Epistolare Narrationen

Text
Aus der Reihe: Classica Monacensia #55
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nachdem Plinius in Epist. 2,14 seinem Unmut über die unerfahrenen jungen Leute, die voller Selbstvertrauen im Zentumviralgericht agieren,80 Luft gemacht (2) und die althergebrachte Praxis des tirocinium fori dagegengehalten hat (3‒4: ante memoriam meam…nunc), geht er dazu über, in Manier eines Satirikers bzw. Scheltredners das zeitgenössische Claqueur-Wesen zu kritisieren (4‒13). Zunächst vergleicht er im Ton der Entrüstung (3: at hercule) das Eindringen der jungen Redner ins Zentumviralgericht mit dem Aufbrechen von Schranken (4: nunc refractis pudoris et reverentiae claustris omnia patent omnibus, nec inducuntur, sed inrumpunt),81 bevor er anschließend in einen knapperem Stil wechselt, wenn er das Gebaren der Claqueure skizziert (4): sequuntur auditores actoribus similes, conducti et redempti. Im Rahmen dieser chiastischen s- und a-Alliteration werden die auditores mit Schauspielern (actores) verglichen, da sie sich mieten lassen und den Applaus nur vorspielen,82 was auch durch den schleppenden Rhythmus in der Junktur conducti et redempti unterstrichen wird. Theatrale Elemente prägen auch die weitere Charakterisierung dieser Leute:83 Man bezeichne sie non inurbane als Σοφοκλεῖς bzw. als Laudiceni (5), ein Wortspiel, das auf ihr Bestreben, für Applaus zum Essen geladen zu werden, anspielt.84 Für die Choreographie des Beifalls ist ein mesochorus zuständig85, der den Claqueuren mit einem Zeichen den Einsatz des Applauses signalisiert (6) – die Ignoranz der Claqueure (7: non intelligentes) steht in deutlichem Kontrast zu der gebildeten Zuhörerschaft, die sich Plinius in Epist. 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19.9 wünscht (9: adhibituri sumus eruditissimum quemque).

Wie sehr sich die Zustände in der zeitgenössischen Beredsamkeit verschlechtert haben, illustriert PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.14 mit einer Anekdote, die einen Vorfall des Vortags behandelt (6): here duo nomenclatores mei (habent sane aetatem eorum, qui nuper togas sumpserint) ternis denariis ad laudandum trahebantur. Für drei Denare, die man etwa fünfzehnjährigen Jünglingen bezahlt, könne man bereits als disertissimus gelten. Plinius beschließt den Abschnitt über die gegenwärtige Krise mit der pointierten Formulierung scito eum pessime dicere, qui laudabitur maxime (8), bevor er zu einer Art aitiologischen Erzählung von den Anfängen dieser Unsitte übergeht (9‒11). Als primus inventor wird Larcius Licinus, ein Redner aus der julisch-claudischen Epoche,86 überliefert, so hat es Plinius zumindest von seinem Lehrer Quintilian gehört (9). Diesen lässt der Epistolograph sodann als intradiegetischen Erzähler ersten Grades auftreten87 und von einem Erlebnis mit seinem Mentor Domitius Afer88 berichten (10‒11):

narrabat ille: ‘adsectabar Domitium Afrum. cum apud centumviros diceret graviter et lente (hoc enim illi actionis genus erat), audit ex proximo immodicum insolitumque clamorem. admiratus reticuit; ubi silentium factum est, repetit, quod abruperat. iterum clamor, iterum reticuit, et post silentium coepit. idem tertio. novissime quis diceret quaesiit. Responsum est: “Licinus.” tum intermissa causa “centumviri”, inquit, “hoc artificium periit”’.

Das hier entworfene Bild von Quintilian, der Domitius Afer ins Zentumviralgericht begleitet, greift die zuvor von PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.14 geschilderte altehrwürdige Praxis des tirocinium fori (3: ante memoriam meam)89 wieder auf. In der Basilica Iulia, wo die centumviri tagten, konnten vier verschiedene Verhandlungen gleichzeitig stattfinden, sodass offenbar auch die Geräuschkulisse entsprechend laut war.90 QuintilianQuintilianInst. 12.5.6 selbst berichtet in Inst. 12,5,6 von einem Vorfall, in den der über eine besonders imposante Stimme verfügende Redner Trachalus involviert gewesen sein soll:91

certe cum in basilica Iulia diceret primo tribunali, quattuor autem iudicia, ut moris est, cogerentur, atque omnia clamoribus fremerent, et auditum eum et intellectum et, quod agentibus ceteris contumeliosissimum fuit, laudatum quoque ex quattuor tribunalibus memini.

Ähnlich wie Plinius in seinem Brief liefert auch Quintilian eine Ekphrasis der Akustik in der Basilica Iulia (vgl. clamoribus – clamorem…clamor; auditum – audisse…audit)92 und erinnert sich hier an eine Szene, die er dort offenbar selbst miterlebt hat (memini); Plinius wiederum erinnert sich (memini) an eine Erzählung seines Lehrers, wobei das Hören in diesem Kontext eine besonders wichtige Rolle zu spielen scheint: Plinius hat von Quintilian gehört (9: audisse), was der Redner Domitius Afer im Zentumviralgericht gehört hat (10: audit).

Die Erzählung Quintilians in Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 weist folgende Struktur auf: Eine kurze Exposition (10: adsectabar Domitium Afrum) leitet zum ersten Akt des kleinen Dramas vor Gericht über (cum apud centumviros…repetit, quod abruperat), in dem von Afers Rede, ihrer ersten Unterbrechung durch benachbartes Lärmen und ihrer Wiederaufnahme erzählt wird. Der zweite Akt, in dem sich die Handlung des ersten wiederholt, zeichnet sich durch gesteigerte Kürze der Narration aus (iterum…coepit), die im dritten Akt sogar noch überboten wird (11: idem tertio).93 Zum Schluss fragt Afer als interner Sprecher zweiten Grades, wer der andere Redner sei, bricht sein Plädoyer ab, nachdem er die Antwort vernommen hat, und konstatiert in direkter Rede, dass es nun vorbei sei mit der Kunst der Beredsamkeit. Mit Afers Worten endet auch die Erzählung Quintilians.

In der Zeit Afers habe, so fährt Plinius fort, der Verfall der Beredsamkeit eigentlich erst eingesetzt (12: perire incipiebat), jetzt hingegen sei der Tiefpunkt erreicht (nunc vero prope funditus exstinctum et eversum est)94 – diesen Befund malt Plinius in satirischer Anschaulichkeit aus, wenn er die fracta pronuntiatio der jungen Redner, die teneri clamores ihrer Zuhörer (12) sowie das verweichlichte und theatrale Gebaren verspottet (13): plausus tantum ac potius sola cymbala et tympana illis canticis desunt; ululatus quidem (neque enim alio vocabulo potest exprimi theatris quoque indecora laudatio) large supersunt. Die Wortwahl an dieser Stelle legt nahe, dass Plinius Ovids Darstellung der Mänaden, die den Gesang des Orpheus mit ihrem Lärmen übertönen, evozieren will (Met. 11,15‒22)OvidMet. 11.15‒22:95


cunctaque tela forent cantu mollita, sed ingens clamor et infracto Berecyntia tibia cornu tympanaque et plausus et Bacchei ululatus obstrepuere sono citharae…
[…]
innumeras volucres anguesque agmenque ferarum maenades Orphei titulum rapuere theatri.

Von den mythischen Wäldern Thrakiens, die das Theater für Orpheus’ Gesang bilden,96 hat sich das bacchantische Treiben bei Plinius in die Basilica Iulia verlagert, die mittlerweile den Schauplatz bietet für ein Verhalten, das sogar im Theater unangemessen wäre.97

Der indignierte Ton, mit dem Plinius die jungen Redner seiner Zeit sowie deren Gefolge verspottet, steht in auffälligem Kontrast zum Enkomion auf den Redner Isaeus in Epist. 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3. Die beiden Briefe sind. m.E. aufeinander bezogen,98 da sie sich auch in ihrer Struktur stark ähneln: In Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 kritisiert Plinius zunächst die adulescentuli obscuri (2‒4a) und dann ihr gemietetes Publikum, das nur für Geld applaudiert (4b‒13); eine Anekdote über Larcius Licinus und Domitius Afer (9‒11) soll die Argumentation veranschaulichen. Demgegenüber steht in Epist. 2,3 das Enkomion auf Isaeus (1‒7), der sich an großem Ruhm erfreut (1: magna fama), bereits sechzig Jahre alt ist (5) und dessen sermo Atticus (1) sich von dem asianischen Gebaren abhebt, das Redner und Zuhörer in Epist. 2,14 an den Tag legen. Im zweiten Teil des Briefes 2,3 steht dann das Motiv des Zuhörens im Zentrum, wenn Plinius seinen Adressaten Nepos99 dazu bewegen will, nach Rom zu kommen und Isaeus „live“ zu erleben (8‒11). Auch hier werden zwei Anekdoten eingestreut: Zunächst eine über einen Mann aus Gades, der nach Rom kam, nur um Livius zu sehen, und danach gleich wieder zurückkehrte (8),100 sowie die zuvor schon betrachtete Geschichte über Aischines und Demosthenes. Die beiden Briefe 2,3 und 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 transformieren somit das rhetorische genus epideiktikon bzw. demonstrativum, das der antiken Theorie entsprechend aus Lob oder Tadel besteht,101 in einen epistolaren Kontext. Sie haben rhetorisches Können bzw. Unvermögen zum Inhalt und stellen ihrerseits als Texte das rhetorische Können ihres Verfassers zur Schau.Plinius der JüngereEpist. 2.14

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Buch 2 eine Galerie an Redner-Figuren aus post-domitianischer sowie „der guten alten“ Zeit liefert, zu denen sich Plinius auf verschiedene Weise in Bezug setzt: Eröffnet wird das Buch mit Tacitus als laudator eloquentissimus (2,1,6)Plinius der JüngereEpist. 2.1.6, gefolgt vom griechischen Konzertredner Isaeus, den Klassikern Livius, Aischines und Demosthenes (2,3)Plinius der JüngereEpist. 2.3, alsdann Plinius als Lobredner seiner Heimat (2,5)Plinius der JüngereEpist. 2.5, Tacitus und insbesondere Plinius selbst als Ankläger des Marius Priscus gegenüber dessen Verteidigern im Zentrum des liber (2,11‒12)Plinius der JüngereEpist. 2.11/12, ferner zeitgenössische Dilettanten und ihre Claqueure in der Tradition des Larcius Licinus, denen Quintilian und Domitius Afer gegenüberstehen (2,14) und schließlich wieder Plinius selbst (2,19)Plinius der JüngereEpist. 2.19. Auch M. Regulus, der im gesamten Korpus immer wieder als Kontrastfolie zu Plinius fungiert, geistert durch dieses Buch (2,11,22; 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20), wenngleich seine Tätigkeit als Redner hier eine auffallend untergeordnete Rolle spielt.

 

1.3 Der Prozess gegen Caecilius Classicus in Buch 3

Nachdem Plinius das dritte Buch mit dem Porträt des Vestricius SpurinnaPlinius der JüngereEpist. 3.1 und einem Entwurf des im Alter anzustrebenden otium eröffnet hat,1 sind die folgenden Briefe wieder stärker den negotia sowie dem Thema der Beredsamkeit gewidmet. Epist. 3,2Plinius der JüngereEpist. 3.2 an Vibius Maximus ist ein Empfehlungsschreiben für Arrianus Maturus, der uns bereits als Adressat des stilkritischen Briefes 1,2Plinius der JüngereEpist. 1.2 sowie des Briefpaares 2,11‒12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 über den Prozess des Marius Priscus begegnete.2 In Epist. 3,3Plinius der JüngereEpist. 3.3 steht dann der Sohn der Corellia Hispulla bzw. Enkel des von Plinius bewunderten Corellius Rufus im Zentrum:3 Für den Knaben muss ein geeigneter Redelehrer gesucht werden (3: circumspiciendus rhetor Latinus, cuius scholae severitas, pudor, in primis castitas constet)4, und Plinius empfiehlt für diese Aufgabe Iulius Genitor5, dem er moralische Integrität und ausgezeichnete rhetorische Fähigkeiten attestiert (5‒7). Die positive Charakterisierung Genitors erfolgt wohl mit Bedacht an dieser Stelle: Nachdem Plinius ihn in Epist. 3,3 zur moralischen und rhetorischen Autorität stilisiert hat, lässt er ihn später als Adressat der Epistel 7,30Plinius der JüngereEpist. 7.30 auftauchen und Plinius’ Rede De Helvidi ultione mit DemosthenesDemosthenesOr. 21’ κατὰ Μειδίου vergleichen (4: qui libellos meos de ultione Helvidi orationi Demosthenis κατὰ Μειδίου confers). Dem Leser wird somit suggeriert, dass dieser Vergleich aus berufenem Mund erfolgt sei. Auf Epist. 3,3 folgt mit 3,4 der erste Teil eines Briefpaares, in dem Plinius seine Rolle als Ankläger im Repetundenprozess der Provinz Baetica gegen Caecilius Classicus beschreibt; Classicus war dort im selben Jahr Prokonsul wie Marius Priscus in Africa.6 In 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 legt Plinius gegenüber Caecilius Macrinus7 die Vorgeschichte dar sowie seine Beweggründe, die Provinz zu vertreten, während Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 an Cornelius Minicianus8 eine umfangreiche Schilderung dieses Prozesses enthält, dessen Schauplatz der Senat ist.9 Anders als beim Priscus-Prozess in Buch 2 handelt es sich nicht mehr um einen Fortsetzungsbericht an denselben Adressaten, sondern an verschiedene Empfänger. Während im Bericht über den Fall Priscus auf den langen Brief 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 der kurze Brief 2,12 in Form eines Nachtrags folgte, lesen wir in Buch 3 zuerst den kürzeren Brief 3,4 über das Vorspiel und dann den langen Brief 3,9 über den Prozess-Verlauf.10 In Epist. 3,4 wird suggeriert, dass die Hauptverhandlung noch in der Zukunft liegt, während davon in 3,9 schon als vergangenes Ereignis die Rede ist (1: Possum iam perscribere) – bei linearer Lektüre des Briefpaares überspringt der Leser somit einen Zeitraum von mehreren Monaten.11

Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 sticht, wie schon das Pendant 2,11, durch ihren Umfang heraus – es handelt sich um den mit Abstand längsten Brief in Buch 3.12 Zugleich dürfte dieser Brief als Abschluss der ersten Buchhälfte fungieren, da mit 3,10Plinius der JüngereEpist. 3.10 über den verstorbenen Sohn Spurinnas wieder deutlich auf den Beginn des Buches (3,1)Plinius der JüngereEpist. 3.1 zurück verwiesen wird (3,10,1: cum proxime apud vos fui). Während die erste Buchhälfte Plinius’ Rolle als Ankläger im Repetundenprozess in den Vordergrund rückt, tritt er in der zweiten Hälfte insbesondere als Lobredner auf Kaiser Trajan hervor. Betrachtet man Epist. 3,10 als den Beginn der zweiten Buchhälfte, dann fällt auch auf, dass die Briefe 3,13Plinius der JüngereEpist. 3.13/18 und 3,18 über den Panegyricus symmetrisch zu 3,4 und 3,9 angeordnet sind: Epist. 3,4 und 3,13 stehen demnach jeweils an vierter Position, 3,9 und 3,18 an neunter, wobei in beiden Hälften vier Briefe zwischen den betreffenden Briefpaaren liegen. Eine zweite Möglichkeit wäre allerdings auch, den Beginn der zweiten Buchhälfte mit Epist. 3,11Plinius der JüngereEpist. 3.11 über Plinius’ Freundschaft mit dem Philosophen Artemidor und die Gefahren unter Domitian anzusetzen, wodurch die erste Buchhälfte durch das Spurinna-Thema ringkompositorisch eingerahmt würde und Epist. 3,11 als Rückblende in die Domitian-Zeit dann genau in der Mitte stünde zwischen Epist. 3,9 und 3,13 über rhetorische Aktivitäten unter Kaiser Trajan.13

Epist. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 ist an Caecilius Macrinus gerichtet, der schon als Adressat von Brief 2,7Plinius der JüngereEpist. 2.7 über die Ehrenstatuen für Vestricius Spurinna und dessen Sohn begegnet ist und später die Briefe 7,6Plinius der JüngereEpist. 7.6 und 7,10Plinius der JüngereEpist. 7.10 über den Prozess der Bithynier gegen Varenus erhält sowie Epist. 8,17Plinius der JüngereEpist. 8.17 über die Überflutung des Tiber und Anio.14 Plinius eröffnet den Brief 3,4 mit der Nachricht, dass sowohl seine Freunde in seiner Anwesenheit als auch die Äußerungen anderer Leute ihm signalisiert hätten, in einer zunächst nicht näher konkretisierten Angelegenheit richtig gehandelt zu haben (1: …et amici, quos praesentes habebam, et sermones hominum factum meum comprobasse videantur). Nun komme es Plinius aber besonders darauf an, nachträglich auch die Meinung (2: iudicium) des Macrinus zu erfahren, den er gerne schon vorher, als die Sache noch nicht entschieden war, als Berater herangezogen hätte (2: consilium exquirere).

Auf dieses exordium folgt die narratio über den Auftritt der Gesandten aus Baetica im Senat: Plinius hatte gerade in seiner Funktion als praefectus aerarii15 Urlaub vom Kaiser erhalten und war in das Gebiet der Tusker gereist, um den Grundstein für ein öffentliches Gebäude zu legen, das er selbst finanziert hatte (2: cum publicum opus mea pecunia incohaturus in Tuscos excucurrissem accepto, ut praefectus aerari, commeatu…). Genaueres erfahren wir hier nicht über dieses Vorhaben, doch ein Vergleich mit Epist. 4,1,4‒5Plinius der JüngereEpist. 4.1.4‒5 und 10,8‒9Plinius der JüngereEpist. 10.8/9 liefert uns nähere Informationen: In Epist. 10,8 erbittet Plinius bei Kaiser Trajan Urlaub für den Monat September des Jahres 98 oder 99 n. Chr.,16 um nach Tifernum Tiberinum17 zu reisen und dort einen Tempel zu errichten, der mit Kaiserstatuen (1: statuas principum), darunter auch denjenigen Nervas und Trajans (4: opus…exornare et tua statua), geschmückt werden soll.18 Das Anliegen wurde von Trajan gewährt mit der Begründung ne impedisse cursum erga me pietatis tuae videar (10,9)Plinius der JüngereEpist. 10.8/9, und in Epist. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 lesen wir nun aus der Retrospektive von dieser Reise, deren genauer Zweck an dieser Stelle jedoch unerwähnt bleibt.19

Während Plinius’ Abwesenheit aus Rom kamen Gesandte der Provinz Baetica in den Senat und forderten Plinius für ihre Klage gegen den Prokonsul Caecilius Classicus als Rechtsbeistand (3,4,2: legati provinciae Baeticae questuri de proconsulatu Caecili Classici advocatum me a senatu petiverunt). Nachdem die Amtskollegen20 zunächst versuchten, Plinius von dieser Aufgabe zu entschuldigen, fasste der Senat den Entschluss, Plinius die Entscheidung selbst zu überlassen (3). In einer zweiten Senatssitzung nach Plinius’ Rückkehr (4: me iam praesentem) bringen die Gesandten erneut ihr Anliegen vor und erinnern Plinius an seinen früheren Beistand gegen Baebius Massa (4: fidem meam, quam essent contra Massam Baebium experti)21 sowie das bestehende Patronatsverhältnis (patrocini foedus). Auf die hier in indirekter Rede berichteten Worte der Baetiker folgte deutliche Zustimmung des Senats (4: senatus clarissima adsensio), und Plinius schließt diesen narrativen Abschnitt ab, indem er seine eigene Reaktion in direkter Rede wiedergibt (4: ‘desino’, inquam, ‘patres conscripti, putare me iustas excusationis causas attulisse’), ein Ausspruch, dessen modestia und ratio bei den Zuhörern gut angekommen sei.

Nach dieser narratio über die Ereignisse im Senat fokalisiert Plinius im Rest des Briefes auf seine eigene Perspektive und die Beweggründe für seine Entscheidung, die Provinz zu vertreten. Dies erfolgt durch eine Häufung von Verben des Denkens, Überlegens und Einschätzens: compulit…ad hoc consilium…veniebat in mentem…arbitrabar (5), recordarer…videbatur (6), ducebar…videbam (7), computabam (8). Die Art und Weise, wie Plinius in Epist. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 seinen Entschluss, als Ankläger gegen Caecilius Classicus zu fungieren, rechtfertigt, erinnert an Ciceros Aussagen in der Divinatio in Q. Caecilium, die sozusagen das Präludium zum Prozess gegen Verres bildet.22 Cicero argumentiert in dieser Rede, warum er ein geeigneterer Ankläger sei als Q. Caecilius, und mehrere Punkte seiner Ausführungen ähneln denjenigen des Plinius. Ja es scheint sogar, als habe Plinius seinen Brief 3,4 als epistolographisches Pendant zur Divinatio komponiert, während Epist. 3,9, wie zu zeigen sein wird, den Verres-Reden entspricht. Es fällt zunächst auf, dass Plinius den Brief mit der Bemerkung rahmt, er wolle das iudicium seines Adressaten erfahren (3,4,2; 9), wodurch er diesen zur Richter-Instanz stilisiert; in einer Rede wie Ciceros Divinatio sind die Angesprochenen ebenfalls iudices. Ähnlich wie Plinius nennt Cicero die Gründe, die ihn zur Übernahme der Anklage veranlassten (Div. in Caec. 5CiceroDiv. in Caec. 5: adductus sum, iudices, officio, fide, misericordia, multorum bonorum exemplo, vetere consuetudine institutoque maiorum). Außerdem betont Cicero mehrmals, dass man sein Handeln gutheißen müsse, wenn man die Begründung dafür gehört habe (Div. in Caec. 1:CiceroDiv. in Caec. 1 is, si mei consili causam rationemque cognoverit, una et id quod facio probabit; 6:CiceroDiv. in Caec. 6 quis tandem esset qui meum factum aut consilium posset reprehendere?). Plinius seinerseits eröffnet, wie wir gesehen haben, den Brief mit der Behauptung, sein Handeln habe bereits mehrfach Zustimmung erhalten (3,4,1: factum meum comprobasse videantur). CiceroCiceroDiv. in Caec. 2‒5 integriert in sein exordium eine narratio,23 in der er erzählt, wie es zu seiner persönlichen Verbundenheit mit den Sizilianern kam (Div. in Caec. 2: cum quaestor in Sicilia fuissem), und auch Plinius beginnt seinen Bericht über die Baetiker mit einem narrativen cum-Satz (Plin. Epist. 3,4,2: cum…excucurrissem). In seiner Divinatio rekapituliert CiceroCiceroDiv. in Caec. 2‒5 zudem, wie die Sizilianer ihn an sein früheres Versprechen erinnerten, er werde ihnen jederzeit beistehen (Div. in Caec. 2–3), und auch Plinius wird von den Baetikern auf fides und patrocini foedus hingewiesen (Epist. 3,4,4). Zunächst wollte Cicero die Anklage an Q. Caecilius, seinen Nachfolger als quaestor, abtreten (Div. in Caec. 4), und auch bei Plinius findet sich ein anfänglicher Versuch, der Sache zu entkommen – allerdings ist es nicht er selbst, der ablehnt, sondern die collegae optimi versuchen, ihn zu entschuldigen (3,4,3). Sowohl Plinius als auch CiceroCiceroDiv. in Caec. 66 weisen schließlich darauf hin, dass schon die Vorfahren freiwillig die Rolle des Anklägers übernommen haben, wenn einem Gastfreund oder Schutzbedürftigen Unrecht widerfuhr.24

 

Wie sich zeigt, zieht PliniusPlinius der JüngereEpist. 3.4 indirekt eine Parallele zwischen seiner Situation und derjenigen Ciceros vor dem Verres-Prozess. Abgesehen davon lässt er auch die Gelegenheit nicht ungenutzt, auf sein Verhalten während der Herrschaft Domitians anzuspielen. Wir erfahren, dass Plinius die Rolle des Anklägers im Repetundenprozess nun schon zum dritten Mal übernehmen würde (3,4,8: si munere hoc iam tertio fungerer)25 und dass ihn ein früherer Rechtsbeistand für die Baetiker – derjenige gegen Baebius Massa ‒ in bedeutende Gefahr gebracht habe (3,4,6: quanta pro isdem Baeticis superiore advocatione etiam pericula subissem). Von pericula war auch schon in Epist. 1,7Plinius der JüngereEpist. 1.7, ebenfalls im Zusammenhang mit den Baetikern, die Rede (2: provinciam, quam tot…periculis meis aliquando devinxerim),26 ein Begriff, den Plinius häufig zur Beschreibung der Zeit Domitians verwendet.27 In Epist. 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 werden wir dann Genaueres über die gefährlichen Umstände erfahren.28 So viel sei zumindest schon gesagt: Die lineare Lektüre von Epist. 1,7Plinius der JüngereEpist. 1.7, und 3,4 suggeriert dem Leser, dass zwischen Plinius und der Provinz ein enges Band der Verpflichtung bestehe (1,7,2: devinxerim; 3,4,4: fidem…patrocini foedus); erst in Epist. 7,33 lesen wir, dass zuvor auch zwischen Herennius Senecio und den Baetikern ein solches Verhältnis bestand (5: natus ibi et quaestor in ea). Als patronus der Provinz hat Plinius den Senecio also mehr oder weniger „beerbt“.Plinius der JüngereEpist. 3.4

Steht in Epist. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 die Hauptverhandlung gegen Caecilius Classicus noch bevor, ist sie in Epist. 3,9 bereits Vergangenheit und Gegenstand einer längeren narratio.29 Plinius eröffnet den BriefPlinius der JüngereEpist. 3.9 mit dem Hinweis an Cornelius Minicianus, dass ihm der Prozess viel Mühe bereitet habe (1: quantum…laboris exhauserim),30 da die Sachlage kompliziert gewesen sei und viele Reden gehalten wurden (2: nam fuit multiplex actaque est saepius cum magna varietate).31 Es folgt eine Beschreibung des Angeklagten Classicus, der bereits vor dem Prozess verstorben war (2‒5): Plinius charakterisiert ihn im besten Stil einer rhetorischen Invektive als homo foedus et aperte malus, der sein Prokonsulat, das ins selbe Jahr fiel wie dasjenige des Marius Priscus – der Leser wird dadurch an Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11 erinnert –, non minus violenter quam sordide ausübte (2). Die Parallele zwischen Caecilius Classicus und Marius Priscus spitzt Plinius auf eine pointierte Formulierung zu (3): erat autem Priscus ex Baetica, ex Africa Classicus, inde dictum Baeticorum, ut plerumque dolor etiam venustos facit, non inlepidum ferebatur: ‘dedi malum et accepi’. Mit dem Hinweis auf die witzige Bemerkung bzw. den „Galgenhumor“ der Provinzbewohner32 dürfte Plinius auf Cicero anspielen, der in seiner zweiten Rede gegen VerresCiceroVerr. 2.1.121 ebenfalls unterhaltsame Aussprüche der Einwohner von Sizilien zum Besten gibt (vgl. Verr. 2,1,121: hinc illi homines erant qui etiam ridiculi inveniebantur ex dolore).33

Classicus, der anders als Priscus von der gesamten Provinz angeklagt wurde (4), kam einer Verurteilung durch den Tod zuvor – auch hier zeigt sich Plinius schonungslos (5):

Ille accusationem vel fortuita vel voluntaria morte praevertit. nam fuit mors eius infamis, ambigua tamen: ut enim credibile videbatur voluisse exire de vita, cum defendi non posset, ita mirum pudorem damnationis morte fugisse, quem non puduisset damnanda committere.

Der Epistolograph lässt offen, ob Classicus Selbstmord begangen hatte34 oder zufällig vor dem Prozess aus dem Leben geschieden war.35 So oder so, Plinius betrachtet seinen Tod als infamis und beendet die Kurzbiographie, indem er in einer durch Parallelismus und polyptoton (pudorem…puduisset; damnationis…damnanda) angereicherten Sentenz einen möglichen Suizid des Angeklagten mit seinen Taten zu Lebzeiten kontrastiert.

Ungeachtet des Todes ihres ehemaligen Statthalters forderten die Baetiker seine Anklage – laut Plinius zwar ein gesetzeskonformes, jedoch seit langer Zeit erstmals wieder durchgeführtes Verfahren;36 zudem zeigten sie auch die Helfer (socios ministrosque) des ClassicusPlinius der JüngereEpist. 3.9 an (6). Plinius führt seine Erzählung fort, indem er auf sein Verhältnis zu seinem Mitankläger Lucceius Albinus37 näher eingeht: Er bezeichnet ihn als vir in dicendo copiosus ornatus (7),38 mit dem er bei gegenseitiger Wertschätzung (7: cum olim mutuo diligerem…amare ardentius coepi) einträchtig und ohne Rivalitäten die schwierige Aufgabe in Angriff genommen habe (8: nullum certamen, nulla contentio…non pro se, sed pro causa). Es wurde bereits beobachtet, dass diese Darstellung einiges gemeinsam hat mit der Beziehung zwischen Cicero und Hortensius, wie sie bei Cornelius NeposNepos, CorneliusAtt. 5.4 in der Atticus-Vita geschildert wird (Att. 5,4):39

utebatur autem intime Q. Hortensio, qui iis temporibus principatum eloquentiae tenebat, ut intellegi non posset, uter eum plus diligeret, Cicero an Hortensius; et, id quod erat difficillimum, efficiebat, ut, inter quos tantae laudis esset aemulatio, nulla intercederet obtrectatio essetque talium virorum copula.

Plinius und Lucceius Albinus begegnen dem Leser sozusagen als Reinkarnation der beiden großen Redner aus der späten Republik. Der im vorausgehenden Abschnitt behandelten Schlechtigkeit des Caecilius ClassicusPlinius der JüngereEpist. 3.9 steht somit das Bild der Eintracht zweier Anwälte gegenüber, die dem Ideal eines Cicero und HortensiusNepos, CorneliusAtt. 5.4 entsprechen.

In der folgenden Passage (9‒11) legt Plinius dar, warum er und sein Kollege Lucceius Albinus davon absahen, die zahlreichen Vergehen in einer einzigen actio zu behandeln (9: si tot crimina, tot reos uno velut fasce complecteremur). Stattdessen habe man sich dazu entschlossen, die Angeklagten einzeln ins Visier zu nehmen (11: tam numerosum agmen reorum ita demum videbamus posse superari, si per singulos carperetur). Zu diesem Entschluss gelangen Plinius und sein Mitstreiter, indem sie sich das Exemplum des Sertorius ins Gedächtnis rufen (11): erat in consilio Sertorianum illud exemplum, qui robustissimum et infirmissimum militem iussit caudam equi – reliqua nosti. Mit einer Aposiopese deutet Plinius an, dass seinem Adressat das Beispiel des Sertorius wohlbekannt ist – u.a. wird es bei Valerius MaximusValerius Maximus7.3.6 erzählt (7,3,6):40

Sertorius vero corporis robore atque animi consilio parem naturae indulgentiam expertus, proscriptione Sullana dux Lusitanorum fieri coactus, cum eos oratione flectere non posset ne cum Romanis universa acie confligere vellent, vafro consilio ad suam sententiam perduxit: duos enim in conspectu eorum constituit equos, validissimum alterum, <alterum> infirmissimum, ac deinde validi caudam ab imbecillo sene paulatim carpi, infirmi a iuvene eximiarum virium universam convelli iussit. obtemperatum imperio est. sed dum adulescentis dextera irrito se labore fatigat, senio confecta manus ministerium exsecuta est.

Der Einfall des Sertorius, bei einem Pferdeschwanz die Haare einzeln ausreißen zu lassen, um damit zu demonstrieren, dass man als unterlegener Gegner das Heer der Römer nur in seinen Einzelteilen überwinden könne, wird bei Valerius Maximus in die Kategorie vafre dicta aut facta integriert bzw. als vafrum consilium bewertet. Indem Plinius seine mit Lucceius Albinus ersonnene Strategie mit dem Sertorius-Exemplum in Verbindung bringt, schreibt er auch sich selbst indirekt in die Beispielreihe der vafre dicta aut facta ein. Zudem wird der Auftritt bei einem Prozess mit der Vorbereitung auf eine militärische Auseinandersetzung parallelisiert.41

Plinius und sein Kollege beschlossen, im Rahmen der actio prima (12‒17) zuerst die Schuld des Classicus zu beweisen und zusammen mit ihm seine Helfer Baebius Probus und Fabius Hispanus42 anzuklagen. Was ClassicusPlinius der JüngereEpist. 3.9 betraf, so gab es kaum Schwierigkeiten (12): et circa Classicum quidem brevis et expeditus labor. Als Beweise für seine Schuld erwähnt Plinius zwei schriftliche Dokumente (13):

sua manu reliquerat scriptum, quid ex quaque re, quid ex quaque causa accepisset; miserat etiam epistulas Romam ad amiculam quandam, iactantes et gloriosas his quidem verbis: ‘Io io, liber ad te venio; iam sestertium quadragiens redegi parte vendita Baeticorum.’

Es dürfte aus narratologischer Sicht nicht unerheblich sein, dass Plinius in seinem Brief ausgerechnet zwei von Classicus verfasste Schriftstücke ins Zentrum rückt. Zunächst geht Plinius eher nüchtern auf die Rechnungsbücher des Statthalters ein,43 die dessen Einnahmen dokumentierten und Plinius zur probatio inartificialis dienten.44 Um einiges lebhafter wird die Darstellung dann bei der Erwähnung des bereits in anderem Zusammenhang betrachteten Briefes, den Classicus zu seiner Geliebten nach Rom geschickt haben soll, um seine Rückkehr anzukündigen.45