Ich, eine schlechte Mutter

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PRESSEN SIE, MADAME!

Juni 1946. Ich liege auf einem gynäkologischen Tisch im Kreißsaal der Klinik Saint-Augustin, jenes Heiligen, der die Frauen für ewig gesegnet hielt.

Um mich herum ist alles weiß:

die Wände

die Decken

die Türen

die Rahmen der Fenster und ihre Vorhänge

die Betten und ihre Laken

die Tracht der Nonnen

Krankenschwestern und Hebammen

alles strahlend weiß

das OP-Besteck aus Edelstahl klirrt.

Mir ist kalt.

Die Hebamme hält meine Hand, der Geburtshelfer lässt sich auf einem Hocker zwischen meinen Beinen nieder, die an Steigbügeln befestigt sind.

Ich bin die Gebärende.

– Pressen Sie, Madame, sagt die Hebamme, pressen Sie!

Was denn pressen?

Niemand hat mir den Mechanismus der Niederkunft erklärt. Wehen, Dehnung, Austreibung, Nachgeburt …

Ich habe davon keine Ahnung.

– Pressen, pressen!

Ich würde gern schlafen.

Aber schon gleitet das Kind aus mir heraus, ich höre es schreien. Man trennt die Nabelschnur durch, wiegt das Neugeborene, säubert es von allen möglichen schleimigen Substanzen, wickelt es, legt es mir in den Arm und verkündet, es sei ein Junge, nimmt es mir wieder weg, legt es in ein weißes Bettchen. Der Arme. Ob ihm von diesem ganzen Hokuspokus schwindlig wird?

– Alles in Ordnung, Madame, sagt der Arzt, bevor er geht.

Nun bin ich allein, in einem Zimmer, in einem Bett. Ich fühle mich leicht, in meinem Bauch steckt niemand anderes mehr. Neun Monate sind verstrichen. Mein Körper gehört wieder ganz mir selbst.

Aber bin ich wirklich allein?

Nein.

Neben meinem Bett ist ein Bettchen, ein Baby, ein Kind, mein Kind, mein Sohn.

Ich setze mich auf, beuge mich leicht über das Nachbarbett, betrachte das kleine Männlein, das aus mir hervorgekommen ist.

So ist das also, ein Kind zu haben?

Schwarzer Schopf. Das Gesicht etwas rötlich. Er ruht sich aus.

Atmet. Schläft. Wovon träumt er?

Kann er schon träumen?

Ich berühre seine Finger.

Er nimmt von mir keine Kenntnis.

Ich war vierzehn, als Christa ihr erstes Kind bekam, ich habe gesehen, wie sie es versorgt hat, ich werde meins auch versorgen können. Eine Zeitlang. Ein paar Jahre lang. Zwanzig?

Lange, so viel ist klar.

Eindeutig, meine Dame.

Jetzt bin ich Mutter. Endgültig. Unwiderruflich Mutter, ein Leben lang.

Eine Art nie gekannter Sanftmut kommt in mir auf.

Dabei habe ich Angst, ihn zu berühren.

Angst und Lust. Angst, ihm weh zu tun, Lust, ihn kennenzulernen.

Ich habe es ja nicht eilig. Wir haben Zeit. Er und ich.

Wir werden gemeinsam leben.

Ich drehe den Kopf zum Fenster.

Alleen, Zierbecken, Rasenflächen. Der Belvédère-Park.

Pinien, niedrige Palmen, hohe Palmen, Eukalyptus, überall Blumen, dicke Büschel von scharlachroten Bougainvilleen und rosa Oleander. Hügel in der Ferne. Der Himmel noch blau. Bald bricht die Nacht mit ihren Sternen herein … Schlafen.

Ich weiß gar nicht, was mich erwartet: ein mühsames Leben in einer Sprache, die noch nicht die meine ist, in einem Umfeld von Kolonialherrschaft, in einem Land, das sich durch seine blendend weiße Architektur auszeichnet, hervorgehoben vom Blau der Nageltüren und der Maschrabiyya aus himmelfarbenem Schmiedeeisen. Ein Land, das ich mangels Zeit und Geld nicht erkunden werde, nein, ich muss mich um das Kind kümmern, den Haushalt, die Wäsche, sie auf der Terrasse aufhängen, unter dem immerblauen Himmel, mich kurz an den Ausblick auf die weiße Stadt erfreuen, schnell wieder runtergehen, zum Markt im Zentrum eilen, während der Kleine schläft, die Fülle an Obst und Gemüse bewundern, davon das billigste kaufen, mit einem voll beladenen Korb heimeilen, das Mittagessen zubereiten und es dem Mann servieren, der aus dem Büro gekommen ist, das Geschirr spülen, dem Kind die Windel wechseln, es ins Bett bringen, mit dem Mann Mittagsschlaf halten, die Wäsche holen, die Hemden dieses Mannes bügeln, zwei pro Tag, mit Metalleisen, die auf dem Gasherd angewärmt werden, wieder und immer wieder dem Kind die Windeln wechseln, es im Kinderwagen spazieren fahren, es entlang der Avenue Jules-Ferry schieben, die bei der Befreiung zur Avenue Habib-Bourguiba werden wird, bis zum herrlichen Grünstreifen, der den Blumenhändlern vorbehalten ist – mir kauft keiner Blumen –, zügig nach Hause zurückkehren, das Abendessen zubereiten und servieren, das Geschirr spülen, es einräumen, das Kind ins Bett bringen, müde einschlafen, nach der Liebe, auf die ich oft keine Lust habe, morgens aufstehen, voller Energie, das ja, aber überfordert angesichts der vielen alltäglichen Pflichten. Kurzum, ich werde mir meinen Tagesablauf von anderen diktieren lassen müssen, von meiner Familie, von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten.


An einem Vormittag von fünf Stunden macht sie den Kindern Frühstück, sie wäscht sie, sie kleidet sie an, putzt das Haus, macht die Betten, wäscht sich selbst, kleidet sich an, geht einkaufen, kocht, deckt den Tisch, verpflegt die Kinder in zwanzig Minuten, schreit sie an, bringt sie in die Schule zurück, spült das Geschirr, macht Wäsche und den Rest, den Rest. Gegen halb vier vielleicht kommt sie für eine halbe Stunde dazu, Zeitung zu lesen. Marguerite Duras3

3Das tägliche Leben, übersetzt von Ilma Rakusa. Frankfurt am Main, 1988. [A. d. Ü.]

ZWISCHENSPIEL

Nach der Geburt bieten uns korsische Cousins im Aufbruch für einen Sommer auf der Heimatinsel ihre Wohnung an.

Eine dunkle Rumpelkammer, ohne jede Farbe, mit Möbeln überladen, Spiegelschränken, Geschirrschränken, breiten Polstersesseln, Teppichen, Doppelgardinen, Nippes ohne Ende.

Ich kann kaum atmen.

Sobald das Licht aus ist, macht Martin sich bemerkbar. Schreit, brüllt, wie nur Babys es können. Summen, Streicheln, Fläschchen mit leicht gezuckertem Wasser … nichts hilft.

Er hat Angst, denke ich, es ist seine erste Nacht in der richtigen Welt.

Der Vater schlägt vor, ihn aus dem Fenster zu werfen.

Ernste Drohung oder plumper Scherz?

Instinktiv richten sich die dreiunddreißig Wirbel meines Rückgrats auf, ein Strom von Energie strafft mir die Schultern.

Ich bin die Mutter, die ihr Kind beschützt.

Ich schiebe das Weidenbettchen in ein anderes Zimmer, setze mich daneben, lasse ein Licht brennen, wiege meinen Sohn in der Hoffnung, ihn alle Feindseligkeit vergessen zu machen.

Und dann sehe ich sie: eine ganze Armee von winzigen Tierchen, die an den Laken entlang auf seine rosige Haut zukriechen …

Ich fange sie ein, zerquetsche sie.

Am Morgen lacht der Vater.

– Wanzen, sagt er.

Ich gerate in Panik, verlange eine Erklärung, sofortige Abhilfe. Er soll gefälligst etwas unternehmen, verdammt.

Er zuckt mit den Schultern, geht zur Arbeit.

Wie wird man Wanzen los, die das Blut eines Neugeborenen saugen?

Ob es am Stress liegt? Nach ein paar Tagen werde ich krank.

Wir rufen den Arzt, dem eine praktische Lösung einfällt:

– Fünfzehn Tage Erholung in einer Klinik, für Mutter und Sohn! In der Zwischenzeit sollten Sie sich um eine Wohnung ohne Ungeziefer bemühen, Monsieur!

Rückkehr zu den lächelnden Schwestern, den wanzenfreien Betten, zur Ruhe, in ein lichtes Zimmer ohne überflüssige Ausstattung und anderen Firlefanz.

EINSIEDLERIN

Eine Sozialwohnung am Ende der Avenue Jules-Ferry.

Von meinem Küchenfenster aus erhasche ich, wenn ich mir den Hals verrenke, einen Zipfel des Mittelmeers.

Ich wende mich dem Innenraum zu. Ich beobachte meinen Sohn. Ich gehe sanft mit ihm um. Das ist nur natürlich, ganz natürlich, das versteht sich von selbst, das ist selbstverständlich.

Es heißt, die Mutterliebe setze ein, wenn die Milch einschießt. Dabei füttere ich Martin mit dem Fläschchen …

Buttermilchpulver von Nestlé, mit abgekochtem Wasser angerührt, wie vom Kinderarzt vorgeschrieben. Wie von der Gebrauchsanweisung angeregt, die an der gelben Dose klebt.

Meine Milch schießt nicht ein.

Ich gebe meinem Kind nicht die Brust.

Hat man mir dazu geraten? Hat man mir davon abgeraten?

Habe ich Angst vor einer solchen Nähe?

Stillen war damals nicht in Mode.

Man hat es mir gegenüber nicht einmal erwähnt.

Ob meine Brust ihm fehlt?

Ist er nicht zufrieden?

Praktisch jeden Tag stelle ich seine Fortschritte fest: Ach, jetzt lächelt er, hör doch, wie er brabbelt; sieh an, er lutscht am Daumen; man könnte meinen, er folgt mir mit seinem Blick, ich gebe ihm die Rassel, er nimmt und schüttelt sie, er ist von seinen Händen fasziniert, er ahmt meine Laute nach, dreht sich um; ah, er möchte sich setzen; und hier ist schon sein erster Zahn, darum hat er gestern so viel geweint.

Es gibt keine zartere Haut als seine.

Ich singe ihm das Lied von den Händen vor, die so und so machen, ainsi font, font, font

Und da lacht er, da krabbelt er, sieh doch, er versucht auf zustehen, hält sich beim Gehen fest …

 

In meinen Augen ist er vollkommen.

Tag und Nacht

sind wir zusammen

der Innenraum ist unsere Welt

wir gehören einander.

Für mich zählt allein das Kind.

Ob das Mutterliebe ist?

DIE LIEBE

Und die andere Liebe? Die große Liebe, von der die Dichter sprechen? Die ich für meinen Ehemann empfinden sollte, den Mann meines Lebens?

Nichts dergleichen hege ich heute. Auch nicht gestern.

Dabei hatte es früher doch Lust gegeben, zwischen uns?

Die Liebe ist zu einem Akt geworden, der am späten Abend vollzogen werden muss, um den Tag zu beschließen, die Nacht zu eröffnen.

Ein vorausgeplantes Dessert, schreibt Flaubert, nach der Eintönigkeit des Abendessens.

Lähmende Routine.

Allgegenwärtiger Dauerfrost.

Ob mein Sohn wohl auch friert?

In dieser Wohnung am Hafen beugt sich der Mann zu mir, küsst mich. Spürt er denn nicht, dass ich mich kaum rege? Nein, er setzt seine Annäherungen fort, und ich will ihm nicht sagen, dass es mich leider kalt lässt. Ich will ihn nicht kränken, seine Verachtung auf mich ziehen, seinen Ekel, seine Übellaunigkeit.

Der Mann dringt schließlich in mich ein, und ich reagiere so gut wie gar nicht.

Langeweile befällt mich.

Jeden Abend sehe ich der Nacht bang entgegen, dem Mann, der glaubt, er dürfe mich einfach nehmen, wenn ihm danach ist. Ich will nur schlafen. Nicht gestört werden. Mich in den Schlaf fallen lassen, den bewegungslosen, und, wenn es sein muss, sogar traumlosen Schlaf.

An einem noch grauen Morgen verirrt sich eine Ratte durch die weit geöffnete Fenstertür, springt aufs Bett, durchquert es. Offenbar hat sie ihren Irrtum bemerkt, ist gleich wieder zur Tür hinaus.

Der Hafen ist nah.

Der Hafen. Boote. Dampfer.

Zwei blinde Passagiere im Frachtraum eines Schiffs?

Eine Mutter und ihr Kind?

Verrückter Einfall.

Ich hätte es gern

Ich konnte uns nicht retten.

Mir fehlte der Mut.

DER RIEGEL

Als der Mieter unter uns eines Tages hört, wie ich den Kinderwagen von einer Stufe zur nächsten hinuntertrage, bumm, bumm, bumm und wieder bumm, kommt er raus, um mir zu helfen.

– Schmitz mein Name, Erich Schmitz, ein alter deutscher Jude, der sich freut, in seiner Muttersprache mit Ihnen zu reden.

Wir tauschen Erinnerungen aus. Berlin, seine Stadt, meine Stadt, der Kurfürstendamm, der Grunewald, die Flüsse und die Seen, der zoologische Garten, die Doppeldeckerbusse, die U-Bahn, die Cafés, die Theater, die Museen …

Wir sind zwei Heimatlose …

Und so habe ich jetzt einen Freund, wir lächeln uns zu, Guten Tag und Grüß Gott, kommen Sie doch kurz rein …

Ich nippe an einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein, je nach Tageszeit, genieße Wiener Gebäck, erfahre durch meinen Gastgeber, einen gierigen Zeitungsleser, was in Deutschland vor sich geht.

Er bietet mir Bücher an, Zeitschriften, alles auf Deutsch. Treten Sie doch ein, mit dem Kleinen, ja natürlich, ist der süß, was kann ich Ihnen anbieten, so viel Zeit muss sein …

Sie vergeht, ohne dass ich es merke, bis ich plötzlich rufe: Ach du liebe Güte, mein Mann! Er ist bestimmt heimgekehrt …

Ich muss los …

Ich lache, ich möchte gar nicht weg, die Wohnung dieses Herrn erinnert mich an das Arbeitszimmer meines Vaters, überall Bücher, sogar auf dem Boden, alte Stiche an den Wänden, Nachschlagewerke …

Ich eile, die Tomatensauce auf dem Herd hatte ich ganz vergessen …


Die unschuldige Freundschaft zwischen einem liebenswürdigen alten Mann und einer einsamen jungen Frau endet bald mit einem Verbot:

– Ich will nicht, dass du dich mit Monsieur Schmitz abgibst. Sprachlos ob dieses Angriffs auf meine Freiheit, äußere ich meine Wut nicht. Ich bin wie das junge Pferd, das sich nicht einspannen lassen will, nur würde dieses junge Pferd laut werden, sich aufbäumen, nach allen Richtungen ausschlagen, während ich versteinere, verstumme.

Schließlich hat es diese Drohung gegeben. Am Abend der verspäteten Heimkehr hatte mein Mann auf mich gewartet. Rasend vor Wut. Dabei hatte er doch den Kinderwagen im Treppenhaus gesehen, vor der Tür von Monsieur Schmitz, er hätte klingeln können, stattdessen war er in die Wohnung hinaufgegangen, hatte die Herdplatte unter der Tomatensauce ausgemacht und sich hingesetzt.

– Na, knurrte er, war’s lustig beim Nachbarn? Beim Chleu? Küsst er gut, dieser dreckige Jude?

Über so viel Brutalität lachte ich hilflos, ich brach in Tränen aus, schrie, ich halte es nicht mehr aus, ich wolle weg, zu meinen Eltern, nach Hause, in meine Heimat, meine Stadt …

Da warnte mich der Mann

in seiner Eigenschaft als Polizeiinspektor

mit einem heimtückischen Lächeln,

dass sämtliche Grenzbeamten schon am nächsten Tag

die Weisung erhalten würden, mich festzunehmen,

eine junge Frau, ob mit oder ohne Baby, Pass, Ticket, egal!

– Du wirst es nicht schaffen!

Angst befiel mich.

Die Nazis hatten mich gelehrt, jene zu fürchten, die andere qua Amt zu Gesetzestreue anhielten. Diese Lehre hatte ich noch nicht vergessen.

Ich hätte um Hilfe schreien sollen. Aber wer hätte mich gehört?

Der Riegel war vorgeschoben, die Ehefrau, ich, unterlegen.

IN DER HERBERGE IST NOCH PLATZ

Martha, meine überaus gute Mutter, erkennt die Schwermut im Geplapper meiner Briefe: Alle sind wohlauf …

Martin hat jetzt mehr als zehn Zähne … Er ist ganz begeistert von der Auslage der Blumenhändler an der großen Avenue …

Ich habe immer Lust, mir welche zu kaufen, aber das wäre leichtsinnig … Es ist Erbsensaison … Anderthalb Kilo habe ich auf dem Markt gekauft, das Aushülsen hat viel Zeit gekostet …

Sie hat gerade ihren Mann und ihre Tochter Christa nach London geholt.

So ein Glück aber auch, diese britischen Pässe, Theos Geburt in Ghana, wo sein Vater Missionar war … Eva, die älteste Tochter, mit einem jüdischen Geschäftsmann ver heiratet, war 1933 auf diese Möglichkeit gestoßen, Deutschland zu verlassen.

Theo unterrichtet im Rahmen der Entnazifizierung deutsche Kriegsgefangene, Christa arbeitet als Barmaid, ihre Kinder besuchen die benachbarte Schule; sie wartet darauf, dass ihr Mann, einer dieser Gefangenen, die von Theo unterwiesen werden, entlassen wird. Martha führt ein Bed and Breakfast in Hampstead Heath, dem Viertel, in dem Eva und John – inzwischen hat sie ihren Geschäftsmann durch einen Kanadier ersetzt – mit ihrem Sohn leben.

Warum sollten Marguerite und Martin sich nicht einfach hinzugesellen? In der Herberge ist noch Platz.

Komm, im Büro der Air France liegt ein Ticket für dich bereit.

Und ich fliege davon.

Nichts konnte mich zurückhalten. Weder die leeren

Drohungen noch die großen Versprechen.

Mit Martin im Arm lande ich in London.

– Denk an nichts, sagt Martha, erklär mir nichts. Du bist müde. Geh rauf in dein Zimmer, wirst sehen, das mit den gelben Vorhängen. Lass den Kleinen hier, ich kümmere mich um ihn. Ah! Einfach die Tür hinter sich schließen zu dürfen, an nichts denken zu müssen. Schlafen.

Martin, sagt sie am nächsten Morgen, hat es an nichts gefehlt, und er hat auch ein Schläfchen gemacht.

Gegen sechs, ergänzt Theo, bin ich mit ihm rausgegangen.

Wir sind im Schein der hübsch umnebelten Laternen spaziert.

Ich habe ihm ein paar Zeilen von Saint-Exupéry vorgetragen … Das ist das friedliche Leben im Clan. Die Familie mag nicht reich sein, aber alles läuft harmonisch.

Abends herrscht großer Andrang.

Es wird über so vieles diskutiert: Politik, Literatur, Kunst, alles kommt zur Sprache. Deutschland. Der Untergang.

Der Wiederaufbau.

Ich lausche, sauge alles auf. Begierig.

In Tunis wurde mit mir über nichts geredet und ich redete mit niemandem.

Ich kehre nicht dorthin zurück.

Ich schreibe einen Brief.

Zwei Wochen später rückt der Mann an. Klingelt an der Tür.

Ich öffne sie nicht.

– Wir können ihn nicht auf der Straße stehen lassen, erklärt die weise Christa.

Wie wird dieser Besuch enden?

Jeden Tag versucht er aufs Neue, mich zu überreden.

– Dir gefällt Tunis doch.

– Ja, aber ich kehre nicht dorthin zurück.

– Und wovon willst du hier leben? Ich schicke dir garantiert kein Geld.

– Ich werde in einem Restaurant arbeiten, in einem Hotel.

Werde Französisch unterrichten, übersetzen.

Die Argumente wiederholen sich.

Meine Angehörigen halten sich taktvoll zurück.

Bei Tisch stellt Theo seine Französischkenntnisse unter Beweis.

– Tunesien ist ein französisches Protektorat, ruft er sich in Erinnerung. Ist das eine gute Sache?

Die Antwort fällt vage aus. Dem Besucher geht es nicht um eine Rechtfertigung des Kolonialismus.

Martha, stets liebenswürdig, vermag Distanz zu wahren.

Ob ich es vermag, wieder mit ihm zusammenzuleben?

Ihm zu gehören, wie es so schön heißt?

Nein!

Er gibt vor, sich um meine Eltern zu sorgen:

– Die Gäste zu bedienen, strengt deine Mutter zu sehr an.

– Das ist ihre Entscheidung. Außerdem wird das vermutlich nicht immer so gehen. Eines Tages werden sie nach Deutschland zurückkehren.

– Und du?

– Mal sehen.

– Und mein Sohn?

– Ich werde schon zurechtkommen.

– Mir bleiben nur noch fünf Tage. Am 20. Oktober …

Ich weiß, alle wissen es: Der Abreisetag steht schon fest. Am Abend vor der Abreise des Fremden findet das statt, was man einen Liebesakt nennt.

Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Hat er mir leidgetan?

Dachte ich vielleicht, ein Mal wäre kein Mal?

Dass es sich um eine Art Abschiedsgruß handelte?

Müßige Fragen.

In meiner Gebärmutter hat sich ein Fötus eingenistet, widersteht jedem Abtreibungsversuch, den wiederholten Sprüngen vom Tisch auf den Boden, den Petersilienaufgüssen, Chinindosen …

Nichts.

Kein Tröpfchen Blut.

Übelkeit.

Ich bin verzweifelt.

Ich schäme mich.

Theo redet von einer Rückkehr nach Berlin. Von der Wiedergeburt einer Demokratie.

Christa, ihr Mann, ihre Kinder sind bereit, nach Deutschland zurückzugehen.

Eva und ihr Mann denken darüber nach, England zu

verlassen und sich in Montreal anzusiedeln

wie so viele andere.

Und ich?

Ich stoße überall an

ich weiß nicht, was ich tun soll

wie kann ich

ohne Beruf, ohne Ausbildung

ein eigenes Leben wagen?

Meinen Eltern zwei Kinder aufzwingen?

Mich mit ihnen an Eva hängen?

Wie man sich bettet, so liegt man

comme on fait son lit, on se couche

das sagen mir meine beiden Sprachen immer wieder

ich sage es mir immer wieder

ich werde zwei Kinder an die Hand nehmen müssen,

zwei Kinder

des Zufalls, des Leichtsinns, den ich mir bis heute

vorwerfe.

Zwei Hände voll zu tun

tausend kleine und große Dinge

an ihnen zu verrichten von früh

bis spät

nachts auch

unaufhörlich

im verfrorenen, fragilen Nest, dem einzigen, das ich

ihnen bieten kann,

wo ich mein Bestes versuchen werde.

Ich, unbedachte, gedankenlose Mutter.

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