Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung

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Dass sich eine sichere Bindung entwickelt hat, zeigt sich beispielsweise an der mit sechs bis acht Monaten auftauchenden Fremdenangst und der Reaktion auf die Bezugsperson. Die Nähe zu ausgewählten Bezugspersonen entspricht dem angeborenen Bedürfnis nach einer sicheren Basis oder – wie Bowlby sagt – einem haven of safety. Der Wunsch nach Nähe zur vertrauten Person ist für das Kleinkind überlebensnotwendig, geht aber einher mit dem entgegengesetzten Bedürfnis nach Autonomie, sich von der Mutter (oder dem Vater) zu entfernen und die Umwelt zu erforschen. Manche Kinder reagieren sehr emotional und heftig, wenn sie von ihrer Mutter oder dem Vater für kurze oder längere Zeit verlassen werden, anderen merkt man kaum etwas an. Bowlby und Ainsworth vertraten die Ansicht, dass die Art und Weise, wie ein Kind auf die Trennung von ihrer Bezugsperson reagiert, Hinweise auf die Bindungsqualität liefert.

Mary Ainsworth entwickelte den klassisch gewordenen Fremde-Situation-Test (Bowlby & Ainsworth, 1985). Dabei handelt es sich um ein entwicklungspsychologisches Experiment, das die Kriterien Bowlbys für eine sichere Bindung zwischen Kind und Mutter nachweisen soll. Dieser Test ermöglicht die Messung der Qualität der Bindungsbeziehung auf der Basis des kindlichen Verhaltens in einer fremden Situation. Der Test – im Idealfall in einem durch Einwegscheiben beobachtbaren Raum durchgeführt – gliedert sich in acht Phasen von jeweils drei Minuten. Zu bemerken ist, dass es sich nicht ausschließlich um die Mutter, sondern um die wichtigste Bindungsperson, handeln muss.

1.Die Mutter setzt ihr Baby beim Spielzeug auf einer Matte am Boden ab.

2.Die Mutter setzt sich auf einen Stuhl und liest eine Zeitschrift. Mutter und Kind sind allein im Raum. Das Kind spielt.

3.Eine fremde Frau tritt ein, setzt sich zur Mutter, unterhält sich mit ihr und befasst sich auch mit dem Kind.

4.Die Mutter verlässt unauffällig den Raum. Die fremde Frau geht auf das Kind ein.

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5.Die Mutter kommt zurück, während die fremde Frau den Raum verlässt. Die Mutter beschäftigt sich mit dem Kind.

6.Die Mutter verlässt den Raum wieder, diesmal verabschiedet sie sich vom Kind. Das Kind bleibt allein zurück.

8.Die fremde Frau tritt wieder ein. Sie versucht, falls nötig, das Kind zu trösten.

9.Die Mutter kommt zurück, die fremde Frau verlässt den Raum.

Je nachdem, wie einfühlsam die Mutter respektive die Bezugsperson handelt und reagiert, entwickelt sich einer der nachfolgend angeführten Bindungstypen. Die Prozentsatzzahlen stammen aus der Untersuchung von Van Ijzendoorn und Bakermans-Kranenburg (1996).

• (A) Sicher: Eltern, die mit ihren Kindern feinfühlig interagieren, erhalten sicher gebundene Kinder. Die gefühlsmäßige Betroffenheit ist zu sehen. Das Kind sucht die Nähe und die Kommunikation zur Person. Das Kind lässt sich rasch trösten, jedoch nicht von der fremden Frau (ca. 55%).

• (B) Vermeidend-unsicher: Reagiert die Bezugsperson auf Trostbedürfnisse oder auf freudige Ereignisse eher reserviert und zurückweisend, erhalten die Eltern verstärkt vermeidend gebundene Kinder. Im Test zeigt das Kind einen eingeschränkten Gefühlsausdruck. Es meidet die Bezugsperson, äußert nur wenig Betroffenheit und setzt sich neugierig mit dem Spielzeug auseinander. Es begrüßt die Mutter bei der Rückkehr eher distanziert (ca. 23%).

• (C) Ambivalent-unsicher: Das Kind äußert eine starke Betroffenheit und sucht die Nähe, gemischt mit Ärger und Kontaktwiderstand. In der fremden Situation zeigt es vor allem Passivität, erkundet das Spielzeug wenig und lässt sich nach der zweiten Trennung von der Bezugsperson nur schwer trösten. Eltern solcher Kinder reagieren teils feinfühlig, gelegentlich zurückweisend (ca. 8%).

• (D) Desorganisiert-desorientiert: Die Kinder von desorganisierten Eltern zeigen deutliches, nicht auf eine Bezugsperson bezogenes und bizarres Verhalten wie Grimassenschneiden, Einfrieren der Mimik oder Erstarren. Das Verhalten ist insofern außergewöhnlich, als Abbruch, Wiederaufnahme und erneuter Abbruch der Kontaktaufnahme beobachtet werden können (ca. 15%).

Diese vier Qualitäten (sicher, vermeidend, ambivalent, desorganisiert) sind in den letzten 20 Jahren vielfach empirisch bestätigt worden. Im internationalen Vergleich zeigt sich dabei immer wieder, dass sich Erziehungs- und Sozialisationspraktiken unterschiedlich auf das Bindungsverhalten auswirken. In den USA und in Europa ist die Bindungsklasse A häufiger als Bindungsklasse B anzutreffen, während in Japan und Israel die Bindungsklasse C häufiger als Bindungsklasse B nachgewiesen werden |57◄ ►58| konnte. In vielen Studien hat sich ferner gezeigt, dass sicher gebundene Kinder aus Mittelschichtfamilien, die unter positiven Lebensumständen auf wuchsen, ihr Bindungsmuster häufiger behielten als unsicher gebundene Kinder. Eine Ausnahme bildeten desorganisiert gebundene Kinder, welche eine ausgesprochen hohe Stabilität zeigten.

Für die Entwicklung von Bindungsqualität zentral ist somit die Möglichkeit des Säuglings, zu einer oder mehreren erwachsenen Personen eine enge Bindung einzugehen. Eine große Rolle spielen jedoch auch die feinfühlige Fürsorge dieser Personen, die Passung des Umgangs mit dem Kind und seinem Temperament sowie die kontextuellen Aufwachsbedingungen. Insgesamt belegen diese empirischen Befunde, dass die Bindungsqualität keine Persönlichkeitseigenschaft des Kindes ist, sondern ein Beziehungsmerkmal, das sich im Laufe der Zeit wandeln kann. Allgemein gilt sie jedoch als stabiles Merkmal, das ein guter Prädiktor für problematisches Verhalten in der Schulzeit darstellt.

Bedeutet dies somit, dass sich eine sichere Bindungsqualität auf die nachfolgende kognitive, soziale und soziale Kompetenzentwicklung auswirkt? Dazu sind die Forschungsergebnisse nicht schlüssig. Sicher ist, dass die kontinuierliche Fürsorge ein Faktor von großer Bedeutung ist, um die Bindungssicherheit in den folgenden Jahren erhalten zu können. Unsicher gebundene Kinder zeigen in familienexterner Betreuung häufig Verhaltens- oder Anpassungsprobleme, während sich sicher gebundene Kinder deutlich häufiger als sozialkompetent erweisen, die in Konfliktsituationen besser mit Gleichaltrigen umgehen können als unsicher gebundene Kinder.

Was bedeutet Bindungssicherheit für ein Kind, das familienextern betreut wird? Diese Frage wird in Kapitel 9 ausführlich diskutiert. An dieser Stelle seien lediglich zwei Bemerkungen festgehalten:

a. dass hierzulande bildungs- und sozialpolitisch viel über diese Thematik gestritten wird, nicht zuletzt deshalb, weil die gesellschaftliche Akzeptanz von familienexterner Betreuung nicht besonders hoch ist. In anderen Ländern – wie Italien, Frankreich oder den skandinavischen Ländern – ist sie deutlich höher.

b. dass im Ergebnis nur geringe Unterschiede zwischen fremdbetreuten und in der Familie aufwachsenden Kindern ermittelt werden konnten. Von enormer Bedeutung scheint hingegen die Sensibilität und Responsivität der Mutter zu sein: Sie bestimmen die Bindungsqualität. Fremdbetreuung hat darauf fast keinen Einfluss – außer, wenn die Beziehung vorbelastet ist. Kommen solche Kinder in qualitativ hochstehende Fremdbetreuung, dann können sie ihre Bindungsunsicherheit jedoch stabilisieren. Werden unsicher gebundene Kinder zusätzlich ungünstig fremdbetreut, vergrößert sich das Risiko; sind sie besonders günstig, dann vermindert es sich.

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3.2.3 Die Entwicklung des Selbstkonzepts

Der früheste Hinweis auf ein während des zweiten Lebensjahres auftauchendes Selbstbewusstsein ist das Ich, ein Gefühl für das eigene Selbst als sich selbst erkennendes, handelndes Subjekt. Während des zweiten Lebensjahres beginnt das Kleinkind, ein Selbst zu konstruieren. So wird sich das Kind beispielsweise seines Aussehens bewusst, und im Alter von zwei Jahren beginnt es, seinen Namen oder ein Personalpronomen zu verwenden, wenn es sich selbst meint. Diese Selbstaufmerksamkeit ist es auch, welche zu seinen ersten Bemühungen führt, die Sichtweise anderer Menschen zu verstehen und diese mit der eigenen zu vergleichen. In der Sprache beginnen sich soziale Kategorien zu zeigen. Das Selbstkonzept des Vorschulkindes entwickelt sich in erster Linie in der zunehmenden Selbstwahrnehmung weiter. Diese geht beispielsweise einher mit Streitereien mit Peers um gewünschte Gegenstände, aber auch mit ersten Kooperationsversuchen mit anderen Kindern. Nach drei Jahren beginnt sich der Selbstwert auszudifferenzieren. Obwohl das Selbstkonzept bei Vorschulkindern bisher nur rudimentär untersucht worden ist, verweisen verschiedene Längsschnittstudien auf ein insgesamt hohes Selbstwertgefühl (Weinert & Helmke, 1997; Weinert, 1998).

3.2.4 Peerbeziehungen

Während der frühen Kindheit wird die Interaktion zwischen Kleinkindern immer wichtiger (Viernickel, 2010). Bereits sehr junge Kinder zeigen Gleichaltrigen gegenüber ein deutlich anderes Verhalten als gegenüber materiellen Objekten. Babys unter einem Jahr versuchen, Gleichaltrige anzulächeln, Laute zu äußern, sich anzunähern und sie zu berühren. Solche sozial ausgerichteten Verhaltensweisen kann man allerdings noch nicht als Interaktionen bezeichnen. Um solche handelt es sich erst dann, wenn das Gegenüber auch eine soziale Reaktion zeigt. Dies ist gegen Ende des ersten Lebensjahres der Fall (z.B. Austausch von Spielobjekten, gegenseitige Nachahmung; erste einfache Spiele). Im zweiten Lebensjahr manifestieren sich dann enorme Entwicklungen. Zunächst findet eine Entwicklung von vorwiegend nicht sozialer Aktivität auf das Parallelspiel hin statt. Mit Parallelspiel gemeint ist, dass Kinder Seite an Seite sitzen und ähnliche Materialien verwenden, jedoch alleine vor sich hin sprechen und vom Gegenüber wenig Kommunikatives aufnehmen.

 

Auch bei drei- und vierjährigen Kindern bleiben Allein- und Parallelspiel weiterhin bestehen. Fast alle Interaktionen finden in dieser Altersgruppe zwischen lediglich zwei Kindern statt. Die komplexe Situation, in der mehrere Kinder in einem Gruppenprozess ein Spiel initiieren, ihre Rollen darin finden und das Spiel flexibel abwandeln und weiterentwickeln, übersteigt sowohl die kognitiven als auch die sozialen Fähigkeiten vieler sehr junger Kinder. Sie stellt sich erst mit etwa vier bis fünf |59◄ ►60| Jahren ein. Zu beachten ist allerdings, dass Kleinkinder, die sich regelmäßig treffen, früher schon erste Beziehungsmuster entwickeln. So kommt es in stabilen Gruppen zu einer nachweisbaren Bevorzugung bestimmter Interaktionspartner. Die meisten Kinder bevorzugen ein oder zwei andere Kinder der Gruppe und treten mit diesen verstärkt in einen sozialen Austausch, während zu anderen wenig oder kein Kontakt entsteht. Diese Tendenz verstärkt sich im Verlauf der Vorschulzeit. Auch die Qualität der Interaktionen variiert in Abhängigkeit vom Partner. Es entstehen spezielle Beziehungen zwischen zwei Kindern, die von besonders positiver und kooperativer Natur sind. Auch wenn man gemäß Viernickel (2000) vorsichtig damit sein sollte, bei Kindern in einem Alter, in dem sie zur Selbstauskunft noch nicht fähig sind, bereits von Freundschaften zu sprechen, gibt die empirische Forschung doch Hinweise darauf, dass schon Kleinkinder zwischen mehreren Interaktionspartnern differenzierte Wahlen treffen und im Kontakt mit ihnen unterschiedliches Verhalten realisieren. Eltern haben auf die sozialen Beziehungen ihrer Kinder sowohl eine direkte (über die Beeinflussung der Peerbeziehungen) als auch indirekte Auswirkung (über ihre Erziehungspraktiken). Sichere Bindungsmuster und positive Eltern-Kind-Gespräche korrelieren mit positiven Peerinteraktionen. Für die FBBE-Thematik besonders relevant sind solche Befunde, weil dadurch die familienergänzende Betreuung die große Chance bekommt, durch die Erweiterung des Peerkreises insbesondere die Idee der frühkindlichen Bildung proaktiv zu unterstützen. Kinder lernen auf diese Weise nicht nur, wie man sich sozial austauscht, wie man einen Dialog führt, wie man sich eingliedert, wie man Regeln einhält und auch Kompromisse schließen kann, sondern sie lernen in solchen Settings auch den Erwerb vieler Vorläuferkompetenzen (sprachlicher und mathematischer Art). In vielen Untersuchungen hat sich dabei gezeigt, dass sozial kompetente Kinder über bessere Vorläuferfähigkeiten verfügen als sozial weniger kompetente Kinder (Osborn & Milbank, 1987; Sylva, Melhuish, Sammons, Siraj-Blatchford & Taggart, 2004; 2008).

Einer der beeindruckendsten Befunde ist, dass frühe positive Peerbeziehungen späteren Schulproblemen inklusive gesundheitlicher Störungen entgegenwirken können. Heute wissen wir, dass die soziale Positionierung der Kinder im Kindergarten ein starker Prädiktor für die soziale Stellung und die Schulleistung in der Primarschule darstellt, teilweise sogar für das Jugendalter (Stamm, 2005). Daraus folgt, dass soziale Interaktionen und Peerbeziehungen von Vorschulkindern bereits in diesem entwicklungspsychologisch relevanten Stadium genau betrachtet werden müssen.

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3.2.5 Entwicklung der Moral und ihre Kehrseite: Die Aggression

In den letzten Jahren ist die Frage, wie und ob sich Kinder von Erwachsenen vorgegebene Standards überhaupt anzueignen in der Lage sind, zu einer im bildungs- und sozialpolitischen Bereich hoch aktuellen Thematik geworden. Freuds Theorie besagt, dass der Mensch mit mächtigen sexuellen und aggressiven Trieben geboren wird und diese erst im Alter von fünf Jahren, wenn eine Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gelingt und er dessen Werte und Verhaltensstandards übernimmt, unter Kontrolle bringt. Disziplinierung, die sich aus Angst vor Strafe und dem Verlust elterlicher Liebe ergibt, ist der Gewissensbildung somit nicht förderlich. Der Behaviorist Watson wiederum stellte sich den Menschen als «unbeschriebenes Blatt», als «tabula rasa» vor, weshalb das Kind erst durch Belohnung bzw. Bestrafung das «richtige» bzw. «falsche» Verhalten lernt. Anders die soziale Lerntheorie: Sie betrachtet die Verstärkung und das Modelllernen als Grundlage moralischen Handelns. Daraus folgt, dass erwachsene Rollenmodelle für moralisches Handeln besonders effektiv sind, wenn sie sich als warmherzig erweisen, positive Autorität ausstrahlen und das, was sie dem Kind demonstrieren, auch selber tun. Häufige und harte Bestrafung wirkt sich auf die Internalisierung nicht förderlich aus und führt auch nicht zum Erlernen sozial akzeptablen Verhaltens, sondern zu vielen unerwünschten Nebenwirkungen. Die kognitive Entwicklungstheorie schließlich betont das Denken, d. h. die Fähigkeit des Kindes, vernünftig über Gerechtigkeit und Fairness nachzudenken. Schon in den Vorschuljahren sind junge Kinder in der Lage, moralische Urteile zu fällen und zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.

Alle diese Theorien moralischer Entwicklung erkennen an, dass das Gewissen in der frühen Kindheit entsteht. Die meisten Theorien unterstützen die Sichtweise, dass die kindliche Moral zunächst durch Erwachsene kontrolliert und erst nach und nach durch innere Standards reguliert wird. Dies geschieht über die Internalisierung der vorgegebenen Standards. Obwohl die Theorien in verschiedenster Hinsicht ähnliche Aussagen machen, legen sie andere Schwerpunkte. Die Psychoanalyse beispielsweise betont die emotionale Seite der Gewissensentwicklung, die soziale Lerntheorie betont das moralische Verhalten und wie es durch Verstärkung und Modellbeobachtung gelernt wird, und die kognitive Entwicklungstheorie das Denken. Diese kognitive Sichtweise mit den beiden Vertretern Piaget und Kohlberg hat die Forschung zur Moralentwicklung entscheidend geprägt. Gemäß Piagets Entwicklungstheorie (1976) verläuft die Entwicklung des moralischen Urteils beim Vorschulkind wie folgt: Aus einem amoralischen Stadium kommt es in ein Stadium des Respekts gegenüber unverletzlich scheinenden Regeln. Wer sich im Einklang mit diesen Regeln verhält, ist «lieb», wer nicht, ist «böse». Sein kindlicher Realismus bewirkt jedoch, dass es solche Regeln |61◄ ►62| allerdings wie andere Dinge betrachtet und unfähig ist, zwischen subjektiven und objektiven Aspekten der Umwelt bzw. seiner Erfahrung mit ihr zu unterscheiden (Egozentrismus). Während das Vorschulkind von einer autoritätsbestimmten (heteronomen) Moral geleitet wird, entwickelt sich gegen Ende des Grundschulalters eine selbstbestimmte (autonome) Moral, die unabhängig von den erwachsenen Bezugspersonen wirksam ist.

Aufbauend auf Piagets Modell, entwickelte Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens (Kohlberg & Turiel, 1978). Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu. Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, dass es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt. Das moralische Urteil entwickelt sich dementsprechend über drei Niveaus. Jedes dieser Niveaus enthält Stufen: (1) das präkonventionelle Niveau, (2) das konventionelle Niveau und (3) das postkonventionelle Niveau. Das erste Niveau ist dadurch gekennzeichnet, dass das junge Kind Moralität als von Belohnung, Bestrafung und Autorität kontrolliert versteht. Das zweite Niveau betrachtet die Konformität als Notwendigkeit, um positive menschliche Beziehungen und eine gewisse soziale Ordnung garantieren zu können. Im postkonventionellen Niveau entwickelt das Individuum abstrakte, universelle Gerechtigkeitsprinzipien.

Vorschulkinder, die wegen ihres aggressiven Umgangs mit anderen Kindern nicht besonders beliebt sind, übertreten moralische Regeln häufig. Dass Kinder von Zeit zu Zeit Aggressionen zeigen, ist jedoch normal. Allerdings gibt es junge Kinder – insbesondere impulsive oder überaktive –, die gefährdet sind, langfristige Verhaltensprobleme zu entwickeln. Diese negative Entwicklung ist jedoch abhängig vom Erziehungsstil der Eltern und dem Aufwachskontext des Kindes. Im Vorschulalter sind zwei Formen von Aggression zu unterscheiden:

• die häufig auftretende instrumentelle Aggression: Zu ihr gehören Schubsen, Anschreien oder Wegdrängen, wenn es um die Eroberung eines bestimmten Objekts oder eines Platzes geht.

• die feindselige Aggression: Bei ihr geht es darum, jemanden anderen zu verletzen. Sie kann sich auf zwei Arten äußern: als offene, direkte Aggression, die auf die Zufügung körperlicher Verletzungen ausgerichtet ist, und als relationale Aggression, welche auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen ausgerichtet ist. Erstere Form ist eher bei Jungen, letztere bei Mädchen zu beobachten. Da relationale Aggressionen|62◄ ►63| meist verdeckt sind, werden Mädchen häufig als weniger aggressiv wahrgenommen.

Was jedoch fördert Aggression? Zuerst einmal ineffektive Disziplinierungsmaßnahmen der Eltern, dann aber auch konfliktreiche Familienverhältnisse und Gewalt im Fernsehen. Kleinkinder verstehen Gewalt im Fernsehen nur rudimentär. Dies führt zu Nachahmungen und zur unkritischen Annahme des Gesehenen. Es gibt jedoch verschiedene Maßnahmen, aggressives Verhalten zu reduzieren: (a) effektive Erziehungsmaßnahmen der Eltern respektive der Erziehungsberechtigten, (b) kindliche Trainingsprogramme, welche das Ziel haben, soziale Problemlösestrategien einzuüben, (c) Verminderung der Feindseligkeit innerhalb der Familie, (d) Abschirmen der Kinder vor gewaltgeladenen Sendungen im Fernsehen.

3.3 Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken

Die Entwicklung junger Kinder geht einher mit einer ausgeprägten Beeinflussbarkeit und Verwundbarkeit (Vulnerabilität). Aus diesen Gründen hat die Forschung schon vor vielen Jahren von einer besonderen Gefährdung der frühen Kindheit gesprochen und Risikofaktoren definiert, welche die kindliche Entwicklung beeinträchtigen. Solche Risikofaktoren bilden sich im Rahmen der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen heraus. Ahnert (2006) macht jedoch darauf aufmerksam, dass es auch Wechselwirkungen gibt und junge Kinder aktiv in ihre eigenen Lebenskontexte einwirken und damit die Wirkung von Risikofaktoren reduzieren oder verhindern können. Not tut deshalb anstatt einer defizitorientierten, auf die kindlichen Gefährdungen eingeschränkten Sichtweise eine ganzheitliche Sicht auf die Frühsozialisation des Kindes und auf die sich daraus ergebenden Chancen.

Heute wird unter Entwicklung die kontinuierliche Wechselwirkung von umweltbezogenen und genetischen Faktoren verstanden. Beide wirken wechselseitig und verändernd aufeinander ein. Dies geschieht in einem langen, störanfälligen Sozialisationsprozess. Frühe Erfahrungen beeinflussen dabei die weiteren Entwicklungsbedingungen. Diese sind bereits vorangehend anhand des Modells der Kind-Umwelt-Passung beschrieben worden. Von Passung spricht man dann, wenn die Kontextbedingungen den vorhandenen Fähigkeiten, Temperaments- und Verhaltensmerkmalen des Kindes derart entsprechen, dass sie weiter entfaltet und wiederum von der Umwelt stimuliert werden können. Wie entstehen jedoch Fehlentwicklungen? Aus der Sicht dieses Kind-Umwelt-Passungsmodells dann, wenn Fähigkeiten stimuliert werden sollen, für die es keine Grundlage gibt, oder wenn die Umwelt nicht angemessen auf Fähigkeiten oder andere Merkmale reagiert.

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Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion steht das Zusammenspiel von vulnerablen und protektiven Faktoren und damit das Stichwort «Resilienz». Resilienz wird definiert als psychologische Widerstandsfähigkeit, trotz biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken internale und externale Ressourcen erfolgreich zu nutzen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Mit dem Konzept der Resilienz verwandt sind Konzepte wie Salutogenese und Coping. Unter Vulnerabilität werden Eigenschaften verstanden, die zu verfehlten Anpassungsleistungen prädisponieren. Sie können sowohl genetisch als auch umweltbedingt sein. Bestimmte Sozialisationsbedingungen können zur Verstärkung oder Milderung von Vulnerabilität beitragen. Gleiches gilt für bestimmte Lebensphasen (z.B. sensible Phasen). Auch wenn Vulnerabilität vorwiegend genetisch bedingt sein sollte, kann sie durch bestimmte Sozialisationseinflüsse oder Lebensphasen verändert werden. Ferner geht die Resilienzforschung davon aus, dass trotz vorhandener Vulnerabilität störende Einflüsse dann minimierbar sind, wenn protektive Faktoren wirksam werden können oder auf sie zurückgegriffen werden kann. Umgekehrt wird jedoch auch angenommen, dass sich im Falle nur vereinzelt zur Verfügung stehender Schutzfaktoren Störungen entwickeln und Fehlentwicklungen kaum vermieden oder zurückgehalten werden können.

 

Welches sind entwicklungsförderliche Beziehungskontexte? Sowohl Resilienzals auch Vulnerabilitätsfaktoren können nur über Beziehungskontexte des Kindes wirksam werden. Die kindliche Beziehungsfähigkeit steht somit im Zentrum der Entwicklung und der Pädagogik der frühen Kindheit. Betreuungspersonen und Vorschullehrkräfte müssen wissen respektive lernen, wie ein entwicklungsfördernder Beziehungskontext aufgebaut werden kann und wie kindliche Signale und Verhaltensabsichten sensitiv beantwortet und interpretiert werden können. Papoušek, Schieche und Wurmser (2004) sprechen dabei von sensitiven Betreuungsmustern und von emotional positiven Zuwendungsformen, denen eine ausgeprägte Sicherheits- und Schutzfunktion zukommt. Für die FBBE-Thematik und die Frage nach Chancengleichheit besonders wesentlich ist, dass entwicklungsfördernde frühe Beziehungskontexte auch im späteren Leben beibehalten oder gestärkt werden können. Folglich braucht es Erziehungsprinzipien, welche auf die kindliche Kompetenz- und Bedürfnisentwicklung ausgerichtet sind und als Leitplanke dienen. Auf diese Weise kann das Kind handlungskompetent und gestaltungsfähig werden. Neben der Bindungssicherheit und der liebevollen Zuwendung gehören vier Erziehungsprinzipien dazu:

• die Beachtung der kindlichen Individualität und des zunehmenden Autonomiestrebens,

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• die Orientierung an verbindlichen Verhaltenserwartungen,

• vielfältig und herausfordernde Förder- und Anregungsmöglichkeiten,

• die partizipative Einbindung in eine gemeinsame Lebensgestaltung.

3.4 Zusammenfassende Bilanz

Die bildende, integrierende, betreuende und erziehende Umwelt kann Entwicklungsmuster bereits in den frühen Lebensjahren bedeutsam verändern. Diese soziale Tatsache lässt vermuten, dass eine angemessene vorschulische Förderung enorme Wirkungen auf die kindliche Entwicklung erzielen kann. Dazu liegen heute vielfältige Forschungsergebnisse vor. Sie belegen jedoch, dass solche Wirkungen nur dann positiv sein können, wenn vorschulische Förderung gleichermaßen auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung ausgerichtet ist. Entsprechend wurde in diesem Kapitel die Bedeutung der Beziehung junger Kinder zu Erwachsenen diskutiert und darauf verwiesen, dass emotional sichere Beziehungen in frühkindlichen Bildungs-und Betreuungssettings zentral sind, aber auch prädiktiv für die späteren sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen, für die Manifestation von Verhaltensproblemen und für Schulleistungen.

Die Hauptbotschaft in diesem Kapitel war die, dass Entwicklung nicht einfach nur eine Entfaltung angeborener Fähigkeiten ist, sondern nach sozialem Kontext variiert. Piaget hat den Einfluss der Kultur, in der ein Kind lebt, auf die kognitive Entwicklung noch weitgehend vernachlässigt. Erst seine Kritiker, insbesondere auch Wygotski, haben erkannt, dass Entwicklungsveränderungen aus einer sozial-kulturellen Perspektive betrachtet und erklärt werden müssen. Die kognitive, soziale und emotionale kindliche Entwicklung ist somit eine Angelegenheit, in der die Natur – was das Kind auf die Welt mitbringt – und die Förderung – die Beziehungen und andere Aspekte des kindlichen Kontexts – interagieren.

Insgesamt liefern sowohl die Hirnforschung als auch die neue kognitive Entwicklungspsychologie viele Argumente, welche die Forderungen nach der Implementation von FBBE-Konzepten unterstützen. Beide Forschungsrichtungen haben nachweisen können, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als beispielsweise Piaget angenommen hatte, und dass ihre Lernfähigkeiten bereits in den ersten Lebensmonaten bemerkenswert sind. Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass junge Kinder bereits über kognitive Strukturen verfügen, welche Wissen aufzubauen in der Lage sind. Auch im Hinblick auf die viel diskutierte Frage, ob es bestimmte Phasen oder Zeitfenster gibt, in denen ein junges Kind von FBBE-Angeboten|65◄ ►66| besonders profitiert, liefert die Forschung einige Hinweise. Die Wirksamkeit kompensatorischer Programme ist mehrfach belegt, jedoch nur, wenn die Angebote auch während der folgenden Lebensjahre aufrechterhalten und die Familien umfassend einbezogen werden. Darauf wird in Kapitel 9 eingegangen.

Anlage und Umwelt sind für jedes Kind einmalig. Deshalb lassen sich zwischen Kindern auch bemerkenswerte Variationen bereits im frühen Alter beobachten. Weil darüber hinaus die Responsivität der Umgebung gegenüber dem Entwicklungsstand des Kindes und seinen Charakteristika der Schlüssel zur Förderung der weiteren Entwicklung ist, fokussiert das nächste Kapitel auf einige Variationen zwischen Vorschulkindern im sprachlichen und mathematischen, im körperlich-emotionalen und im kulturellen Bereich. Auf solche Disparitäten sollte das pädagogische Fachpersonal angemessen reagieren.

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