Geschichten vom Dachboden 2

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Aus der Reihe: Geschichten vom Dachboden #2
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Die Familie

Wolfgang Schucht, der am 8.Februar 1898 geboren wird, hat sich gut in Dortmund-Hörde eingelebt, nachdem er mit seinen Eltern 1904 aus Ostpreußen umgezogen ist. Durch seinen Vater wird Wolfgang früh das Lesen beigebracht und schon in jungen Jahren erlernt er die alten wie die neuen Sprachen. Der belesene und recht begabte Junge ist ein Einzelkind. Durch die zahlreichen gesellschaftlichen Verbindungen seiner Eltern hat er viele Freunde in Hörde gefunden mit denen er in seiner Freizeit gerne turnt oder Fußball spielt. Gelegentlich reist er in den Hauptferien mit seinen Eltern nach Liebwalde in Ostpreußen, um die Großmutter und weitere Verwandte zu besuchen. Anfang September 1906 schreibt der 8-jährige Wolfgang nach Rückkehr von einem Besuch bei seiner Großmutter Franziska Schucht einen Brief aus Hörde, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Er ist nun Schüler der 5.Klasse und lernt im ersten Jahr Latein.

Hörde, 1906

Liebe Omama!

Ich gratuliere dir zu deinem Geburtstage. Mir geht es ziemlich gut in der Schule. Aber nächstes Vierteljahr werde ich mich besser anstrengen. Zuletzt habe ich in Latein eine 1 und im Deutschen eine 2 geschrieben. Komme doch bitte zu uns, hier ist ein schönes Stübchen für dich. Ich bange mich sehr nach Liebwalde. Im Deutschen habe ich 2, 1, 2, 1, 2, 2, 2, 2, 2 geschrieben. In Latein: 2, 1, 2, 1, 2, 2, 1, 2, 3, 1 geschrieben und in Rechnen: 1, 1, 1, 3, 1, 1, 1, 1 geschrieben. Wie geht es dir und Tante Liese? Ich habe in letzter Zeit Schnupfen gehabt. Jetzt geht es mir sehr gut. Wir sind umgezogen: Chausseestraße 88. Die besten Grüße wünscht Wolfgang Schucht.

Drei Jahre später verläuftt das Jahr 1909 aus schulischer Sicht nicht gut für Wolfgang. Der vielseitig interessierte Junge vernachlässigt das Lernen. Er interessiert sich für den Familienstammbaum, allgemeine Literatur, die Pfadfinder, Turnen, Kegeln, mit dem Revolver des Vaters schießen und viele weitere Dinge. Damit will er seine Zeit verbringen. Und ausgerechnet Direktor Adams muss in diesem Jahr in seiner 8.Klasse fünf Stunden Griechisch unterrichten und dann darf er auch noch den alten Professor Heeger, der nächstes Jahr in den Ruhestand gehen wird, fünf Stunden die Woche in Mathematik ertragen. Zwar ist Wolfgangs Ordinarius der bei allen Schülern beliebte Dr. Walther Hoffmann, welcher die Klasse in Englisch, Französisch und Turnen unterrichtet und Wolfgangs Vater hält den Deutschunterricht, dennoch erreicht Wolfgang das Klassenziel im März 1910 nicht. Er muss zur großen Enttäuschung seiner Eltern das Schuljahr wiederholen. Seiner Großmutter überbringt er die schlechte Nachricht in einem Brief.

Hörde, den 24.3.1910

Liebe Großmutter!

Ich habe eine Bitte an dich. Sicher wirst du eine Reihe von Vaters und deinen Vorfahren kennen. Nun bitte ich dich, mir den Stammbaum von der Familie Schucht aufzuschreiben. Ferner auch bitte deinen Stammbaum bis zu dem Reitergeneral Zieten. Mir geht es gut. Wir sind alle gesund. In der Schule bin ich leider einen hinunter gekommen, doch bekomme ich jetzt Vater zum Ordinarius und werde mich zusammen nehmen. Bitte grüße Tante Liese von mir. Auch viele Grüße an Kaldeweys und Onkel Fritz. Die herzlichsten Grüße an dich, Wolf Schucht.

April 1912: Schulanfang für die Schüler der Untersekunda, der 10.Klasse am Realgymnasium in Hörde. Wolfgang möchte in diesem Jahr etwas von der Welt sehen. In seinen Büchern hat er von Landschaften, Ländern und Menschentypen gelesen, die seine Neugierde geweckt haben. Frei heraus kann Wolfgang mit seinen Eltern diskutieren, die den Jungen für diese Zeit erstaunlich modern erziehen. Offen wird in der Familie über alle Themen gesprochen und selbst über seine Zweifel zum christlichen Glauben kann er sich mit seinem Vater austauschen. Den Vornamen Wolfgang findet er steif und unpassend, nur noch „Wolf“ will er genannt werden, was besonders seiner Mutter Wanda schwer fällt. Über die technischen Neuerungen in diesem Jahr führt er manch kontroverses Gespräch mit seinem Vater. Die in den Kinderschuhen steckende Fliegerei mit einigen Flugunfällen belächelt er mit vielen seiner Freunde. Die Sammlung für die Flugspende in der Schule, die 70 Mark einbringt und an die Sammelstelle in Berlin abgeführt werden, hält er deshalb für wenig sinnvoll. Die neuen Kinematographentheater, in der Umgangssprache kurz Kientopp oder Kinos genannt, geniessen Wolfgangs größte Aufmerksamkeit. Zu gerne würde er die bewegten Bilder mit seinen Freunden Erich Vesterling und Hermann Bauer ansehen, aber sein Vater hat in heftigen Diskussionen den Besuch ausdrücklich untersagt. Eine Verfügung der obersten Schulbehörde aus Berlin, die Direktor Adams erhalten und im Kollegium verteilt hat, warnt Eltern und Schüler dringend vor dem Konsum ungeeigneten Filmmaterials. Begeistert ist Wolfgang auch von der Fotografie. Seine Freunde Werner Kopfermann und Erich Vesterling besitzen schon eigene Apparate und gemeinsam ziehen sie gelegentlich durch die Stadt und entwickeln danach zu Hause die angefertigten Fotos.

An der Schule nehmen Wolfgang und seine Freunde gerne am Turnunterricht bei Oberlehrer Dr. Hoffmann teil. In diesem Schuljahr finden neben den drei Stunden Turnen in der Woche noch zusätzliche Spielnachmittage statt und im neu gegründeten Schüler-Turnverein werden sie ebenfalls Mitglied. Professor Heinrich Schucht legt großen Wert auf die Qualität der Literatur, die seinem Sohn vorliegt. In letzter Zeit wird zunehmend vor Schmutz- und Schundliteratur gewarnt, die sich nach Meinung der obersten Schulbehörde negativ auf die Entwicklung junger Menschen auswirken soll. Wolfgang verschlingt nach wie vor Bücher verschiedenster Themenbereiche. Er erhält diese entweder aus der Schülerbibliothek, von Lehrerkollegen seines Vaters wie Dr. Hoffmann oder seine Freunde Paul Schwarz und Peter Boos leihen ihm Exemplare aus, worüber sein Vater nicht glücklich ist. Spannend findet Wolfgang die Ausflüge mit seinen Eltern in den Stadtpark Westerholz. Aus dem Ausflugslokal „Zum Fredenbaum“ war in den letzten Jahren ein Vergnügungspark mit Tanzzelt und Oberbayrischer Bierhalle, verschiedenen Schießständen und Fahrgeschäften wie Berg- und Talbahn und Wasserrutschbahn herangewachsen. Ein besonderes Ereignis ist es für Wolfgang, wenn er auf einen der Schießstände mit dem Browning-Revolver des Vaters Schießübungen machen darf.

Anfang Juni 1912 häufen sich bei Wolfgangs Vater Anfälle von Schwindel und Übelkeit. Der konsultierte Arzt empfiehlt Professor Schucht eine mehrwöchige Erholungsphase in einem Luftkurort. Direktor Adams beurlaubt Wolfgangs Vater krankheitsbedingt vom Unterricht und der Probekandidat Edmund Günther übernimmt Schuchts Vertretung. Heinrich Schucht wird bis Ende Juni zur Genesung in den 25 Kilometer enternten Luftkurort Cappenberg überwiesen und soll sich dann noch bis Mitte September zu Hause erholen. Wolfgang hat sich in den Kopf gesetzt in den Ferien mit seinen Klassenkameraden Erich Vesterling und Hermann Bauer auf eigene Faust durch Deutschland zu reisen. Nach langen Gesprächen mit seinen Eltern, stimmen diese unter der Bedingung zu, dass er einen genauen Reiseplan vorlegt, täglich ausführlich von seinem Auenthaltsort und seinen Erlebnissen berichtet und die Reise nicht länger als zehn Tage dauert. Der vierzehnjährige Wolfgang und seine beiden Freunde machen sich auf den Weg und wandern Richtung Duisburg, wo sie mehrere Tage Aufenthalt haben, um dann weiter nach Detmold zu reisen. Heinrich Schucht antwortet kurz vor der Heimfahrt aus dem Luftkurort Cappenberg auf einen Brief seines Sohnes mit dessen Reiseschilderungen:

Cappenberg, 26.Juni 1912

Mein lieber Junge!

Ich schicke dir im Paket zwei Mark für Karten, etc. Hoffentlich werden sie nicht umsonst angeschafft. Überlege dir aber gut die Straße. Wollt ihr nicht lieber von Detmold Teutoburgerwald die schöne Weserstraße bis Porta, nachher etwas Heide machen und dann Fahrt? Cuxhaven und Brunsbüttel laß dir für Hamburg, da kannst du mal mit Dampfer oder sonstwie (mit Onkel vielleicht) hin. Jedenfalls verlange ich einen genauen Reiseplan. 10 Tage ist reichlich genug. Das Baden sollst du nicht unterlassen, wann schwimmst du dich den endlich frei? Das Geld für die Fotografien hättest du sparen sollen, es ist Schund. Da ist deine Skizze von Gerolstein doch tausendmal wertvoller, die Pfarrer Ötringhaus sofort erkannte. Leider war es die einzige Skizze von der Fahrt. Die dumme Hose wird diesmal noch bewilligt (wegen des Vergleichs mit dem Turnierheben!), aber die wäscht man mit Seifenwasser und macht sie nicht durch Terpentin zu einem Fettfladen. Auch mehrere andere Wünsche werden erfüllt. Die Bücher hast du inzwischen durch Dr. Hoffmann erhalten, dem du doch wohl zu danken wissen wirst. Im Übrigen mein Sohn, halte die Groschen zusammen. Ich habe Mühe durchzukommen, und wer sich nicht beschränkt, hat nie etwas, wo er es am dringensten bedarf. Das wir dauernd für dich Strafporto bezahlen müssen, ist ein Skandal; das nächste Mal schicke ich den Brief zurück. Mit Siegellack brauchst du auch nicht zu quafen. Die Adresse von Onkel B. von Gawin-Gostomski Hamburg Kolonnaden (colonne=columna) 33 II und Frau Brinkama (Brinckama) Hamburg 21, Awerhoffstraße (Averhoffstr.) 4. Onkel Miezek hat bis Oktober Nachurlaub, du wirst ihn also nicht mehr in Duisburg sehen. Sehr muss ich mich wundern, dass du dich so für den Kientopp ins Zeug legst; ich muss daraus zu meinem Schmerz ersehen, dass du dich leichtfertig über meine Wünsche hinwegsetzt und mich oft getäuscht hast. Wenn ich dir etwas verboten habe – was sehr selten geschah – so habe ich doch wohl nur im Auge gehabt, dir zu nützen. Der blutrünstige Kientopp verroht Herz, Geschmack und Gefühl. Gute und belehrende Vorstellungen sind euch nicht verboten und wenn eine berechtigte Person, etwa ein Onkel mitgeht, dürft ihr auch hin. Wozu also diese Betrübnis? Hast du diese Täuschung deines Vaters etwa von Vesterling und Bauer gelernt, die sich kürzlich wieder durch eine Verlogenheit sondergleichen entehrt haben? Auch Kähs half erst tapfer mit, besann sich aber schließlich eines Besseren. Und all diese Entwürdigung um einer gerauchten Zigarette!! Warum nicht mit offenem Visier (visum) die Wahrheit sagen: Si fractus illabatur orbis, Impavidum ferient ruinae! [lat. „Wenn das Himmelsgewölbe nach dem Zerbersten fallen sollte, werden die Trümmer den Furchtlosen treffen“ – aus der Ode III,3 von Horaz; Anm. d. Verf.] Hier musste ich abbrechen, weil mir wieder sehr schlecht wurde, wie einige Male in den letzten Tagen – täglich ein Brief scheint für mich zu viel zu sein. Nun wollen wir uns anderen Dingen zuwenden. Für das Recht des Knotenstocks und des Bowiawassers und gegen das Fliegen redest du wie ein guter Rechtsanwalt und rednerisch ist dagegen nicht viel zu sagen, vieles zu loben.

 

Mit Worten läßt sich trefflich streiten,

mit Worten ein System bereiten,

an Worte läßt sich trefflich glauben,

von einem Wort läßt sich keine Jota rauben.

Ich meinte nur, so einen Rowdy reizt man nicht, schimpft nicht wieder, und es ist 1000:1 zu walten, dass es nicht bis zum Messer kommt. Die Zirkusmenschen verdienen in ihrer Art alle Achtung, aber ihr Schicksal und Streben fördert nicht dem Allgemeinwohl, dagegen gehören Männer, die uns das Luftmeer erobern, zu den allergrößten Kulturpionieren – das hat die U II [dt. „Untersekunda“; Anm. d. Verf.] auch eingesehen und den sogenannten „Witz“ von selber nicht gemacht. Sehr gefreut hat mich, dass du der Bergleute so warm gedenkst: wieviel Mühe, Not und Gefahr für sie, damit wir hinterm warmen Ofen sitzen.

Lieber Wolf!

Den Schluss schreibe ich heute am 27ten in Hörde, habe viel zu tun. Onkel Max hat abgelehnt für dich Pension zu nehmen, also marschiere nach Kieflen, hilf Gerd immer, sei lieb gegen Tante, mein Junge denk an mich! 1000 herzliche Grüße, dein Vater. Einliegend 3 Mark! Buch Pfadfinder unterwegs! Sauté! Zeichnen!

Vierzehn Tage nach Wolfgangs Reise, findet am 6.Juli 1912 wie jedes Jahr die Turnfahrt aller Klassen statt. Wolfgangs Untersekunda hat als Ausflugsziel die Müngstener Brücke, eine beachtliche Stahlkonstruktion mit einer Höhe von 107 Metern. Anschließend besichtigt die Klasse Schloß Burg an der Wupper.


Kurz nach Beginn des Wintersemesters im Oktober 1912 schreibt Wolfgang einen Brief an seine Großmutter Franziska Schucht.

Hörde, den 26.10.1912

Liebe Großmutter!

Vielen, vielen Dank sende ich dir mit diesen Zeilen für dein und Tante Lieses (nicht zu vergessen) Geschenk. Ich bin mit mir noch im Unklaren wie ich es verwenden soll, aber es wird schon nicht umkommen. Tante Lieses Witz (ich weiß nicht ob es einer sein sollte) habe ich nicht verstanden. Die von ihr erwünschte Fotographie liegt bei. Wenn euch so viel daran gelegen ist, sollt ihr bald eine andere, das heißt bessere bekommen, denn mein Freund fotografiert mir aus langer Weile, nicht etwa um etwas dabei zu verdienen. Meine Verbannung ist ja auch glücklich überstanden. Dass ich jetzt in Vaters Sekunda bin und Ostern mein Einjähriges mache, weißt du ja wohl auch. In der Schule geht es mir auch noch immer gut. Vater befindet sich auch wohl, bloß wenn er sich einbildet, es ginge ihm schlecht, dann geht es ihm schlecht. Im Übrigen ist jetzt auch wieder alles beim alten. Meine Erlebnisse in Duisburg kennst du zur Genüge. Im Übrigen grüßt dich, Tante Liese und Kaldeweys, sowie Onkel Fritz, dein Wolf.

Das Schuljahr 1914 beginnt für Wolfgang und seine Mitschüler am Mittwoch, den 22.April wie gewöhnlich mit einer Eröffnungsrede von Direktor Adams in der Aula des Realgymnasiums Hörde. Dr. Heinrich Leypoldt wird für Wolfgangs Klasse, der Unterprima, in diesem Jahr der Ordinarius sein. Professor Dr. Bodo Knüll, der Deutschlehrer gibt für das erste Tertial die Aufsatzthemen bekannt: „Die Bedeutung der Kreuzzüge für die deutsche Literatur“ und Goethes „Hermann und Dorothea“ werden behandelt. Als Lektüre ist ein Überblick über die deutsche Literatur bis Klopstocks Oden und Othello vorgegeben. Professor Heinrich Schucht wird in diesem Jahr in Wolfgangs 12.Klasse Latein lehren und mit den Schülern Texte des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius durchnehmen. Wolfgang läßt sich von seiner Schule noch eine Ausweiskarte für das Dortmunder Stadttheater ausstellen, mit der er vergünstigt die Vorstellungen besuchen kann.


Auch an den Schulwandertagen, wie der eintägigen Turnfahrt am 27.Juni des Jahres, ist Wolfgang gerne dabei. Bei Oberlehrer Dr. d’Ester werden noch einmal zusätzlich besondere Wanderungen im Rahmen des Pfadfinderkorps angeboten. Wenn er nicht gerade Französisch, Englisch oder Latein lernen muss, geht Wolfgang mit seinen Eltern und Freunden zum Kegeln – und manchmal kann er nach wie vor mit dem Browning-Revolver Schießübungen machen. Durch die vielen gesellschaftlichen Verbindungen seines Vaters, hat Wolfgang einen großen Bekanntenkreis. Unter anderem kennt er alle Kollegen seines Vaters von den Besuchen bei seiner Eltern, dem gemeinsamen Kegeln und zahlreichen Veranstaltungen in der Schule und rund um Hörde gut.

Das unbeschwerte Leben endet für Wolfgang, seine Familie und deren Freunde abrupt, als am 28. Juni 1914 Franz Ferdinand, der Thronfolger der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, durch einen 19-jährigen serbischen Attentäter erschossen wird. Europa hatte sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts an die ungewöhnlich lange Periode des Friedens gewöhnt. Seit 43 Jahren war kein großer Konflikt mehr unter Europas Staaten ausgetragen worden und kaum fünf Wochen nach dem Attentat von Sarajevo befindet sich Europa am Rande einer Katastrophe bis dahin ungeahnten Ausmaßes.


Die Stadt Tilsit an der Grenze des Deutschen Reiches zu Russland ist 1914 mit gut 40.000 Einwohnern auch zum kulturellen Zentrum des nordöstlichen Ostpreußens geworden. Die aufstrebende Stadt wird in aller Welt durch den Tilsiter Käse bekannt. Franziska Schucht, die Mutter von Professor Dr. Heinrich Schucht beschließt nach dem Tod ihres Mannes Liebwalde zu verlassen und zieht nach Tilsit in die Gerichtsstraße 9, gleich neben der Dragonerkaserne im Stadtzentrum.

Am 1.8.1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Der russische Einmarsch in Ostpreußen führt 14 Tage nach der Mobilmachung zum Gefecht bei Kauschen, wobei die zahlenmäßig weit unterlegene deutsche 4. Landwehrbrigade versucht, die russischen Streitkräfte am Übergang über die Inster zu hindern. Dabei erleiden die schwachen deutschen Verbände schwere Verluste. Trotz der gebrachten Opfer läßt sich der Rückzug der deutschen Truppen nicht vermeiden. Unter der Bevölkerung der Stadt Tilsit macht sich Panik breit, als Nachrichten von Vertreibungen, Plünderungen und Grausamkeiten russischer Truppen gemeldet werden. Fast 800.000 Ostpreußen und darunter viele Tilsiter Bürger verlassen fluchtartig Stadt und Land und fliehen nach Königsberg oder weiter nach Berlin. Franziska Schucht sieht die Flüchtlinge in traurigem Aufzuge mit den kümmerlichen Resten ihrer schnell geretteten Habe durch die Stadt ziehen, beschließt aber selbst zu bleiben. Am 20.August werden alle noch kriegsfähigen Männer auf Schleppkähnen nach Königsberg gebracht, damit sie nicht in russische Gefangenschaft geraten können. Ein Pionierkommando bereitet die Sprengung der Königin-Luise-Brücke im Stadtzentrum vor. Im letzten Moment entscheidet das deutsche Generalkommando in einem Telfongespräch die Sprengung abzuwenden. Am folgenden Tag wird Tilsit wegen der vorrückenden russischen Truppen von sämtlichen deutschen Soldaten geräumt. Große Angst ist bei den zurückbleibenden Frauen, Kindern und alten Männern zu spüren, doch Oberbürgermeister Pohl, der alle Stadträte und Stadtverordneten verpflichtet zu bleiben, versucht die Bevölkerung zu beruhigen. Die letzten Militärpersonen verlassen eilig die Stadt. Am 25. August 1914 sieht Franziska Schucht aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Gerichtsstraße. Kein Mensch läßt sich auf der Straße blicken als sie mit Entsetzen eine russische Kosakenpatrouille erkennen kann, die die Straße heraufkommt. Oberbürgermeister Pohl und sein Vertreter laufen ihnen von der anderen Seite der Straße entgegen. An Ort und Stelle beginnen Verhandlungen zur Übergabe der Stadt. Am nächsten Tag rücken russische Infanterie und einige Schwadrone Kosaken mit ihrem Tross, vorbei an Franziska Schuchts Fenster, in die Stadt ein und beziehen Quartier in der leeren Dragonerkaserne. Traurig kann Franziska Schucht beobachten, wie am Rathaus und der Kaserne die russische Fahne gehißt wird. Die Soldaten gehören zur russischen Grenztruppe Tauroggen und kennen die Stadt gut. Es ergehen Alkoholverbot und Ausgangssperre. Oberbürgermeister Pohl und Stadtrat Teschner müssen sich ab sofort täglich beim russischen Stadtkommandanten, Oberstleutnant Bogdanow, melden. Die städtische Polizei darf weiter amtieren. Einige Tage später, am 30.August 1914, rückt die 43. Russische Division unter General Iwan Alexejewitsch von Holmsen in Tilsit ein und biwakiert in Zelten vor der Stadt. Die Offiziere werden in der Dragoner-Kaserne untergebracht. Am 12. September 1914 kommt es mit den vorrückenden deutschen Truppen zu schweren Gefechten. Die Russen werden geschlagen und viele von ihnen entkommen über die Königin-Luise-Brücke nach Osten, aber 6000 Russen und der russische General von Holmsen geraten in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Wolfgang Schuchts Tante Emma und Tante Luise wohnen in Königsberg. Sie fühlen sich mit Beginn des russischen Einmarsches in Ostpreußen nicht sicher in der Stadt und fliehen im August 1914 für einige Wochen in den Westen nach Soldin, südlich von Stettin gelegen. Dort kommen sie bei Wolfgangs Onkel Eugen und Tante Elisabeth unter. Ein Brief aus dieser Zeit an Wolfgang, der im Feld steht, ist erhalten:

Soldin, 21.9.14, Dominikanischer Justinenhof bei Kerkow Neumark

Lieber Wolfgang!

Von deinen lieben Eltern hörten wir, dass es dir gut geht. Das war schneidig von dir, dass du dich dem Vaterland zur Verfügung gestellt hast, trotz deiner 16 ½ Jahre. Gebe Gott, dass es dir gut ergehen möge! Baldet werdet ihr nun auch an den Feind kommen. Hoffentlich kann euren schweren Bum-Bum’s nichts wiederstehen. Wir würden uns sehr freuen, wenn du mal wieder von dir hören ließest und uns immer deine Adresse giebst, damit wir dir, wenn du im Felde stehst, mal etwas schicken können. Tante Emma und Tante Luise aus Königsberg sind bei uns. In Ostpreußen haben die Russen ja furchtbar gehaust. Gott sei Dank, dass die Bande jetzt hinaus ist. Mit herzlichem Gruß, dein Onkel Eugen und Tante Lisbeth.

Nach drei Wochen Besatzung ist Tilsit Mitte September 1914 von den Russen befreit und als das Postwesen wieder funktioniert, schreibt Franziska Schucht an Verwandte und Freunde von ihren Erlebnissen während der russischen Besatzungszeit. Ihr Enkel Wolfgang Schucht hat über seine Eltern von den Verwüstungen, welche die Russen in Ostpreußen zurückgelassen haben, erfahren und schreibt aus Belgien an seine Großmutter.

12.12.14, schwere 12cm Batterie vor Nieuport

Liebe Großmutter!

Fröhliche Weihnachten hier vom Yserstrand. Obwohl wir hier täglich schweres Feuer bekommen und wohl gerade hier in dieser Ecke das meiste Blut fließt, bin ich wohlauf und gesund. Hoffentlich seid ihr jetzt vor den Russen sicher. Zuerst war ich in Ostende bei der Küstenverteidigung, dann am 15ten vorigen Monats rückte ich aus mit der 12 cm Batterie. Mir ist es noch immer gnädig gegangen, wenn ich an all unsere Verluste denke. Hoffentlich sehen wir uns noch einmal gesund wieder. Gruß an Tante Luise. Dein Wolf!

Auch Wolfgangs Tante Emma ist inzwischen nach Königsberg zurückgekehrt und antwortet Mitte Januar auf einen Brief von Franziska Schucht:

 

Königsberg, den 13.1.1915

Meine liebe Franze!

Für deinen großartigen Brief vielen Dank, er ist ein Dokument aus Tilsits Schreckenszeit für kommende Geschlechter! – Ich erhielt ihn „Amtlich geöffnet“. Gott sei Dank, dass wir keine Spione sind, sonst säßen wir schon hinter Schloß und Riegel. – Für die Herren wird der Brief auch sicher interessant gewesen sein. Wie schade, dass du und auch Heinrich nicht Wolfgangs Adresse schreibt! Thomaschki bat sie sich sogleich von Heinrich aus, doch ehe die Antwort kommt, ist die „Woge“ vorüber. Sie sind großartig im Schreiben und Schicken, vor Weihnachten hat Lisbeth 30 Pakete gemacht und Hedwig gegen 20, doch von ihren Söhnen hat keiner was bekommen. Wie freue ich mich, dass es Burkweitz und Anna gut geht, Grete hat doch auch ein großes Glück noch so spät gehabt und nun noch den Jungen! Dem Bilde nach muss er prachtvoll sein. Hätten wir nicht die Kriegszeit gehabt, würde ich von Engens aus hinfahren. Mit meinem Verstand und Augen ists aber ganz aus, der Schlaf fehlt zu oft, ich kann nicht über den nächsten Tag bestimmen. Ich gehe zu Niemand und zu mir finde ich ganz allein. An dich hatte ich sogar eine falsche Adresse geschrieben! Herzliche Grüße dir, Lisbeth und deiner Schwester von deiner Emma. Was habt ihr Frauen nur durchgemacht!!


Elisabeth „Lisbeth“ Thomaschki ist Professor Heinrich Schuchts Schwester. Sie wohnt mit ihrem Mann Paul in Königsberg, wo Paul als Pfarrer in der Burgkirche tätig ist. Elisabeth Thomaschkis Sohn Siegfried und ihr Schwiegersohn Rudolf stehen beide im Felde. Sie schreibt ihrer Schwägerin Wanda Schucht aus Königsberg:

Königsberg, den 26.2.1915

Liebe Wanda!

Vielen Dank für die guten Nachrichten über euch und eurem Jungen! Gott erhalte ihn euch weiter so gnädig. Siegfried kämpft am Tucholko-Paß in den Karpathen! Gestern bekamen wir eine Nachricht von ihm vom 16ten! Sie haben es furchtbar schwer dort, da die Russen sich in gut vorbereiteten Stellungen tüchtig verschanzt haben und wohl nicht früher weichen werden, als sie bei Stanislau geschlagen sind. Bis Tucholko haben sie sie ja schon von Munkatz aus vertrieben, bei 22 Grad Frost bis an den Leib im Schnee hat unsere Infanterie die Höhen gestürmt! Siegfrieds Adresse ist: Kaiserlich deutsche Südarmee, Leutnant Thomaschki, 1.Armeekorps, 1.Infanterie-Division, 2.Ostpreußisches Feldartillerie-Regiment 52; Stab der 1.Abteilung. Rudolf, unser Schwiegersohn, schrieb die letzte Karte am 20ten aus einem Ort zwischen Mlawa und Plonsk. Bis jetzt ist er ja trotz vieler Gefahren heil geblieben. Für uns daheim, die wir nur die Sorge um unsere Lieben kennen, ist es oft gewiß schwerer als für sie im Feld und je länger es dauert, desto schwerer ist dieser Zustand zu ertragen. Euch alles Gute wünschend mit herzlichen Grüßen auch von Paul, deine Lisbeth.

Ein weiterer Brief von Elisabeth Thomaschki an Wanda Schucht ein Jahr später geschrieben, ist ebenfalls erhalten:

Den 5.2.16

Liebe Wanda!

Endlich komme ich mal wieder dazu, euch ein Lebenszeichen zu geben und dir einige Bilder zu schicken. Es ist möglich, dass ihr schon einige von ihnen habt, ich weiß es nicht mehr so genau. Von Wolf bekamen wir vor einiger Zeit auch eine Karte über die wir uns sehr gefreut haben. Paul will heute an ihn schreiben und ihm ein Bild von sich und Siegfried schicken. Hoffentlich geht es ihm noch immer gut, vielleicht habt ihr ihn jetzt gerade auf Urlaub bei euch. Wir hatten ja auch die große Freude, nach Weihnachten Siegfried 3 Wochen hier zu haben. Wenn er auch, was ja ganz natürlich ist, durch die schwere Zeit äußerlich älter und innerlich ernster und gereifter geworden ist, so ist er doch trotzdem der liebe alte bescheidene Junge geblieben, der sich wohl gerade deshalb im Sturm alle Herzen erobert. Auf der Rückreise traf er noch einen Tag in Berlin mit Flebbes zusammen, die ihren Aufenthalt in Garmisch deswegen etwas abkürzten und ist dann am 17.1. wieder in Schloß Jablon eingetroffen, wo er mit Jubel empfangen wurde und von Exzellenz besonders herzlich begrüßt wurde. Da fast überall Ruhe ist, hat er jetzt auch weniger zu tun, was ihm auch sehr dienlich ist, denn er war doch recht nervös, hatte sich aber hier durch die ungestörte Nachtruhe und die Verantwortungslosigkeit sehr erholt. Rudolf und Else waren noch 14 Tage in Danzig. Rudolf geht es noch gar nicht gut, er ist noch durch und durch kaputt, kann vorläufig weder Garnisons- noch Felddienst tun. In voriger Woche sind sie nun nach H. auf die Ersatz-Abteilung gefahren. Dort ist er vorläufig der Schonungskompagnie zugeteilt und macht gar keinen Dienst. Er muss nun noch abwarten, bis sich etwas Passendes für ihn findet. Wir hoffen auf das Kriegsgericht in der Etappe. Ich war jetzt noch 8 Tage bei Ihnen in Danzig. Sonst geht es uns allen hier nach alter Weise. Ha, wir hoffen, dass Alfred noch einmal reklamiert wird, er ist noch immer sehr elend. Heute Abend wollen wir Tante Patschke besuchen. Bei Ostermeyers ist noch immer große Trauer um Erhard. Wir können den armen Jungen auch gar nicht vergessen. Hedwig ist furchtbar elend. Seit dem 1.Januar ist unser zweiter Geistlicher ganz im Felde und nun müssen wir alles allein machen. Eine Ausspannung täte uns beiden gut, aber außer nach Cranz rüber fahren, wird es wohl auch dieses Jahr nichts abgeben, denn vorläufig ist doch wohl gar kein Ende abzusehen. Da heißt es dann immer weiter durchhalten. Nun, liebe Wanda will ich Schluss machen. Gott erhalte euch euren Jungen. Mit herzlichen Grüßen Haus zu Haus, deine Lisbeth.

Im Januar 1916 kann Siegfried Thomaschki bei der Rückreise an die Front einen Tag in Berlin verbringen um dort seine Schwester Else Flebbe und deren Tochter Inga zu treffen. Siegfried nimmt sich dabei Zeit mit seiner Nichte Inga den Berliner Tiergarten zu besuchen. Ein Foto vor dem Eingang des Tiergartens schickt er seiner Mutter Elisabeth, welche es an ihre Schwägerin Wanda Schucht weiterleitet.


Oben: Januar 1916, Tiergarten Berlin, unsere beiden Kleinen Siegfried und Ingalein.


Professor Schucht und seine Frau Wanda sind sehr bemüht, den Kontakt mit Verwandten, Freunden und Bekannten, welche im Feld stehen, aufrecht zu erhalten. Wanda schnürt nicht selten zwei dutzend Liebespakete im Monat, um den Soldaten draußen eine Freude zu bereiten. Für ihren Neffen Siegfried Thomaschki, der mit seinem Regiment in den Karpaten steht, stellt sie ein besonders schönes Paket zusammen. Von ihrem Sohn Wolfgang weiß sie, dass insbesondere Esswaren als Abwechslung zur kargen Feldküche eine willkommene Ergänzung sind. Siegfried Thomaschki, der einen eigenen Fotoapparat besitzt, bedankt sich für die erhaltenen Liebesgaben mit einer Foto-Postkarte, die sein Onkel Professor Heinrich Schucht so gerne in seiner Postkarten- und Foto-Sammlung sieht:

29.3.15, Karpaten

Mit herzlichstem Dank für das schöne Frühstück das mir köstlich gemundet sendet aus dem fernen Karpatenlande einen fröhlichen Ostergruß euer stolzer Neffe Siegfried. Frieden im Krieg! Leutnant Thomaschki; 1.preußische Infanterie-Division; Feldartillerie-Regiment 52; Stab 1.Abteilung; Karpaten; Deutsche Süsarmee


Aus den Karpaten sendet Siegfried Thomaschki ein weiteres Foto an Professor Schucht. Es zeigt ihn im Schützengraben, dessen Wände aus Schnee bestehen auf 1603 Metern Höhe.



Alex von Gostomski ist der Bruder von Wanda Schucht. Seinen aktiven Militärdienst hat er schon lange abgeleistet und geht einem zivilen Berufe nach. An den regelmäßigen militärischen Übungen muss er altersbedingt als Landwehrmann des 2.Aufgebotes, in welchem man bis zum 39.Lebensjahre verblieb, schon seit einigen Jahren nicht mehr teilnehmen. Mit Kriegsbeginn erhalten viele Reservisten wie auch Alex von Gostomski ihren Gestellungsbefehl. Er wird einer Munitionskolonne zugeteilt und an die Westfront versetzt. Seiner Schwester Wanda und dem Schwager Professor Heinrich Schucht schreibt er regelmäßig aus dem Felde.