Hofräte, Einflüsterer, Spin-Doktoren

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Auch in der öffentlichen Meinung ist Bartenstein nicht beliebt. Da er als des Kaisers einflussreichster Ratgeber gilt, wird er für alles verantwortlich gemacht, was unter Karls Regierung schiefläuft – und das ist in seinem letzten Jahrzehnt eher viel. „Die Hauptschuld hievon wurde auf Bartensteins Schultern gewälzt“, schreibt 1871 der Historiker Alfred Ritter von Arneth, „und viele wiesen darauf hin, wie sein Eintritt in jene einflussreiche Stellung so ziemlich mit dem Zeitpunkt zusammenfiel, in welchem der Glücksstern Karls VI. nach und nach zu erbleichen begann. Insbesondere soll er den Kaiser (…) zu all den Opfern verleitet haben, welche gebracht wurden, um sie zur Gewährleistung der Pragmatischen Sanktion zu bewegen, während doch ein Teil dieser Mächte gleich nach des Kaisers Tod dieselbe offen verletzte.“

Als Karl 1740 unerwartet stirbt, wähnen viele Feinde Bartensteins das Ende seiner Macht. Sein Verhältnis zu Thronfolgerin Maria Theresia ist nicht besonders eng, vor allem aber teilt auch sie die Meinung, er trage die Hauptschuld an der unheilvollen Entwicklung der vergangenen Jahre. Doch sieht die junge Königin auch, dass sie einen Routinier als Berater braucht, und Bartenstein stärkt ihr als Einziger am Hof sofort und uneingeschränkt den Rücken. „Alle meine Mitarbeiter ließen, statt mir Mut zuzusprechen, diesen gänzlich sinken, taten sogar, als ob die Lage gar nicht verzweifelt wäre. Ich allein war es, die in allen diesen Drangsalen noch am meisten Mut bewahrte“, schreibt sie in ihrem politischen Testament. Allein Bartenstein, gegen den allseits heftig intrigiert wird, habe sie im Gewirr der Meinungen unterstützt, sie „unvergleichlich souteniret“, und „die Gemüter zu präparieren gewusst“. In dieser Krise und Bedrängnis will und kann die Regentin nicht auf seine Dienste, seine kräftige Stütze, Fähigkeiten und Kenntnisse, seinen festen Charakter und seine unbeugsame Treue zu Habsburg verzichten.

Bartenstein nutzt dabei sein Talent, Menschen richtig einzuschätzen. Er enthält sich jeder Schmeichelei, weil er weiß, dass Maria Theresia das durchschaut, und jeder Bevormundung, um sie nicht „durch einen in hofmeisterischem Ton gegebenen Rat zu verletzen, sie ihre Unerfahrenheit fühlen zu lassen. Da er sie allzu geneigt sah, ihrem eigenen Urteil zu misstrauen, trachtet er darnach, sie mit Selbstgefühl zu durchdringen und sie dazu zu bewegen, auch manchmal unbekümmert um ihre Minister Entschlüsse zu fassen und auszuführen.“ In kurzer Zeit wird das und sein unglaublicher Arbeitseinsatz von der Königin anerkannt. Schlau betont er immer wieder, er allein sei es gewesen, der die Heirat mit dem spanischen Infanten verhindert hatte. Gleichzeitig wendet er alle Kraft auf, um die Mitregentschaft Franz Stephans politisch durchzusetzen; und er ist in den schwersten Stunden der Niederlagen gegen Preußen immer zur Stelle.

Ihre ersten Regierungsjahre sind auch die schwierigsten Jahre in Bartensteins politischem Wirken als Ratgeber. Als die habsburgische Monarchie sowohl durch den preußischen Einmarsch in Schlesien als auch infolge der durch Frankreich unterstützten Angriffe Bayerns und Sachsens in eine existenzielle Krise gerät, steht der Freiherr „ungebeugten Sinnes“ zu Monarchie und Monarchin, die er auch darin bestärkt, Gebietsabtretungen strikt abzulehnen und auf der Unteilbarkeit ihrer Länder zu beharren. Er rät dazu, sich Friedrich von Preußen militärisch entgegenzustellen. Er verfasst die Kriegserklärung an Frankreich 1741. Er ist während der Schlesischen Kriege der wichtigste politische Publizist der Hofburg und vertritt den Rechtsstandpunkt Habsburgs in zahlreichen Druckschriften, die er über die Gesandtschaften in Tausenden Exemplaren verbreiten lässt.

In dieser Zeit wird viel konzipiert, geschrieben, kopiert und expediert in der Staatskanzlei am Ballhausplatz. Bartenstein beklagt erstmals die ständig wachsende Fülle an täglicher Routinearbeit, mit der jedoch keine Personalvermehrung einhergeht. Da er seine Aufgaben lieber im Alleingang erledigt, ist er Tag und Nacht im Hochparterre anzutreffen. Doch die Entscheidungen fallen ab 1740 auf dem Felde: Die schlecht ausgerüsteten, miserabel bezahlten und inkompetent geführten Truppen Österreichs erleiden gegen Preußen eine Niederlage nach der anderen. Bartenstein unterläuft der strategische Fehler, viel zu lange darauf gehofft zu haben, dass Frankreich neutral bleibe. Doch Ludwig XV. tritt bereits nach wenigen Monaten aufseiten Preußens in den Krieg ein. Im Oktober 1741 muss ein schmählicher Waffenstillstand geschlossen werden.

In dieser dramatischen Zeit stirbt auch noch Kanzler Philipp Ludwig Graf Sinzendorf am 8. Februar 1742. Bartenstein macht sich Hoffnungen auf die Nachfolge, hat er doch in den letzten Jahren des Ministers das Außenamt de facto geführt. Die Monarchin aber denkt in Standeskategorien: Nachfolger kann nicht der Bürgersohn Bartenstein werden, sondern nur ein Diplomat von hohem Adelsrang. Als der Freiherr das erkennt, macht er sich auf die Suche nach einer möglichst schwachen Kanzlerpersönlichkeit und findet Anton Corfiz Graf Ulfeldt, den er Maria Theresia erfolgreich präsentiert.

Damit hat er die zweitbeste Lösung für sich erreicht: Er muss sich jetzt zwar formell auf seine Funktion als Sekretär der Geheimen Konferenz stützen, bleibt aber weiterhin die graue Eminenz am Ballhausplatz, da ihm sein Chef, eine matte Figur, großen Gestaltungsraum in der Außenpolitik lässt. Natürlich kränkt es ihn, dass er nicht als Minister ins Palais einziehen kann, sondern in seinem Privathaus in der Bäckerstraße wohnen bleiben muss. Doch er ist Profi und lässt sich das nicht anmerken. Nur im Amtskalender achtet er pedantisch darauf, gleich neben dem Ressortchef genannt zu werden.

Gegenüber den geschniegelten Diplomaten bei Hofe ist der Freiherr weiterhin wenig verbindlich. Daher sind auch deren Urteile über ihn alles andere als schmeichelhaft. Der venezianische Botschafter Foscari beschreibt ihn als „eine eher skurrile Gestalt, ein typischer deutscher Rechtsgelehrter, dem es an jeglicher sozialer Kompetenz fehlt und dessen schriftlicher Ausdruck sich durch einen furchtbaren Stil auszeichnet“. Der Preußische Botschafter Podewil wird sogar untergriffig: Bartenstein sei klein gewachsen „und seine Manieren sind die eines Emporkömmlings. Die Leute von Geburt nachäffend hat er dadurch eine impertinente Haltung angenommen. Er stellt sich als Schönredner hin, bemächtigt sich immer des Gespräches, will überall der Erste sein, schreit wie ein Adler, spielt den Kurzweiligen, behandelt Personen vom vornehmsten Range vertraulich und erlaubt sich gegen sie dasselbe Benehmen wie gegen Seinesgleichen. Mit einem Wort, er ist ein pedantischer Geck.“

Doch Bartenstein erzielt mit dem von ihm gegängelten Minister Ulfeldt außenpolitische Erfolge: England kann zur Intervention gegen Preußen gewonnen werden. Damit wendet sich das Blatt, 1743 kann sich Maria Theresia die böhmische Königskrone aufs Haupt setzen. Noch einmal versuchen die Preußen einen umfassenden Militärschlag, diesmal aber ohne Erfolg. Als 1745 der aus Bayern stammende Kaiser Karl VII. stirbt, schlägt wieder die große Stunde der Diplomaten vom Ballhausplatz: Bartenstein und sein Team schaffen es, Franz Stephan für die Nachfolge als Kaiser in Position zu bringen. Bayern erhält habsburgische Gebiete und unterstützt Franz Stephan. Damit ist auch der Weg zum Frieden mit Preußen frei, der allerdings mit dem Verlust Schlesiens bezahlt werden muss.

Ulfeldt und sein Einflüsterer betreiben eine strikt antifranzösische Politik des Bündnisses mit England und den Niederlanden. Doch es bahnt sich eine neue, für die Zukunft des Freiherrn entscheidende Entwicklung an: Im Jänner 1749 wird der achtunddreißigjährige Wenzel Anton Graf Kaunitz ins Kollegium der Konferenz berufen und steigt rasch zum neuen Vertrauten Maria Theresias in außenpolitischen Fragen auf. Er aber ist frankreichfreundlich.

Kaunitz beginnt, die Geheime Konferenz samt ihrem Sekretär zu entmachten und die auf den Einmannbetrieb des Sechzigjährige zugeschnittene Arbeitspraxis der Kanzlei zu „bürokratisieren“. Es sollen nicht mehr einige wenige Personen dem Chef direkt zuarbeiten, sondern Abteilungen sollen eingerichtet und in diese qualifizierte Beamte eingestellt werden. Außenpolitisch leitet Kaunitz mit seiner profranzösischen Linie einen radikalen Kurswechsel gegenüber der bisherigen Ausrichtung ein, den „Wechsel der Allianzen“. Bartenstein erkennt, dass sein Einfluss sinkt. Er unternimmt noch einige hinhaltende Versuche, um seine Macht zu retten, doch kann er die Entwicklung nur mehr verzögern, nicht mehr verhindern. Nach drei Jahren zäher Intrigen wird er 1753 durch Kaunitz als Leiter der Außenpolitik abgelöst.

Aber die Kaiserin lässt ihren alten Berater und Favoriten nicht ganz fallen. Sie vergoldet ihm den Abschied durch eine Erhöhung seines Gehalts, eine einmalige Zahlung in Höhe von 100.000 Gulden und Stipendien für seine Söhne.

Seine Dienste sind fortan auf die innere Verwaltung der Kronländer beschränkt. Er wird Vizekanzler des Directoriums in publicis et cameralibus – also der österreichisch-böhmischen Hofkanzlei –, zusätzlich wird ihm die Direktion des neu errichteten geheimen Hausarchives übertragen. Zwei Jahre später soll er einen neuen Zolltarif für Österreich ob und unter der Enns erstellen. Später wird er Präsident der illyrischen Hofdeputation, die die Angelegenheiten der aus Serbien eingewanderten Bevölkerung zu regeln hat, und schließlich führt er die Deputation zur Leitung des Sanitätswesens. Das sind zwar nicht bloß Pensionsjobs und Ehren für einen „Senior Expert“, in den zentralen Regierungsprojekten jedoch hat Bartenstein nichts mehr zu sagen. Maria Theresia hat ihren eigenen Weg gefunden, sie hört immer öfter auf eine neue Generation junger, aufgeklärter, kreativer Geister.

 

Dennoch vertraut die Kaiserin die Erziehung und den Unterricht ihres ältesten Sohnes Joseph dem alten Berater an. Er entwirft die Grundlinien der Ausbildung, definiert die Fächer, die für einen künftigen Regenten wichtig sind, und erstellt umfangreiche Skripten. Am Ende umfassen diese 14 handschriftliche Bände sowie sechs zusätzliche mit Beilagen. Eine darin enthaltene Zusammenstellung soll ein detailliertes Bild des aktuellen inneren Zustandes der einzelnen Länder der österreichischen Monarchie vermitteln – diese „Compendien über den Kaiserstaat und dessen Verwaltung, Nachrichten von den ungarischen und siebenbürgischen Bergwerken, Rechtscompendien“ bleiben allerdings unvollendet.

Einmal ergibt sich noch ein völkerrechtlicher Konsultationsbedarf: Als Maria Theresia nach der verlorenen Schlacht bei Prag im Mai 1757 nahe daran ist, dem preußischen König Friedrich II. einen Teil Böhmens abzutreten, bäumt sich der alte Recke in seiner Funktion als böhmischer Hofvizekanzler dagegen auf: Zitternd legt er die bereits ausformulierte Urkunde aus der Hand und verweigert die Unterschrift. „Wir befehlen es ihm hiermit“, ruft die Kaiserin aus, aber Bartenstein wirft sich ihr förmlich zu Füßen und beschwört sie, von dem Vorhaben abzulassen. Maria Theresia fügt sich schließlich tatsächlich, Feldmarschall Leopold Joseph von Daun erhält Order, Prag zu entsetzen. Wenige Wochen danach entscheidet die Schlacht von Kolin tatsächlich das Schicksal Böhmens zugunsten Österreichs.

Am 5. August 1767 geht Bartensteins Leben zu Ende. Seinen Kindern hinterlässt er ein enormes Vermögen von mehr als anderthalb Millionen Gulden, das er der Freigebigkeit Maria Theresias verdankt. Nicht ohne realen Bezug hat ja die Kaiserin gemeint, „ich werde, so lange ich lebe, an diesen Ihren Personen, Kindern und Kindeskindern erkennen, was Sie mir und dem Staate vor Dienste geleistet; auch verobligire (ich) meine Nachkömmlinge, solche an denen Ihrigen allezeit zu erkennen, so lang sie selbige finden und seyn“. Zu diesem Vermögen gehören umfangreiche Ländereien in Niederösterreich, Mähren und Schlesien. Um Zigtausende Gulden hat er Güter in Iglau (Jihlava), Johannesthal (Janov) und Hennersdorf (Jindřichov) gekauft, 1749 Ebreichsdorf, 1760 Raabs. Aus den Erträgen wird die Herrschaft Poysbrunn erworben und im niederösterreichischen Falkenstein die Familiengruft angelegt. Später kommen Besitzungen in Schrems, Tribuswinkel und in Deutsch-Knönitz (Miroslavské Knínice) hinzu. Der Migrant aus Straßburg, der einst als mittelloser Referendar nach Wien kam, hat seine Stellung offensichtlich nicht nur offiziell und politisch, sondern auch persönlich und ökonomisch bestens genutzt. Private Haushaltung und öffentliche Repräsentanz sind ja in seiner Zeit noch nicht voneinander getrennt, finanzielle Zuwendungen für amtliche Tätigkeiten üblich. Erst viel später wird die strikte Abgrenzung zwischen privater und beruflicher Sphäre Auswirkungen auf die Arbeit und das Leben von Hofräten und Ratgebern haben – und einige, die sich nicht daran hielten, unehrenhaft scheitern lassen.

Johann Christoph von Bartenstein ist die erste große Figur eines Ratgebers, dessen Einfluss auf die Entscheidungen der Monarchen klar und über lange Zeit dokumentiert ist. Seine Wirkung, Bedeutung und Arbeitsweise sind mit späteren Beratern durchaus vergleichbar. Auch seine Karriere – kluger und eloquenter Jurist mit direktem Kontakt zur obersten Ebene, Macht, Erfolge, Neider, erzwungener, dennoch ehrenhafter Rückzug – entspricht diesem Muster. Aber seine Stellung gegenüber der wichtigsten Person, die er berät, ist eine besondere und einmalige. Der bürgerlich geborene Einzelgänger hat keine Hausmacht und verfügt nicht über ein solides Beziehungsnetzwerk. Er ist „nur“ der Favorit des Kaiserhauses, der „wahrhaft zutiefst ergebene Diener (und) letzte Mitkämpfer ihrer heroischen Jahre“, „der einflussreichste Ratgeber“, dem Maria Theresia „das Wohlwollen (…) wegen seiner Ergebenheit und unermüdlichen Arbeit“ erhält, er ist „erster Beamter“, „wichtige Stütze“, „vertrauter Mitarbeiter der Kaiserin“. Diese Epitheta ornantia aus der Literatur werden Johann Christoph von Bartenstein wohl gerecht, am besten hat es die Monarchin aber selbst getroffen: „Muß Ihme die Justiz leisten, daß Ihme allein schuldig die Erhaltung dieser Monarchie; ohne Seiner wäre Alles zu Grunde gegangen.“

2.
Visionär und Lehrmeister
JOSEPH FREIHERR VON SONNENFELS

Berater von Maria Theresia und Joseph II. 1765–1815


Reformen gehen hierzulande meist von oben aus und werden mit prominenten Namen verbunden. Joseph von Sonnenfels beeinflusste 50 Jahre lang solche Reformen, ohne selbst höchste Staatsämter innezuhaben. Er war in erster Linie Professor für politische Wissenschaften und Publizist, daneben niederösterreichischer Regierungsrat, Hofrat der Hofkanzlei, Projektmanager, führendes Mitglied von Kommissionen, wichtiger Streiter für den Rechtsstaat, Reformator der Gesetzesssprache und Lehrer berühmter Verwaltungsmänner. Er war der „Montesquieu Österreichs“ und sein Wort hatte über viele Jahre Gewicht bei einer großen Königin und drei Kaisern, in der Politik des Hauses Habsburg und der Wiener Staatenlenker. Sein Verdienst um die Abschaffung von Folter und Todesstrafe ist legendär.

Er hat – anders als viele andere mächtige Berater und graue Eminenzen – nie zu einer höchsten Position oder zum großen Geld gedrängt. Er war persönlich zwar „voll Anmaßung und Eitelkeit, äußerst fanatisch, spricht zuviel und rühmt sich zuviel“, dennoch ist sein Vermächtnis so glorios wie kaum das eines anderen, in der historischen Darstellung kommt er prominenter vor als andere Persönlichkeiten in vergleichbarer Stellung, als „hellleuchtender Stern aus den Tagen des Übergangs von der Dämmerung zum Lichte, unaufhörlich bestrebt, das seines starren Festhaltens am Alten viel verschrieene Österreich vorwärts zu bringen, Mißbräuche beseitigend, Neuerungen fördernd.“

Weder der Tag seiner Geburt, nicht einmal das Jahr sind präzise feststellbar, er wird 1732 oder 1733 in Nikolsburg (Mikulov) in Mähren geboren, die jüdischen Geburtsbücher beginnen erst 1735. Der Großvater ist Oberrabbiner, sein Vater ein etwas unsteter Hebräischlehrer namens Lipman Perlin, den es in die mährische Kleinstadt verschlagen hat. Der hiesige Fürst Carl von Dietrichstein wird auf ihn aufmerksam und nimmt ihn in seine Dienste auf, zuvor jedoch muss er zum katholischen Glauben konvertieren. 1735 lässt er sich samt seinen Söhnen taufen und nimmt den Namen Alois Wienner an. Die Beziehung der Familie zum Fürsten ist für deren weiteren Weg bedeutsam. Joseph, einer der Söhne des Lehrers, ist sogar sein Patenkind, dem er immer wieder ein paar Groschen schenkt. Im Piaristengymnasium seiner Heimatstadt fällt der Bub als begabter und braver Schüler auf. Mit knapp 14 Jahren jedoch holt ihn sein Vater, der in Wien eine akademische Karriere gemacht hat, in die Reichshauptstadt nach, wo Joseph bereits Vorlesungen der Philosophie besucht.

Joseph Freiherr von Sonnenfels (1732–1817)

Alois Wienner ist mittlerweile Lehrer an der Universität, besitzt ein Haus in der Stadt und wird 1746 mit dem Prädikat „von Sonnenfels“ geadelt. Dann aber schlittert er in finanzielle Probleme, seiner Frau droht wegen unbezahlter Rechnungen sogar der Schuldturm, er muss die Universität verlassen und aufs Land übersiedeln. Josephs Ausbildung bricht ab. Längere Zeit geht er weder zur Arbeit noch zur Schule. Erst mit 17 sieht er ein, dass ihn sein Vater nicht unterstützen kann, und meldet sich unter dem Namen Joseph Wienner als Soldat bei den Deutschmeistern. Mit diesen zieht er in den folgenden fünf Jahren nach Maribor, Klagenfurt, ins Böhmische und nach Ungarn. Da er einer der wenigen Gebildeten in der Truppe ist, avanciert er zum Korporal, bildet sich nebenher weiter, liest viel, lernt Französisch von Deserteuren und Böhmisch von den Mädchen und spricht am Ende neun Sprachen.

Als er erfährt, dass sich die Lage seines Vaters wieder gebessert hat und dieser ihn nun „mit Kost und Wohnung unterstützen“ kann, erwirkt Joseph – über Vermittlung seines Fürsten – seine Entlassung aus dem Militär und beginnt mit 22 Jahren an der Universität Wien Recht zu studieren. Vor allem der reformorientierte Naturrechtler Karl Anton von Martini, der spätere Justizminister Josephs II., beeindruckt ihn. Als Sonnenfels Senior wieder an die Universität zurückkehren kann, arbeitet sein Sohn nach der Promotion zeitweilig als sein Assistent und publiziert einen juristischen Aufsatz. Tatsächlich aber strebt er eine Lehrtätigkeit für Sprachen an, vor allem seiner ausgezeichneten Hebräischkenntnisse wegen. Eine Stelle findet er jedoch nicht.

Der junge Jurist hilft jüdischen Bürgern bei Übersetzungen von Testamenten und Vorschriften, schließlich fängt er in der Hoffnung auf eine spätere besoldete Anstellung als Rechtspraktikant in der „Obersten Justizstelle“ an. Zwei Jahre arbeitet Joseph von Sonnenfels ohne Einkommen, obwohl er bereits aufgrund einiger Publikationen in Insiderkreisen als aufstrebender Wissenschaftler geschätzt wird. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, bewirbt er sich schließlich 1761 um die Stelle eines Rechnungsführers und Schreibers bei der kaiserlichen Leibgarde. Sie ist zwar mit 356 Gulden schlecht besoldet, dafür lernt er einen für seinen weiteren Weg wichtigen Mann kennen, General Ernst Gottlieb Freiherr von Petrasch. Dieser erkennt bald, dass der talentierte Achtundzwanzigjährige für den Schreiberposten überqualifiziert ist, und interveniert für eine Dozentur an der Universität. Der junge Mann nutzt die Freundschaft zum Freiherrn, um Zugang zur hochadeligen Wiener Gesellschaft zu erhalten. Einmal darf er sogar ein kleines Theaterstück für die Kaiserkinder schreiben – sein erster direkter Kontakt zum Hof.

Am 2. Jänner 1761 macht der umtriebige Sonnenfels in einer Deutschen Gesellschaft in Wien durch ein brillantes Referat über Sprachkultur von sich reden. Petrasch vermittelt ihm daraufhin einen Kontakt zu Staatsrat Egid Freiherr von Borié, der seit Längerem die Etablierung der Polizei- und Kameralwissenschaften und damit erstmals eine systematische Ausbildung der Beamten an der Universität Wien plant. Mit ihm entwickelt sich eine angeregte Diskussion über Staat, Verwaltung und die Wichtigkeit des Bevölkerungswachstums. Sonnenfels publiziert 1762 mehrere Schriften dazu, die bis zu Kaiserin Maria Theresia gelangen. Sowohl die Monarchin als auch ihr Kanzler Wenzel Graf Kaunitz erkennen die Bedeutung der „Cameralwissenschaft“ als Grundlage für eine Staats- und Verwaltungsreform.

Doppelporträt Kaiserin Maria Theresia und ihr Sohn und Mitregent Kaiser Joseph II. (1741–1790)

Am 17. Mai 1762 hält Sonnenfels eine öffentliche Lobrede auf Maria Theresia anlässlich ihres 45. Geburtstags, die gedruckt und bis Berlin verbreitet wird. Zeitgleich verfasst er ein langes Bewerbungsschreiben für eine Dozentenstelle, in dem er zwar nicht die verlangten Vorlesungspläne darlegt, aber die Kaiserin über seine Quellen informiert: „Die berühmtesten Schriftsteller, deren Werth durchwegs erkannt wird, als: L’esprit de loix, Les Elements du Commerce, La theorie et la practique du Commerce“. Dank seiner beiden hohen Förderer erhält Joseph von Sonnenfels die neu geschaffene Lehrkanzel und wird Professor für Polizei- und Kameralwissenschaften. Die Fakultät wird dabei von der Monarchin glatt übergangen.

Jetzt kann Joseph auch heiraten. Der Ordinarius nimmt die erst fünfzehnjährige Maria Theresia, Tochter eines böhmischen Amtmanns, zur Frau. Sie wird wegen ihrer hohen sozialen Kompetenz und ihres weithin gerühmten Salons große Bedeutung für das gesellschaftliche Netzwerk ihres Gatten erlangen. Die Ehe hält bis zu seinem Tod.

Der Hof setzt sein Gehalt mit nur 500 Gulden jährlich fest, wovon die Familie nicht leben kann, erst über Intervention des Staatsrates Borié werden angemessene 1.200 bewilligt. Als er sich verpflichtet, auch am Theresianum zu unterrichten, werden es sogar 2.000 Gulden. Die Kaiserin nimmt lebhaften Anteil an der Arbeit der Lehrkanzel, sie stiftet Stipendien und will sogar die Namen der Studierenden wissen.

 

Sonnenfels stürzt sich in die Aufgabe und stellt 1765 ein Lehrbuch fertig, die „Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz“ in drei Bänden, das Standardwerk für alle Verwaltungsmanager des Kaiserreichs in den nächsten 50 Jahren. Allein dieser Erfolg würde ihm einen bleibenden Platz als Berater sichern, zum Dank ernennt ihn die Kaiserin zum niederösterreichischen Regierungsrat – das ist aber nur ein Titel ohne Aufgaben. Sonnenfels intensiviert seine Arbeit, er verfasst zahlreiche Gutachten für den von Borié geführten Staatsrat – niemand anderer kommt in dessen Akten so häufig vor wie er. Zudem erstellt er Musterbücher mit Eingaben und Erledigungsformularen für den Amtsgebrauch, hält Reden, wo immer es geht, und wird gewissermaßen zum Politologieprofessor der Nation. Als solcher setzt er weitere Lehrstühle nach seinem Muster in Linz, Tyrnau (Trnava) und Klagenfurt durch, erhält zusätzliche Assistenten und baut sich ein Netzwerk auf.

„Sein glänzender Vortrag und die Tüchtigkeit des Inhalts erwarben ihm bald die Liebe und Verehrung der Jugend. In periodischen Blättern trat er gegen alle an dem Baume der Cultur im Laufe der Jahrhunderte sichtbar gewordenen, denselben in seiner Entwicklung störenden Auswüchse auf, gegen den Aberglauben, gegen die Selbstsucht, gegen die schroffen Mängel in der Erziehung, gegen die Vorurtheile des Adels, gegen die Ueberzahl und Zwecklosigkeit der Klöster.“ Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist Sonnenfels auch journalistisch tätig, etwa als Herausgeber von „moralischen“ Wochenzeitungen, des Journals „Der Mann ohne Vorurteil“ sowie Publikationen mit blumigen Titeln wie „Der Verkannte“ oder „Theresia und Eleonore“.

In der Folge ist er immer seltener im Hörsaal anzutreffen. Das führt zu einem heftigen Streit mit der Studienhofkommission, die dem heutigen Wissenschaftsministerium entspricht. Doch das ficht Sonnenfels kaum an. Er hat den Staatsrat und die Kaiserin hinter sich. Als ihm 1770 Maria Theresias Sohn und Mitregent Joseph auf Vorschlag der Kommission befiehlt, mehr Vorlesungen zu halten, wendet er sich sofort an die Monarchin, die ihn wieder von der Lehrtätigkeit dispensiert. Er hat es geschafft, vom bloßen Professor zum Direktor der Verwaltungswissenschaften im Land aufzusteigen. Damit ihm künftig niemand in die Quere kommt, lässt er sich selbst in die Studienhofkommission ernennen.

Doch mächtige Feinde intrigieren weiterhin gegen ihn: Einerseits die konservative Hochschule, in deren Gremien es gar nicht gern gesehen wird, dass ein neues Fach mit modernem Zuschnitt ihre wohlgesetzte Ruhe stört und zu neuen Arbeitsweisen und Methoden der Personalrekrutierung im Staat führt. Andererseits die Verwaltungspraktiker, die sich ungern von einem Theoretiker belehren lassen wollen. Und schließlich die Politiker, die den aufklärerischen Elan des Parvenüs missbilligen. Schließlich lehrt er ganz nach dem neuen französischen Geist und wird daher beschuldigt, „das Verständniß für die historischen Grundlagen des Staatswesens und Volkslebens verloren zu haben, und die großartigsten, durch jahrhundertjährige Erfahrung gewonnenen Institutionen und Resultate einseitig den philosophischen Doctrinen der Zeit zu unterstellen“.

Tatsächlich hat Joseph von Sonnenfels die Gabe, moderne Theorien verständlich zu vermitteln und sie für das Reich und dessen Verwaltung nutzbar zu machen. Sein Staatsmodell ist der aufgeklärte Absolutismus, den er als ideale Regierungsform betrachtet. Sinn und Zweck der Gesetze liegen für ihn in der Förderung der allgemeinen Wohlfahrt. Zu große soziale Unterschiede sollen ausgeglichen werden, Herrschaft soll vernunftgeleitet und zweckmäßig agieren, die Regierung verfassungsmäßig handeln. Den Staat teilt er in vier Klassen ein, eine Pyramide mit dem Herrscher an der Spitze.

„Dass es ihm bei solchem Freimuth in seinen Ansichten nicht an Feinden fehlte, begreift sich leicht; es ergingen heimliche und öffentliche Denunciationen gegen ihn; aber die große Kaiserin ließ sich dadurch nicht irre machen.“ Maria Theresia weiß nur zu gut um die Notwendigkeit, in der Verwaltung gründlich aufzuräumen. Deren Unterbau stammt noch aus dem Mittelalter und wird den neuen Anforderungen nicht gerecht. Die militärischen Niederlagen gegen Preußen haben gezeigt, dass es hoch an der Zeit ist, die Administration zu modernisieren, effizienter zu machen und die Mittel besser einzusetzen. Dafür bedarf sie guter Minister, dafür brauchen diese aber eine wissenschaftliche Basis und eine perfekte Kommunikation. Beides besorgt Sonnenfels für sie. Ab und zu, wenn die Protestnoten überhandnehmen, ermahnt sie ihren Professor, dass er „seine allzugroße Freyheit im Schreiben überhaupt behörig mässige und beschränke“ und sich größerer „Bescheidenheit und reifrer Oberlegung bedienen“ möge. Allenfalls fragt sie Gerard van Swieten, ebenfalls einer der Reformer im Umfeld der Kaiserin, um Rat. Doch der spricht sich immer zugunsten von Sonnenfels aus – das fortschrittliche Beraterteam der Kaiserin lässt sich keinen herausschießen.

Nun nimmt der Hof den Berater und Verwaltungsexperten auch für Vollzugsaufgaben in Anspruch: Ab 1770 amtiert er zwei Jahre als Zensor und hat damit beträchtlichen Einfluss darauf, was gedruckt erscheinen darf. Dabei begibt er sich aber mit großem Engagement an eine Nebenfront: Er bekämpft die Bühnenfigur des derben Hanswurst und eröffnet „einen hartnäckigen Krieg (…) gegen die Zoten auf den Theatern und den Unfug der extemporirten Stücke. Es entbrannte alsbald ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Sonnenfels und dem Hanswurst. Selbst als die Kaiserin Maria Theresia resolvirte: ‚Die Comödianten sind eine Bagage und bleiben eine Bagage und der Herr Hofrath von Sonnenfels könnte auch was Besseres thun, als Kritiken schreiben‘, lässt er sich nicht beirren.“ Als viele Jahre später nach dem Tod Kaiser Josephs II. die konservative Theaterzensur auf Sonnenfels’ alte Ausführungen zurückgreift, trägt es ihm massive Kritik ein, seinerzeit politische Zensur salonfähig gemacht zu haben.

Am Anfang seiner Tätigkeit für die Zensurbehörde steht er innerhalb der Kommission noch auf der liberalen Seite. Deren Chef Gerard van Swieten hat ihn ja auch genau wegen dieser Haltung zur Unterstützung in seinem Kampf mit dem konservativen Wiener Kardinal geholt. Folgerichtig erbittet Sonnenfels nach dem Tod van Swietens im Jahr 1772 seine Entlassung aus der Kommission, was die Kaiserin umso lieber gewährt, nachdem er für einen Verbleib ein zusätzliches Honorar von 1.500 Gulden begehrt.

Ein Jahr nach seinem Abgang wird Sonnenfels Referent für Polizeiwesen bei der niederösterreichischen Regierung. Anschließend fungiert er ab 1776 als „Illuminationsdirektor“ von Wien. Der bisherige Beleuchtungspächter hatte kläglich versagt, in den folgenden zwei Jahren zeigt Sonnenfels, dass er nicht nur ein guter Theoretiker, sondern auch ein guter Verwalter ist: Unter seiner Führung entsteht die erste permanente Straßenbeleuchtung Europas. Wieder ist die Kaiserin mit ihm sehr zufrieden: „Nachdeme dieses Werk Sonnenfels so gutt geführt, so solle er noch selbes continuiren mit 2000 Gulden aus dem illumnations fondo remuneration und gratis den Hofraths Titl.“

Über das Selbstbewusstsein des Beleuchtungsdirektors gibt eine Anekdote beredtes Zeugnis: Eines Spätabends fährt er mit einem Gast von Schönbrunn zurück über die Laimgrube in die Innenstadt. Die Glacis-Laternen brennen lustig, der Himmel ist bewölkt. Plötzlich tritt der Mond hervor und erhellt die Stadt. „Welch’ herrliche Beleuchtung!“, ruft der Fremde aus. Sonnenfels im Glauben, er meine die der Laternen, entgegnet geschmeichelt: „Sie ist ja auch von mir.“

Sein größter Erfolg als Berater der Regierung und der Kaiserin steht aber noch bevor: der Kampf gegen Folter und Todesstrafe, der ihn 20 Jahre lang nicht loslässt. Schon im Lehrbuch von 1765 führt er aus, dass die Todesstrafe nicht wirklich abschreckend auf Verbrecher wirke. Jedes verlorene Leben eines Untertanen sei ein Verlust für den Staat. Zwei Jahre später wird er wegen dieser, dem geltenden Recht widersprechenden Thesen angezeigt, doch die Kaiserin gewährt ihm Lehrfreiheit. Er nutzt sie weidlich und setzt noch eins drauf: Die Folter sei ein sehr zweifelhaftes Instrument, da sie kräftige Verbrecher gegenüber Schwächlichen begünstige. Abermals führt seine Kritik am Gesetz zu einer Anzeige, 1772 erfolgt eine offizielle Rüge durch die Hofkanzlei. Maria Theresia erhält Kenntnis davon, dass Sonnenfels fortwährend von der Lehrkanzel herab gegen die Tortur spreche, und lässt ihm ausrichten, „er solle aufhören, so anzüglich zu reden, weil er sonst entfernt werden müsse“.