Das qualitative Interview

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3.1.2Verfahren der Gesprächsführung

Die Entscheidung für eine Gesprächsstrategie sollte auf das Forschungsprojekt, den Forschungsgegenstand sowie auf die konkrete Forschungsphase abgestimmt sein. Bei der Recherche über mögliche Verfahren zeigt sich meist, dass etablierte Verfahren für ein spezifisches Forschungsvorhaben nur bedingt geeignet sind. Dennoch ist es sinnvoll, sich einen Überblick über gängige Verfahren zu verschaffen und deren Charakteristika zu betrachten, um ihre Besonderheiten besser einschätzen zu können und sich für Modifikationen zu sensibilisieren, die letztlich auch wieder zur Entwicklung einer angemessenen eigenen Gesprächsstrategie anhand der Ausführungen in Abschnitt 3.3 beitragen können. Aufgrund der Fülle der in der Literatur angeführten Interviewverfahren sowie der vielen Überschneidungen zwischen diesen können sie an dieser Stelle nur kursorisch und grob kategorisiert dargestellt werden. Dabei bilden offene und narrative Strategien in Einzel- und Mehrpersonenge-[50]sprächen den Kern interpretativer Forschungsstrategien und werden daher vergleichsweise ausführlich dargestellt. Um diesen Fokus sind auch die Abschnitte 3.2 und 3.3 aufgebaut. Allerdings zählen zur Bandbreite von qualitativ orientierten Interviews auch Gesprächsformen, die davon etwas abweichen. Das sind problem- oder themenzentrierte Gesprächsformen, die den Themenbereich stärker eingrenzen, Expert*innengespräche, die jeweils mehr oder weniger narrativ geführt werden können, sowie letztlich auch Sonderformen der Gesprächsführung, die zumindest kurz angesprochen werden sollten.

a)Offene und narrative Formen der Gesprächsführung

Sie gelten als Idealtyp eines Interviews im Zuge interpretativer Sozialforschung, welches besonders die Relevanzstrukturen der befragten Personen in das Zentrum rückt und ihnen dafür einen entsprechenden Freiraum anbietet. Narrative Interviews, wie Schütze (1977, 1987) sie konzipierte, widmen sich den Erzählungen über eigenerlebte Erfahrungen, die einen ganz spezifischen Blick auf die Prozesse, das Erleben, Handeln und Erleiden in der Welt der erzählenden Personen werfen. Dabei konturiert die spätere Verarbeitung gerade in biografischen Erzählungen die in der Vergangenheit aufgebauten Erfahrungsstrukturen (vgl. Schütze 1987: 14ff.). Exemplarische Anwendungsfelder waren ursprünglich Interaktionsfeldstudien (anhand derer Schütze das narrative Interview expliziert), die Analyse von Statuspassagen (wie sie in den frühen Untersuchungen der Grounded Theory zu finden sind) sowie biografische Interviews. Das Grundprinzip eines narrativen Interviews besteht darin, die befragten Personen zu ermutigen und dabei zu unterstützen, die eigenen Erlebnisse und Ereignisabläufe in einer Stegreiferzählung zu vermitteln. Dabei werden während des Erzählvorganges die Erfahrungsaufschichtungen der Ereignisse in der Gegenwart und in der Erzählsituation verlebendigt.

Der Grund für die Ergiebigkeit dieser Gesprächsform für die qualitative Sozialforschung liegt in den Besonderheiten der angestoßenen Erzählungen. Im Rahmen der retrospektiven Stegreiferzählung muss die befragte Person die Aufgabe bewältigen, die interviewende Person an der eigenen Geschichte teilhaben zu lassen. In diesen Stegreiferzählungen werden Zugzwänge wirksam, welche die Person dazu bringen, ihrer Geschichte eine Struktur zu geben, um sie nachvollziehbar zu machen, womit sie zugleich den besonderen Betrachtungswinkel der erzählenden Personen zum Ausdruck bringen: Das ist erstens der Zwang zur Kondensierung, denn angesichts der unendlichen potenziellen Detailfülle kann man nicht alles einbringen, weil dann die Geschichte nicht nur unendlich langwierig, sondern auch weitestgehend uninteressant wäre. Damit gibt die erzählende Person preis, was sie im Zusammenhang mit einer Geschichte als besonders relevant hält. Zweitens ist das der Zwang zur Detaillierung, weil die Geschichte in den Kernbestandteilen und deren Beziehungen zueinander dargestellt werden muss, damit andere die Bedeutung der Bestandteile erkennen können. Hier muss die erzählende Person erläutern, wie sie die Komponenten [51]zueinander verortet und welche Bedeutung sie ihnen zumisst. Drittens ist das der Zwang zur Gestalterschließung, weil die Geschichte gegen andere mögliche Sachverhalte und Verständnisweisen abgegrenzt werden muss, damit sie von anderen eingeordnet und nachvollzogen werden kann. Damit nimmt die Erzählung Bezug zu kognitiven Strukturen, die erst einen Sinnzusammenhang herstellen (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977: 187ff.). In den Erzählungen müssen deshalb permanent Entscheidungen getroffen werden, die es letztlich im Rahmen der Interpretation erlauben, die Lebenswelt der befragten Personen nachzuvollziehen.

Die Grundstruktur der Gesprächsführung teilt sich in zwei Phasen, und zwar in eine Anfangs- und Haupterzählung sowie eine Phase narrativen Nachfragens (vgl. Schütze 1977: 4f.): (1) In der Anfangsphase ist entscheidend, dass der befragten Person zunächst der Ablauf des Gesprächs erläutert wird. Für den Erzählkern wird dann eine Erzählthematik ausgehandelt, die nicht nur für die befragte Person interessant und sinnvoll ist, sondern das für die Forschung wichtige Thema auf die Erinnerungen der befragten Person sowie deren Darstellungsinteressen abstimmt. Das schafft die Basis für den Aufbau einer eigenen Stegreiferzählung. In der Folge beschränkt sich die Aktivität der interviewenden Person auf Zuhören und das Signalisieren von Aufmerksamkeit und Interesse. Keinesfalls sollten in dieser Phase neue Themen eingebracht werden, um nicht die Erzählstruktur zu unterbrechen. (2) Erst nachdem die Erzählung zum Abschluss gekommen ist, kann die interviewende Person wieder aktiver werden, wobei vorerst die verschiedenen Komponenten und Hintergründe der Erzählung weiter elaboriert werden. Anschließend werden spezifischere Teile zur Deskription des sozialen Rahmens (etwa beteiligte Akteur*innen, Situationen, Milieus, Handlungsweisen) erkundet und in weiterer Folge Theorien und Annahmen zu den Wahrnehmungen, Sichtweisen und Ereignissen ausgearbeitet, sodass sich zunehmend ein argumentatives Gespräch inklusive möglicher Bewertungen entwickelt (vgl. Schütze 1987: 237ff.). Diese Gesprächsphase bestimmt Schütze (2016: 55ff.) später im Kontext biografischer Interviews als eigenen, dritten Gesprächsteil, der sich mehr mit abstrahierenden Erklärungen der befragten Person befasst, wobei die befragte Person nunmehr als Theoretiker*in in Hinblick auf die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen betrachtet wird. Das narrative Interview wurde von verschiedenen Autor*innen weitergeführt (vgl. z. B. Glinka 2016; Bernart/Krapp 2005), wobei etwa Küsters (2009) die einzelnen Phasen noch näher ausdifferenziert. Insbesondere spielt diese Interviewform in der Biografieforschung eine zentrale Rolle (vgl. Schütze 2016). Rosenthal (2015: 157ff.) führt verschiedene Möglichkeiten an, wie man durch die Fragestrategie die biografische Entwicklung ausarbeiten kann: durch Ansteuern einer bestimmten Lebensphase, die Eröffnung eines temporalen Rahmens bei scheinbar statischen Ereignissen, die Erkundung konkreter Situationen, die Ausarbeitung einer argumentativen Struktur, die Exploration von Traditionen oder Fremderlebtem sowie den Einbezug von Zukunftsvorstellungen und Fantasien.

[52]Eine narrative Gesprächsführung drängt sich für biografische Studien förmlich auf, weil sie das persönliche Erleben des eigenen Schicksals der befragten Personen fokussiert. Im Vordergrund stehen biografische Deutungsmuster in unmittelbarem Zusammenhang mit der rekonstruierten Lebensgeschichte der betroffenen Person. Deshalb ist es in biografischen Gesprächen wichtig, zu klären, was sich tatsächlich ereignet hat, weil diese Grundlage eine Einschätzung der Deutung dieser Lebensgeschichte durch die Betroffenen erleichtert. Im Gespräch lässt man sich die Lebensgeschichte als Erzählung schildern und unterzieht diese in der Folge einer intensiven Exploration, sodass der Erzähltext den Prozess und die Bedingungen der Identitätsentwicklung mitsamt den Wendungen und damit verknüpften Deutungen sichtbar macht. Dazu gehört auch, dass bei Bedarf die Biografie in einer Abfolge von mehreren Gesprächen mit einer Person aufgearbeitet wird.

Wenngleich die Grundprinzipien ähnlich sind, unterscheiden sich offene Interviews dennoch von narrativen Gesprächen: Sie sind nicht nur auf Selbsterlebtes und die eigene Lebensgeschichte konzentriert, sondern beziehen sich auf einen wenig spezifizierten Milieuhintergrund. Deshalb richtet sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf die unmittelbar erlebten Ereignisse, sondern ebenso auf die indirekten Erfahrungen, also die Sichtweisen auf die Geschehnisse vor dem sozialen Hintergrund kollektiver Erfahrungshorizonte. Insofern ist auch die erste Erzählphase nicht nur als Stegreiferzählung aus dem eigenen Leben gerahmt, sondern als Stegreiferzählung im Zusammenhang mit einem allgemeinen Thema. Nicht der individuelle Horizont ist das entscheidende Element, sondern die Auseinandersetzung mit anderen Akteur*innen in unterschiedlichen Situationen im Zusammenhang mit den angesprochenen sozialen Feldern. Der entscheidende Bezugspunkt des Gesprächs ist folglich eine allgemeine Rahmung in Hinblick auf das Forschungsthema, das von den befragten Personen näher ausgeformt wird. Die narrative Grundstruktur bleibt dabei erhalten, wobei im letzten Teil Themen eingeführt werden können, sofern diese als relevant für die Forschungsfrage erachtet werden, aber im Gespräch nicht angesprochen wurden (exmanente Fragen). In der Analyse ist deshalb besonders in diesem Gesprächsteil darauf zu achten, welche Aspekte von der Person selbst angesprochen werden und welche von der interviewenden Person forciert oder überhaupt in das Gespräch eingebracht werden. Zudem achtet man mehr auf ein möglichst entspanntes Gesprächsklima als auf formale Regeln der Gesprächsführung. Maßgebend sind die Sichtweisen der befragten Personen, in denen die von ihnen angelegten Relevanzen zum Ausdruck kommen, wofür der Thematisierungsrahmen sehr weit angelegt werden muss.

 

Zu diesen sehr offenen Formen der Gesprächsführung zählen auch ethnografische Gespräche, die in einen Kontext ethnografischer Forschung eingebunden sind und eine Beschreibung der Welt sowie die praktische Erzeugung der Wirklichkeit nachvollziehbar machen sollen. In solchen Forschungsarbeiten sind meist Formen der Beobachtung integriert, wobei die Interviewer*innen zugleich als [53]teilnehmende Beobachter*innen in Hinblick auf das konkrete Setting und das Milieu agieren, in dem das Gespräch stattfindet. Insofern erweisen sich zwei Arten von Gesprächen als besonders geeignet: informelle Gespräche, die mit der teilnehmenden Beobachtung zwangsläufig einhergehen und meist nach dem Gespräch protokolliert werden, und formelle Interviews, bei denen die Beteiligten die Gesprächsrollen kennen (vgl. Breidenstein et al. 2015: 80ff.). Nach Schlehe (2003) lernen sich in diesen Gesprächen die Interviewpartner*innen kennen und treten in einen interkulturellen Austausch, wobei keineswegs Reziprozität hergestellt wird (auch gibt es vielfach Machtasymmetrien, die in der ethnografischen Forschung aus der Herkunft der Gesprächsbeteiligten resultieren), sondern der Aufbau einer vertrauensvollen, aber dennoch professionellen Beziehung als essentiell betrachtet wird. Zentral ist die Überlegung, dass die angesprochenen Personen über forschungsrelevantes Wissen verfügen, dieses mit den Forscher*innen teilen und in der Gesprächssituation auf eine besondere Weise organisieren, verständlich machen und hinterfragen und damit einen Zugang zu ihrer Lebenswelt öffnen. Bedeutsam ist dabei der subjektive und gesellschaftliche Wissensvorrat, der die spezifischen Sicht- und Handlungsweisen formiert. Die Erhebung der Daten ist meist mit einer engen Bezugnahme und einer intensiven Kommunikation der Forscher*innen mit dem Feld verbunden, weshalb die Rolle der Forschenden immer reflexiv berücksichtigt werden muss. Deshalb werden natürliche Settings bevorzugt, in denen sich die Menschen im Untersuchungsfeld im Alltag bewegen und in die sich die Forscher*innen begeben.

Auch wenn das Spektrum der Gesprächsführung in der Ethnografie wenig festgelegt ist und von unstrukturierten bis zu teilstrukturierten Interviews reicht (vgl. Schlehe 2003), so sind viele ethnografische Gespräche ähnlich wie offene oder narrative Interviews angelegt, wobei sie sich stärker an kulturellen Phänomenen orientieren. Im Zuge von teilnehmender Beobachtung geht es häufig darum, sich die laufenden Ereignisse oder Prozesse oder auch die Sichtweisen über Dinge und deren Anordnung erläutern zu lassen. Das kann auch im Kontext einer Führung durch das untersuchte soziale Milieu bewerkstelligt werden, indem man sich etwa eine Organisation zeigen lässt und dabei über die Gebäude und ihre Gestaltung, die Einrichtung, über die beobachteten Aktivitäten der Menschen, über die Gründe für bestimmte Anordnungen oder Tätigkeiten spricht. Dabei erfährt man vieles über die konkret beobachteten Sachverhalte und über deren Interpretation aus einer bestimmten Sicht und erweitert den Erkenntnisbereich.

Während die gerade angeführten Gespräche auf die kontinuierlichen gemeinsamen Beobachtungen bezogen sind, also einen gemeinsamen Bezugspunkt des laufenden Erlebens aufweisen, lassen sich solche Gespräche auch in Anlehnung an Alltagsgespräche durchführen. Dabei handelt es sich um Konversationen, die sich aus einer mehr oder weniger zufälligen Gelegenheit heraus ergeben und von der konkreten Situation partiell entkoppelt sind (man spricht mehr über [54]gemeinsame Themen als dass man die momentane Situation kommentiert). Im Zentrum stehen Alltagserzählungen, wobei sich die Forscher*innen nicht in eine typische Interviewer*innenrolle begeben, sondern aktiv in ihrer Rolle im Feld teilnehmen, ohne sich, wie in einem formellen Gespräch üblich, zurückzuhalten. Solche Gespräche beziehen sich etwa auf Reflexionen über bestimmte Themen oder spannende Geschichten aus dem Milieu, über die man gerne redet. In vielen Fällen kommen die Menschen auch auf die Forscher*innen zu, weil sie bei diesen vielleicht Gehör finden (etwa alte und isolierte Menschen in einem Pflegeheim) oder einfach Klatsch loswerden möchten. In einem solchen Setting ist es meist möglich und sinnvoll, kritische Fragen zu stellen, eigene Vorstellungen einzubringen und die Reaktion darauf zu erkunden oder sich über die jeweiligen Einschätzungen auszutauschen. Das reduziert zwar die Gesprächsasymmetrie, ohne jedoch Gleichheit herzustellen. Darüber hinaus ist gerade in solchen Fällen nicht zu unterschätzen, dass Forscher*innen im Zuge einer solchen intensiven Teilnahme in die Beziehungsstruktur eingebunden werden und sich mitunter vor Loyalitätsanforderungen mit entsprechenden Konfliktpotenzialen gestellt sehen, was den Handlungsspielraum der Forscher*innen merklich einengen kann. Auch ist es mitunter schwierig, diese Gespräche aufzuzeichnen, weshalb sich eine rasche Protokollierung und Interpretation empfiehlt (auch Forschungstagebücher sind hilfreich).

Der Ablauf eher formeller Gespräche orientiert sich an der Explikation der Zielsetzung, die mit entsprechenden ethnografischen Erklärungen verbunden ist, sowie der Umsetzung ethnografischer Fragen (vgl. Spradley 2016: 58ff.). Aber auch hier gilt, dass die interviewende Person nicht nur Fragen stellen, sondern besonders gut zuhören soll, also eine eher passive Rolle einnimmt, jedoch verbal und nonverbal Interesse signalisiert. Eine gute Informantin oder ein guter Informant sollte mit der jeweiligen Kultur vertraut und in die laufenden Prozesse involviert sein, aber nicht zu sehr in wissenschaftlichen Kategorien denken (und sich damit vom Feld distanzieren), wobei der Untersuchungsbereich den Interviewenden auch ein Stück weit fremd sein sollte (um das Unbekannte stärker zu spüren). Darüber hinaus sollte ausreichend Zeit für ausführlichere Gespräche (auch zu unterschiedlichen Gelegenheiten) verfügbar sein (vgl. Spradley 2016: 45ff.).

Das Hauptgespräch wird mittels ethnografischer Fragen ein Stück weit strukturiert. Dazu zählen insbesondere drei spezifische Fragetypen, die jeweils verschiedene, für die ethnografische Forschung relevante Teilbereiche erkunden (vgl. Spradley 2016: 83ff.): (1) Deskriptive Fragen sollen die angesprochenen Bereiche, Situationen oder Handlungsweisen möglichst detailliert beschreiben und reichen von allgemeinen Fragen bis hin zu eher eingegrenzten Themenfeldern, Beispielen, Erfahrungen oder zu bestimmten Begrifflichkeiten. Sie dienen insbesondere der Klärung von Begriffs- und Wahrnehmungsschemata, die eine Voraussetzung sind, um die lebensweltlichen Konstruktionen der Befragten zu verstehen. (2) Strukturelle Fragen wiederum dienen der vertiefenden Analyse von Taxonomien, [55]um Begriffe und die eingeschlossenen Unterbegriffe zu bestimmen. Strukturelle Fragen ergänzen die Deskriptionen, indem man die Begriffssphären in ihrer inneren Struktur erkundet. Dabei rückt die spezifische Organisierung des Wissens in einem bestimmten Kulturbereich in das Zentrum der Betrachtung. (3) Kontrastfragen heben die Unterschiede hervor und ermöglichen es, kulturelle Leitmotive herauszuarbeiten und gegenüber anderen Konzeptionen abzugrenzen. Interviewer*innen sollten also möglichst viel über jenes Wissen herausfinden, das Menschen in ihrem Bereich verwenden, um deren Erfahrungen einzuordnen und deren soziales Handeln auszurichten. Dabei geht es nicht nur um gemeinsam geteiltes Wissen, sondern ebenso um unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen. Solche Forschungen integrieren häufig Beobachtungen (vgl. dazu etwa Spradley 2009; Lueger 2010: 40ff.) und die Untersuchung der gegenständlichen Welt (zu Artefaktanalysen vgl. Lueger/Froschauer 2018a).

b)Problem- oder themenzentrierte Interviews

Diese Gesprächsstrategien sind deutlich anders als narrative Gesprächsformen konzipiert, indem sie Themen oder Problemstellungen nicht von den interviewten Personen im Laufe des Gesprächs entwickeln lassen, sondern diese zumindest in den Grundzügen vorgeben. Die Befragten haben dabei im Zuge der Exploration dieser Themen einen mehr oder weniger großen Spielraum für ihre Erzählungen.

Merton und Kendall (1979) haben sich schon vor etwa 80 Jahren im Rahmen der Massenkommunikations- und Propagandaforschung mit einer solchen thematischen Fokussierung von Forschungsgesprächen auseinandergesetzt. Mit dem von ihnen konzipierten fokussierten Interview sollen die Reaktionen von Personen auf bestimmte Situationen erfasst werden. Einem solchen Interview wird ein anregender Stimulus vorangestellt (z. B. Filmszene, Buch), wobei die interviewende Person in Kenntnis dieser Situation einen Leitfaden einsetzt, den sie vorweg ausgearbeitet hat, um Annahmen zu prüfen oder nicht antizipierte Reaktionen auf diese Situation zu ermitteln. Grundsätze der Gesprächsführung sind Nichtbeeinflussung (wenig Steuerung durch die interviewende Person), Spezifität (genaue Erfassung der Eindrücke der Befragten), breites Spektrum (große Reichweite der angesprochenen Themen) sowie Tiefgründigkeit (auch affektive und wertbezogene Reaktionen), die bereits eine Orientierung vorgeben und sich auch in späteren Varianten dieser Interviewform wiederfinden.

Während fokussierte Interviews in der Forschungspraxis kaum mehr auftauchen, hat das von Witzel (1985) entwickelte problemzentrierte Interview großen Anklang gefunden. Er hat diese Interviewform im Rahmen eines Sozialisationsprojekts ausgearbeitet, um individuelle und kollektive Handlungsmuster sowie die Verarbeitung der Anforderungen sozialer Realität zu erkunden. Zentrale Ausgangspunkte waren damals wie heute (vgl. Witzel 2000): (a) die Problemzentrierung, wobei eine forschungsseitig als relevant erachtete gesellschaftliche Problemlage als Ausgangspunkt genommen wird. Dabei werden im Interview [56]die zuvor bereits bekannten Kenntnisse genutzt, um die Erläuterungen nachzuvollziehen, sie weiter zu explizieren und um angemessene Folgefragen stellen zu können. (b) Die Gegenstandsorientierung wiederum nimmt auf die methodischen Anforderungen des untersuchten Gegenstandes bedacht. Demnach ist die Methode nicht unabhängig vom Erkenntnisgegenstand, sondern bezieht sich in der Ausformung auf diesen. Im Zuge von Interviews erfordert das etwa vor dem Hintergrund der Reflexionsfähigkeit der befragten Person eine mehr oder weniger narrative Vorgangsweise. (c) Die Prozessorientierung bezieht sich auf den Forschungsablauf, der schrittweise die Daten und Erkenntnisse generiert, wobei sich die Bedeutung der verschiedenen Aspekte erst langsam und in reflexivem Bezug auf die Methoden herausschält.

In der Umsetzung des problemzentrierten Interviews kommen verschiedene Hilfsmittel zum Einsatz (vgl. Witzel 2000): (a) ein Kurzfragebogen zur Ermittlung von Sozialdaten (wie Alter, Beruf, Beruf der Eltern); (b) Tonträgeraufzeichnung, um das Gespräch authentisch zu erfassen, wobei das Gespräch für die Interpretation transkribiert wird; (c) ein Leitfaden als Gedächtnisstütze für die Forschungsthemen und zur Sicherung der Vergleichbarkeit über mehrere Interviews hinweg; (d) ein Postskriptum, das unmittelbar nach dem Gespräch erstellt wird und sich beispielsweise auf Gesprächsinhalte, Anmerkungen, Auffälligkeiten oder Interpretationsideen beziehen kann.

Eröffnet wird das Gespräch mit einer vorformulierten Einleitungsfrage, welche das Gespräch auf den Gegenstand lenkt und zugleich einen offenen Gesprächsrahmen anbietet. Der weitere Gesprächsverlauf orientiert sich an allgemeinen Sondierungen, wobei der rote Faden des Nachfragens am Kernthema entlang verläuft, dieses weiterspinnt und detailliert. Falls einzelne Themenbereiche, die forschungsseitig als relevant erachtet werden und die Vergleichbarkeit sichern sollen, von den interviewten Personen nicht angesprochen werden, so werden diese mittels Ad-hoc-Fragen eingeführt. Darüber hinaus helfen spezifische Sondierungen, das bereits verfügbare Wissen zu nutzen, um die Themenbereiche weiter auszubauen. Dabei kann es auch hilfreich sein, Äußerungen paraphrasierend zurückzuspielen, um die Selbstreflexion der Befragten anzuregen. Dazu zählen auch Verständnisfragen oder – sofern ein entsprechendes Vertrauen gegeben ist – Konfrontationsfragen (vgl. Witzel 2000).

Generell sind viele Gespräche themenzentriert aufgebaut. Allerdings wird nicht immer eine konkrete Problemstellung fokussiert, weil die Bestimmung eines Sachverhalts als Problem bereits eine Vordefinition des Gegenstandes impliziert. Vielmehr werden bestimmte allgemeine oder etwas enger gefasste Themen angesprochen, genauer bestimmt und dann ausführlich erkundet. Gerade in Forschungsphasen, in denen man schon viele für eine Studie relevante Aspekte geklärt hat, geht es bei solchen Themenzentrierungen um eine zunehmend engere Gesprächsrahmung, ohne dabei zu starke Vorstrukturierungen vorzunehmen. In diesen Fällen ist die spezifische Rahmung des Themas bereits in der Vorankündigung wichtig. Darüber hinaus ist es durchaus sinnvoll, einen Leitfa[57]den zu konzipieren (siehe Abschnitt 3.5), der den Themenbezug aufgreift und in mögliche Kerndimensionen und entsprechende Anschlussfragen unterteilt.

 

Bei der Nutzung von Leitfäden ist darauf zu achten, diesen als Unterstützung für ein offenes Gespräch zu betrachten, das auch auf Bereiche eingeht, die nicht im Leitfaden vermerkt sind und damit die Perspektive erweitern. Grundsätzlich sollte man jede Form von Leitfadenbürokratie (vgl. Hoffmann-Riem 1980) – also die stringente Umsetzung des Leitfadens – meiden, weil dadurch die besprochenen Themen forciert und die Strukturierungsleistungen der interviewten Person in den Hintergrund gedrängt werden. Deshalb bietet sich für die Verwendung eines Leitfadens meist eine Aufteilung in eine offene Gesprächsphase und einen Nachfrageteil an: In der ersten Phase verwendet man den Leitfaden als Checkliste und sensibilisiert sich für mögliche Folgefragen zur genaueren Klärung der bereits von der befragten Person angesprochenen Themenbereiche; in der zweiten Phase kann man die von den befragten Personen nicht angesprochenen Themenbereiche erkunden, wobei im Zuge der Interpretation darauf zu achten ist, welche Themen von der Person angesprochen wurden und welche erst von der interviewenden Person eingeführt wurden, weil dies für das Verständnis der Relevanz des Themenfeldes von Bedeutung ist.

Solche Gespräche lassen sich für unterschiedliche Zwecke einsetzen. Im Rahmen von Expert*innengesprächen, wenn es um die Vorerkundung eines Themenfeldes geht oder wenn Lücken im Vorverständnis der Analyse aufgefüllt werden sollen. In späteren Analysephasen bietet sich eine solche Vorgangsweise an, wenn im Zuge der Interpretation Erkenntnislücken identifiziert wurden, die zusätzliche Erhebungen erfordern und deshalb stärker auf die entsprechenden Themen zentriert sind. Mitunter entlastet diese Form der Gesprächsführung die Forscher*innen von der hohen Improvisationsanforderung, die offene und narrative Interviews stellen, und sie entlasten auch die befragten Personen, weil sie diesen eine klarere Orientierung bezüglich der Kernthemen des Gesprächs geben – aber um den Preis der Einschränkung der Strukturierungsleistungen der befragten Personen, was wiederum eine Herausforderung für die Interpretation darstellt.

c)Expert*innengespräche

Die Durchführung von Expert*inneninterviews ist weit verbreitet und wird meist damit begründet, einen kompetenten Einstieg in einen spezifischen Themenbereich finden zu wollen. Aus diesem Grund wird diese Gesprächsausrichtung hier zumindest kurz thematisiert. Allerdings ist es sinnvoll, den Expert*innenbegriff etwas näher zu betrachten. Pfadenhauer (2009: 99ff.) spricht Personen dann einen Expert*innenstatus zu, wenn diese über besonders exklusive, detaillierte oder umfassende Wissensbestände verfügen und ihnen zudem die Kompetenz für Problemlösungsentscheidungen zugesprochen wird. Insofern ist, wie auch Meuser und Nagel (2005: 73ff.) betonen, der Expert*in-[58]nenstatus relational bestimmt und wird je nach Forschungsinteresse den Personen zugeschrieben.

Allerdings ist es sinnvoll, zwischen verschiedenen Gruppen von Expert*innen zu unterscheiden, weil diese über höchst unterschiedliche Wissensbestände verfügen und dadurch jeweils spezifische Beiträge zur Forschungsarbeit leisten (vgl. Froschauer/Lueger 2009a: 242 ff.; vgl. die Ausführungen auf S. 31f.): (a) Feldinterne Handlungsexpert*innen verfügen über unmittelbare Erfahrungen in ihrem eigenen Handlungsbereich, weil sie aktiv in den untersuchten Lebensbereich eingebunden sind. Durch die Einlagerung ihres Wissens in Alltagspraktiken ist dieses häufig nicht explizierbar (z. B. Kinder als Expert*innen ihrer kindlichen Erfahrungswelt; Familienmitglieder in Hinblick auf das Familienleben). Deshalb ist es sinnvoll, Gespräche mit solchen Personen sehr offen anzulegen, weil sich in der Ausdrucksgestalt der Erzählungen die systemspezifischen Praktiken und Sinnstrukturen manifestieren, aus denen sich die Alltagswelt (re-)konstruieren lässt. (b) Feldinterne Reflexionsexpert*innen verfügen über ausgeprägte Schnittstellenerfahrungen, weil das Zusammenprallen unterschiedlicher Handlungsfelder sie meist notgedrungen zu aufmerksamen Beobachter*innen des jeweiligen Handlungskontextes macht und sie dadurch ein stärker relationales und reflexives Wissen ausformen (z. B. Manager*innen als Expert*innen für die Vermittlung zwischen verschiedenen Tätigkeitsgruppen in einem Unternehmen; Lehrkräfte in Hinblick auf die Verknüpfung von Schüler*innen, institutionellen Lehranforderungen und Elternerwartungen). Auch hier ist eine offene Gesprächsführung hilfreich, wobei es verstärkt darum geht, die unterschiedlichen Perspektiven dieses Reflexionswissens zu aktivieren. (c) Externe Expert*innen hingegen verfügen über ein systematisches, abstraktes, theoretisches und explizierbares Wissen aus Sekundärerfahrungen. Das kann über Ausbildung vermittelt sein (etwa im Rahmen von Professionalisierungsprozessen), aus der Fachliteratur oder aus eigenen Forschungen zum Untersuchungsgegenstand stammen, ist aber nicht notwendig durch eigene Handlungserfahrungen fundiert. Meist begründet die Expertise eine Zuständigkeit für den Wissensbereich (z. B. Wissenschaftler*innen als Expert*innen zu ihrem Spezialgebiet; Familientherapeut*innen als Expert*innen zu Störungen und Therapieformen; ausgebildete Spezialist*innen mit ihrem Fachwissen).

Während für die ersten beiden Gruppen von Expert*innen in der Regel Gesprächsstrategien zur Anwendung kommen, die für offene oder eher themenzentrierte Interviewformen gelten und kaum eine eigenständige Interviewform konstituieren (vgl. Kassner/Wassermann 2005), bezieht sich die Praxis von Expert*innengesprächen vielfach auf externe Expertisen, um sich für das Forschungsfeld zu sensibilisieren, spezifische Fragen zu klären, identifizierte Lücken im bisherigen Wissen zu reflektieren, theoretische Zugänge zu erkunden oder daraus erkenntniserweiternde Fragen zu generieren. Dabei können zwei verschiedene Strategien der Gesprächsführung unterschieden werden: (a) Im Zuge einer offenen Gesprächsstrategie lässt man sich den Gegenstand der Ex-[59]pertise aus der Sicht der Expert*innen erläutern. Das Gespräch orientiert sich dabei an den Schwerpunktsetzungen der Expert*innen und dient dazu, deren Wissensbestände, ihre eingenommenen Perspektiven, ihre spezifische Problemlösungskapazität und damit die Relevanzstrukturen des Expert*innenwissens zu erkunden. Im Mittelpunkt stehen die Rekonstruktion der Expertise sowie das Interesse, den Forschungsgegenstand aus dem spezifischen Blickwinkel der verschiedenen externen Expert*innen zu erfassen und eventuell auch mit dem Handlungswissen der Akteur*innen aus dem untersuchten Bereich zu kontrastieren: Das ermöglicht es, die spezifischen Zugänge zu einem Handlungsfeld sowie die damit verbundenen Relevanzsysteme und Handlungsorientierungen besser zu verstehen. Im Laufe des Gesprächs werden im Zuge des Nachfragens die spezifischen Sichtweisen, die damit verknüpften Begründungsstrukturen sowie die Einbettung in spezifische, die Expertise begründende Relevanzstrukturen sondiert. Hier liegt eine besondere Stärke solcher Expert*innengespräche für die interpretative Sozialforschung. (b) Stärker themenzentrierte und vorstrukturierte Gespräche dienen zum einen der Exploration eines Themenfeldes, das für die Forschung noch unzureichend abgesteckt ist; sie werden zur Ausrichtung der weiteren Forschung herangezogen. Darüber hinaus geht es häufig um die Vervollständigung des Wissensbestandes zum Untersuchungsbereich auf Grundlage der Expertisen.

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