war aber weit davon entfernt. Kein Hauch eines Übels. Sie stellte sich neben ihn und sah ihm von der Seite ins Gesicht. Tom wandte ihr seines zu.

„Hey, wir müssen gleich durch die Halle“, sagte sie auf Englisch.„Versuch ein bisschen vorschriftsmäßiger zu erscheinen. OK?“, sprach sie ganz locker und berührte seine Finger an den Spitzen mit den Ihren.

„Wie soll das gehen, wenn du mich anfasst“, hatte er sich wieder gefunden.

„Ich lass gleich los, wenn die Tür aufgeht. OK?“, antwortete sie. „OK.“

Als Tom sie gesehen hatte, war sein erster Gedanke, verdammt, was muss die den jetzt dazwischenfunken, bis er sie vor Beendigung dieses Gedanken wiedererkannt hatte. Beim Frühstück war ihm die tiefere Schönheit, die atemberaubende Gleichmäßigkeit ihrer Gesichtszüge und des Körperbaus, der vordergründig nicht so idealen Merkmale wegen verborgen geblieben. Er dachte nicht an den klassischen Umstand, dass es diese feinen Gebäude sind, die sich am besten zu Schönheiten gestalten ließen. Ihre Nase gab der nur einen charakteristischen Akzent. Nicht, dass es fad würde.

„We order a taxi. You will do that. OK?“

Tom nickte ohne sie anzusehen.

Die Finger waren gerade das Schönste. Die Berührung.

Neben diesem spitzensüßen „OK?“, das sie dauernd an ihre Sätze hing und das so ehrlich um Einverständnis bittend klang.

Tom mochte diese Frau. Diese eigentlich fremde Frau.

Zum Glück wollte niemand während der Fahrt zusteigen und so öffnete sich die Tür am Ground-Floor und sie löste die Berührung, was Tom fast weh tat. In der Halle löste ihr Erscheinen strahlende Gesichter beim Empfangspersonal aus und man nahm beflissen Toms Wunsch nach einem Taxi entgegen.

Im Wagen fragte er, ob sie es toll fände, in einem der Dachrestaurants, vielleicht auf dem Millenium Hotel zu essen.

„Nein“, entgegnete sie, das sei nur sauteuer und sie fände eines der Restaurantboote auf dem Chao Praya viel schöner und unpräten­tiöser. Es wäre zwar schon ein bisschen spät dafür, aber sie würden einfach versuchen, noch eines zu erwischen. Einfach mal den Taxifahrer fragen. Tom fand die Restaurantboote super. Ihm wäre das aber nicht eingefallen. Viel zu aufgeregt. Sein letzter Besuch auf so einem Boot lag bald zwanzig Jahre zurück. Da war er noch Traveltourist. Dort könnten sie sich mit Ausnahme von Berüh­rungen ziemlich frei verhalten, reden, lachen und scherzen. Es war klar, dass es in der Öffentlichkeit, auch im Taxi, zu keinerlei Berührungen kommen dürfte. Das war Thailand. Berührungen wären zu intim, um schicklich zu sein. Unwissenden Ausländern würde das meiste verziehen werden und daran entwickelten besonders junge Touristenpaare vielfach Bedarf. Richtig, gerade für Mitglieder hoher Stände war vornehme Vermeidung von Intimitäten in der Öffentlichkeit. Der Taxifahrer wusste noch eine Anlegestelle für ein spätes und gutes Boot und einen Tisch bekamen die beiden auch. Bis sie sich am Tisch direkt an der Reling mit Blick auf Thonburi niederließen, sprachen sie nur mehr mit dem Personal und machten wie selbstverständlich den Eindruck eingespielten Einver­ständnisses. Man geleitete die sehr ansehnlichen Gäste zu einem schönen Platz.

Hier hielt man sie für ein Paar und so konnten sie sich ungezwungen benehmen. Ihre tiefen Blicke und die sanfte Sprache, bei lebhafter Kommunikation machte bei den fast ausschließlich chinesischen Gästen an den umliegenden Tischen einen guten Eindruck.

Sie setzte jetzt einen anhimmelnden Schimmer in ihr Augenpaar und wartete diesmal, was er sagen würde. Tom war gar nicht nach schnellen Worten. Er wollte sie gerne wieder ein wenig ansehen. Das hatte er ja schon am Morgen ausführlich betrieben und tatsächlich liebte er es allgemein, schöne Frauen anzusehen. Er überlegte noch, ob er ihr erst ein Kompliment machen oder nach ihrem Namen fragen sollte. Seinen zu nennen, kam ihm nicht in den Sinn. Den fand er ehrlich nicht so wichtig. Ein bisschen durcheinander war er auch immer noch. Er hoffte auch, sie würde doch noch etwas sagen, auf das er reagieren konnte.