Ehrenmord ist kein Aprilscherz

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»Am bestn frag’mas glei selbst beim Mittagsessen«, entgegnet Ferdl Csmarits. »Hab i an Hunger!«

»Ist wohl bei Ihnen ein Dauerzustand, Herr Fachinspektor?«, witzelt Zander.

»Ach was!«, antwortet dieser jovial. »Samma fesch und gemma!«

Enttäuscht wird allerdings ihre Erwartung, dass Nili und ›ihr‹ direkter Vorgesetzter Waldi Mohr, mit dem sie bereits seit einigen Monaten liiert ist, sich in der Kantine zu ihnen gesellen. Erst als sie sich nach der Mittagspause wieder im Büro versammeln, treffen sie auf ihre Teamleiterin, die bereits eifrig an ihrem PC tippt.

»Mahlzeit, Nili! Hamma was? Derf ma frag’n?«, bittet Ferdl.

»Jawohl, Ferdl, derfens!«, lächelt ihm Nili als Antwort entgegen. »Sowohl Staatsanwalt Doktor Pepperkorn als auch unser Dezernatsleiter Kriminaloberrat Heidenreich haben zugestimmt. Übrigens, unser Staatsanwalt …« Nili hält kurz inne, da gerade besagter Dr. Uwe Pepperkorn in Begleitung von Waldi Mohr den Raum betritt, und fährt dann fort: »… kommt sogar persönlich, um uns ein umfassendes Briefing über den Fall zu geben, da er damals für die Ermittlungen zuständig war. Guten Tag, Herr Doktor, immer wieder nett, Sie zu sehen!«

Die soeben Eingetretenen grüßen freundlich in die Runde.

»Meine Mitarbeiter und ich haben uns inzwischen mit der umfangreichen Fallakte vertraut gemacht«, informiert Nili den Staatsanwalt, nachdem ihre Mitarbeiter und die beiden Besucher Platz genommen haben. »Trotzdem wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns so viel wie möglich davon erzählen wollen. Vielleicht erfahren wir irgendetwas, was nicht aktenkundig ist.«

Doch trotz der ihm entgegengebrachten hohen Erwartungen kann auch Dr. Pepperkorn mit seinen Ausführungen nichts wahrhaftig Neues auftischen. All das, was er zu berichten weiß, war dem Team bereits bekannt.

»Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass wir damals die interessanten Bemerkungen, die Ihre Frau Kriminalhauptkommissarin Masal vorhin als Aufhänger für eine erneute Aufnahme der Ermittlungen anführte, nicht bedacht hatten. Ich muss mir dabei auch sehr wahrscheinlich vorhalten lassen, dass ich wohl dem zuständigen Kriminaloberrat Thumann zu wenig auf die Finger geschaut habe und ihn einfach habe machen lassen. Leider kam letztendlich zu wenig dabei heraus, um den Fall zu lösen. Hinzu kam, dass wohl auch die Strukturen unserer Kripo nicht mehr so schlagkräftig waren, wie sie hätten sein müssen. Ständig wurden wir von oben angewiesen zu sparen, dabei fiel natürlich so manche notwendig gewordene Neuanschaffung unter den Tisch. So wurde uns zum Beispiel eine Reise nach Belgien, wie sie Frau Masal zwecks genauerer Untersuchung der Fahrzeugherkunft vorhin anregte, aus Spargründen untersagt! Wir mussten uns deshalb mit den mageren Erkundungen der Kollegen von der belgischen Landpolizei begnügen. Und plötzlich erlitt KOR Thumann auch noch einen Herzinfarkt und starb kurz darauf. Einer nach dem anderen seiner Leute beendete seinen Dienst und ich wurde nach Kiel versetzt. Danach hat sich wohl niemand mehr um den Fall gekümmert. Tut mir leid!«

»Der Herr Staatsanwalt hat recht!«, übernimmt Nili. »Ich habe darauf hingewiesen, dass wir unbedingt bei dem belgischen Auto ansetzen müssen, damit wir in der Sache weiterkommen. Wer auch immer den Renault angeschafft hat, ist meiner Ansicht nach der verantwortliche Täter. So stammt vielleicht auch der nicht identifizierte Revolver aus Belgien. Das könnte naheliegen, oder? Wenn es denn doch ein Auftragsmord gewesen sein könnte – in einem Ortsteil von Brüssel namens Molenbeek findet man bekanntlich eine starke Ansammlung sehr traditionsbewusster Muslime, davon ist ein großer Prozentsatz Marokkaner –, kam der mutmaßliche Berufskiller vielleicht ebenfalls von dort? Einige weitere, für mich bedeutende Hinweise aus der Fallakte hat man wohl nicht gebührend beachtet und andere überhaupt nicht erwogen. Aber ich werde diesmal gemein sein und euch diese nicht verraten! Ich bin gespannt, wer von euch zuerst darauf kommt!«

Nachdem der Staatsanwalt sich verabschiedet hat und in Begleitung von Waldi Mohr hinausgegangen ist, herrscht zunächst nachdenkliches Schweigen. Ferdl ist der Erste, der einen Ton von sich gibt: »Und was ham’s jetzt vor, Frau Chefin?«

»Ich denke, diesmal wird mich Margrit begleiten, und zwar nach Bütgenbach, dort sollten wir ansetzen. Zunächst werde ich aber meine Freunde in Antwerpen anmorsen, mit Sicherheit können sie uns schneller dabei helfen, die zuständigen Kollegen der dortigen kommunalen Polizei ausfindig zu machen, als wenn wir die langwierige Ochsentour über Europol gehen. Es ist immer besser, wenn man sich jede mögliche Unterstützung herbeiholt.«

»Und woher kennens diese Leit?«, fragt Ferdl neugierig.

»Das ist eine längere Geschichte. Bei einer meiner ersten LKA-Unternehmungen begleitete ich eine junge Anwältin – übrigens die Tochter unseres Herrn Oberstaatsanwalt Harmsen – auf einer längeren Erkundungsreise auf den Spuren des Kokains, die uns auch nach Antwerpen führte.2 Dort habe ich nette Freunde unter den Kollegen gewonnen, die uns sicherlich bereitwillig erneut gute Dienste erweisen werden.«

Robert Zander meldet sich zu Wort: »Ich glaube, ich habe den ersten der von Ihnen erwähnten Links aufgeschnappt, Nili. Kann es sein, dass Sie die bei dem männlichen Toten festgestellte Sedierung meinten, die mit so einem …«, er scrollt auf seinem Monitor, um die Stelle zu finden. »Hier hab ich es, also das Schlafmittel Benzodiazepin mit den Wirkstoffen Temazepam und Triazolam, mit dem er wohl ausgeknockt worden ist? Ich meine, die Akte gibt uns keinerlei Hinweis, ob man die Herkunft des Medikaments überhaupt verfolgt hat.«

»Hab mi eh scho schlau g’macht, was des wohl für a Zeigs is!«, kolportiert Ferdl. »Hier steht’s! I les vor:

Benzodiazepine können als dämpfende Rauschmittel missbraucht werden und abhängig machen. Der Missbrauch ist gefährlich, insbesondere in Kombination mit anderen dämpfenden und atemdepressiven Arzneimitteln sowie mit Alkohol. Vielen Prominenten wird ein Benzodiazepin-(Über)gebrauch nachgesagt. So starb beispielsweise der Schauspieler Heath Ledger gemäß Autopsiebericht an einem Medikamentencocktail, der unter anderem die drei Benzodiazepine Diazepam, Temazepam und Alprazolam enthielt. Benzodiazepine werden auch als sogenannte ›Date Rape Drugs‹ – solche eher als K.O. bekannte Mittel – missbraucht und so weiter, und so weiter. Das Mittel ist zudem verschreibungspflichtig. Da hamma keine Hinweise g’fundn, ob des Deiwiszeig vom Toten selbst oder von saan Mörder g’stammt hab’n könnt!«

Nili schmunzelt. »Gut gebrüllt, ihr Löwen! Das ist eine der bedeutenden Spuren, die überhaupt nicht verfolgt wurden! Durch den Staatsanwalt erfuhr ich allerdings, dass weder die Ergebnisse der Spurensuche in Uwe Wilkens’ Wohnung noch die Befragung im Freundeskreis irgendeinen Hinweis auf einen solchen Drogenkonsum ergab. Dabei wurde es aber leider belassen. Nächste Frage: Woher also stammt das Schlafmittel, das dem Opfer vom Täter verabreicht worden sein muss, um es kampfunfähig zu machen?«

»Da das Mittel verschreibungspflichtig ist, müsste man doch die Ärzte der Umgebung befragen, wem sie es verschrieben, beziehungsweise die Apotheken, an wen sie ein solches ausgegeben haben. Aber nach mehr als eineinhalb Jahren?«, lamentiert Robert.

»Genau das ist eine der Aufgaben, mit denen ich Sie und Ferdl betrauen werde, während Margrit und ich uns in Belgien verlustieren.« Nili grinst. »Können Sie bei der Diakonie einen Betreuungsersatz für Ihre Mutter für etwa drei bis vier Tage anfordern, Margrit?«

Diese nickt und telefoniert sogleich mit ihrem Handy.

Offensichtlich genervt raunzt Robert: »Na schön, dann werden wir uns wohl oder übel auf die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen machen müssen! Was haben Sie sonst noch für uns auf Ihrem Zettel?«

»Ich suchte in der Akte vergeblich nach Hinweisen über den Verbleib von Uwe Wilkens’ Kfz-Werkstatt in Wewelsfleth wie auch nach seinem Pkw. Inzwischen habe ich beim Verkehrszentralregister des KBA in Flensburg nachgefragt: Es war ein VW Passat Kombi, Kennzeichen IZ-WW 205, Baujahr 1999, Farbe Grün Metallic. Er wurde vor drei Monaten zwangsabgemeldet, als die KFZ-Steuer überfällig war und auch nicht mehr entrichtet wurde, und ist nach deren Aktenlage auch nirgendwo aufgetaucht. Nach dem Fahrzeug wurde wohl niemals gefahndet. Wo ist es also geblieben? Und noch etwas: Wo wohnte Saadet Bassir bis zu ihrer Ermordung und was geschah danach mit ihrer Wohnung? Bitte kontaktiert die Eltern und auch die Glückstädter Kollegen, die müssten doch darüber nähere Auskünfte geben können. Also, macht euch bitte an die Hausaufgaben, ja? So, und jetzt rufe ich erst einmal in Antwerpen an!«

»Good afternoon, you are connected with the Federal Police in Antwerp, Belgium. Aspirant Commissaire de Police Arne Svensen speaking. May I help you?«

»Hi, Arne, rat mal, wer ich bin?«

»One moment please, I… Nili, my dear! Bist du das, really! Oh man, wonderful! How are you?«

»Ja, Arne, ich bin es, die Nili! Wie schön, dich zu hören! Bist du befördert worden? Hört sich ja prima an: Polizeikommissar-Anwärter! Herzlichen Glückwunsch!«

»Oh my God! Please wait, hier kommt gerade Klaus! Klaus, I bet you don’t guess who is on the line? Du glaubst ja nicht, wer hier spricht?«

»Guten Nachmittag, ich bin Commissaire de Police Klaus Stuckert. Mit wem spreche ich?«

»Hallo, Klaus! Hier ist Nili Masal! Wie schön, dass ich euch antreffe! Höre ebenso gern, dass auch du zum Polizeikommissar befördert worden bist, herzlichen Glückwunsch!«

»Hallo, Nili, wie schön, nach so langer Zeit wieder von dir zu hören! Wie geht es dir? Und was macht Kitt? Hat sie schon ihren Doktorhut?«

 

Und so geht es zunächst hin und her in den gemeinsamen Erinnerungen an den Besuch Nilis und ihrer Begleiterin während der vorjährigen Erkundungstour durch die bedeutendsten Umschlaghäfen der verschleierten Drogeneinfuhr in Europa. Das Telefongespräch erfährt seinen Höhepunkt, als dann auch noch der aus Costa Rica stammende Kollege ACP Javier Espinoza dazukommt, denn von da an findet die Unterhaltung in radebrechend flottem Spanisch statt, eine Sprache, die Nili ebenfalls fließend beherrscht. Schließlich gelingt es ihr, auf den Grund ihres Anrufes zu kommen. Ausführlich berichtet sie CP Stuckert von dem Glückstädter Doppelmord und dem Renault mit belgischem Kennzeichen, in dem die Leichen aufgefunden wurden. Für ihre und Margrits für morgen geplanten Reise nach Bütgenbach bittet sie Klaus um Amtshilfe und Unterstützung.

»Selbstverständlich helfen wir dir gern, werte Kollegin! Schließlich hast du noch eine Menge gut bei uns, weil du uns geholfen hast, den Containerklau im Hafen aufzuklären! Ich rufe gleich bei den Kollegen der Police Locale in Bütgenbach an, um deinen Besuch anzukündigen, und spreche auch mit unserem Chef CDP Robbe van Dongen – der ist inzwischen zum Commissaire Divisionnaire de Police befördert worden –, um ihm vorzuschlagen, dass dich einer unserer hiesigen Leute begleitet. Also, meine liebe Nili, schön, dass du dich gemeldet hast! Vielleicht kommst du mal wieder in Antwerpen vorbei?«

»Danke, lieber Klaus, ich melde mich auf jeden Fall aus Bütgenbach! Bis bald! Au revoir!«

Nili hört noch den »Pura vida«-Ruf3, den der lustige Javier ins Telefon schmettert. Sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn dieser wurde ihr damals vertraut, weil der quirlige Costa-Ricaner ihn bei jeder Gelegenheit ausrief.

»So, das wär’s! Robert, kann ich bitte den Schlüssel und die Papiere für den X3 haben?«

»Ist vollgetankt und steht auf dem Parkplatz vor dem Haus 10. Papiere sind im Handschuhfach!«

Nili fängt den ihr zugeworfenen Autoschlüssel. »Danke!«, sagt sie und wendet sich an Margrit: »Ist es okay, wenn ich Sie morgen früh um sieben zu Hause abhole? Ich möchte möglichst früh los, denn wir haben sechshundertfünfundzwanzig Kilometer zu bewältigen. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie auch gleich nach Hause. Aber vorher holen wir noch die Mordwaffe, mit der der arme Uwe Wilkens hingerichtet wurde, aus der Asservatenkammer. Vielleicht helfen uns die belgischen Kollegen, auch diese zu identifizieren. Dann tschüss, ihr beiden, seid schön fleißig! Wir melden uns!« Sie winkt Ferdl und Robert zum Abschied.

Ferdl grinst. »Und net vergess’n, Madls, an Buko mitführen!« Zu viel Spaß hat ihm dieser Begriff bereitet, als man ihm zuletzt den gleichen Rat mit auf den Weg gab.

»Aber klaro, Amigo! Wie hätten wir nur dieses unverzichtbare Le Must vergessen können!« Margrit grient. »Beischlaf-Utensilienkoffer …«, murmelt Ferdl vor sich hin, als Nili und Margrit bereits den Arbeitsraum verlassen haben. »Was für an lustiger Schmarrn!«

Während Nili im Dienst-BMW auf dem Weg zu ihrer Wohnung ist, ruft sie ihren Lebensgefährten Walter Mohr an. Ein wenig enttäuscht ist sie, als ihr nur seine Mailbox antwortet.

»Hallo, mein Liebster! Ich hatte gehofft, dich persönlich zu erreichen. Margrit und ich fahren morgen früh um sieben Uhr nach Belgien. Würde mich sehr freuen, dich heute noch zu sehen, falls du auf einen kurzen Bissen bei unserem Griechen um die Ecke vorbeikommen kannst. Ich möchte allerdings früh schlafen gehen, denn uns erwartet morgen eine fast siebenhundert Kilometer lange Autofahrt. Mach dir aber keinen Stress! Ist nicht so schlimm, wenn du es nicht schaffst, dann sehen wir uns eben am Wochenende. Ich liebe dich! Großer Kuss von deiner Nili.«

2. Amina

»Besna, wo ist Amina?«, ruft die Mutter Akila ihrer Tochter aus der Küche zu. »In eurem Zimmer ist sie jedenfalls nicht!«

»Ich weiß nicht, Umm Walid4. Sie ist noch nicht von der Schule zurückgekommen.«

»Wieso, seid ihr nicht zusammen nach Hause gegangen?«

»Nein, Umm Walid. Ich ging früher, weil wir die letzten beiden Stunden Sport hatten und ich daran ja nicht teilnehmen soll!«

»Hat sie sich vielleicht wieder mit diesem Kafir5 getroffen?«

»Das weiß ich nicht, Umm Walid. Aber ich glaube kaum, dass sie es noch einmal wagt, sich dem strikten Befehl unseres Vaters zu widersetzen. Der Krach von gestern ist ihr ganz schön an die Nieren gegangen. Sie hat die ganze Nacht im Bett geweint. Sogar ich konnte deswegen kaum schlafen. Es hat mich übrigens sehr aufgeregt, dass Vater so aufgebracht war und so furchtbar mit ihr geschimpft hat.«

»Ja, mein Kind, auch ich war tieftraurig, dass unsere liebe Amina sich von unserem Glauben derart entfernt und damit den Zorn Allahs und die Verachtung der ganzen Familie auf sich zieht. Du weißt ja, sie ist Vaters jüngerem Vetter Hamid in Marrakesch versprochen und soll ihn dort sofort heiraten, nachdem sie hier mit der Schule fertig ist. Ich verstehe sowieso nicht, wozu sie eigentlich Abitur machen will und Abu Jalil ihr das überhaupt erlaubt hat. Das ist doch für unsereins nicht nötig, denn eine Frau gehört zu ihrem Mann und ihren Kinder ins Haus und braucht hierzu weder Chemie noch Physik. Eine bessere Partie als Hamid könnte sie niemals machen, denn dieser ist, ebenso wie sein älterer Bruder Hassan in Brüssel, ein schwerreicher Kaufmann. Sie besitzen mehrere Schmuckgeschäfte sowohl in der Medina von Marrakesch als auch in Belgien und Holland. Stattdessen treibt sie sich mit diesem Ungläubigen herum! Was für eine Schande für unsere Familie!«

»Aber Mutter, es ist ja nicht so, wie du sagst!«, protestiert Besna. »Amina treibt sich doch nicht herum! Ja, es ist wahr, dass Amina und Jörg sich angefreundet haben, schließlich gehen sie in dieselbe Klasse. Ich habe ihn auch kenngelernt. Er ist ein sehr netter Junge, respektiert Amina und tritt ihr niemals zu nahe. Er hilft ihr vor allem in Mathe. Soweit ich weiß, ist Hamid ein bereits fast fünfzig Jahre alter Witwer, der schon vier Söhne hat. Unsere Amina ist doch gerade erst siebzehn geworden und damit so alt wie Hamids jüngster Sohn! Was soll sie mit einem so alten Mann? Warum versteht ihr nicht, dass es hier in Deutschland nicht so ist wie bei uns und es auch nicht sein kann, denn hier leben und denken die Leute ganz anders als in Marokko. Glaubst du wirklich, dass – obwohl alle deine Kinder in diesem Land geboren wurden – man hier auch weiterhin so tun kann und muss, wie es dort für alle Menschen üblich ist? Kommt es denn wirklich einer Todsünde gleich, wenn man auch ein bisschen mit unseren neuen westlich gesinnten Nachbarn kommuniziert und mit ihnen Freundschaften schließt? Glaub mir, Mutter, in vielen Aspekten beneide ich die christlichen Deutschen, weil sie viel ungezwungener leben dürfen als unsereins. Ich fühle mich eingeengt von unseren strengen Vorschriften. Wir werden doch schon wegen des leidigen Kopftuchs auf der Straße blöd angegafft und von so manchem als Schleiereulen bezeichnet. Als wir vor zwei Jahren in Marrakesch zu Besuch waren, habe ich auf den Straßen viele Frauen und Mädchen ohne Kopftuch und in westlichen Kleidern gesehen. Wie gern würde ich am Schwimm- und Sportunterricht teilnehmen! Wäre ich deswegen gleich eine schlechte Muslima?«

»Versündige dich nicht mit diesen abwegigen Gedanken gegen Allahs Gesetze und deines Vaters Willen, Kind! Es steht uns, liebe Besna, nicht zu, dies zu beurteilen. Das müssen wir schon unserem Imam in der Moschee und deinem Vater überlassen. Wenn diese bestimmen, dass es ist, wie es ist, und weiterhin so sein soll, haben wir nicht das Recht, uns dem zu widersetzen. Der Koran lehrt uns, wie wir uns zu verhalten haben, alles andere ist Sünde. Damit musst auch du dich abfinden. Und jetzt hilf mir bitte, das Abendessen vorzubereiten.«

»Was soll ich tun, Mutter?« Besna ist keineswegs überzeugt, gibt jedoch um des lieben Hausfriedens willen der steten Demut und Unterwürfigkeit ihrer Mutter klein bei.

»Du kannst diese marinierten Zitronenschalen für die Garnitur in gezackte Streifen schneiden.« Akila hebt den farbenfroh dekorierten Deckel des traditionellen marokkanischen Tajine-Kochgefäßes ab, um nach dem darin garenden Gericht zu sehen.

»Es ist bald fertig. Ich muss jetzt nur noch die gekochte Leber in Würfeln schneiden und damit die Sauce zubereiten. Wenn du mit den Zitronenschalen fertig bist, kannst du schon mal den Tisch decken. Leg auch sechs Fladenbrote zum Aufwärmen in den Backofen. Abu El-Karim und deine Brüder werden bald vom Abendgebet zurück sein. Hoffentlich ist Amina inzwischen auch wieder da!«

»Was gibt es denn heute Gutes zu essen?«, fragt Besna, die neugierig geworden ist.

»Vorweg eine Harira und anschließend diese Hühner-Tajine6

»Da wird sich Amina aber freuen, die mag sie besonders!«

*

»Jörg, sag mir, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr, ich halte es zu Hause nicht länger aus! Ich liebe und achte meinen Vater und meine Mutter sehr, aber ich kann beim bestem Willen nicht an all das glauben, was sie und meine Brüder tagein, tagaus bei jeder Gelegenheit mit dem Namen und Willen Allahs predigen und mir ewig vorhalten! Ständig werfen sie mir ›Harâm, harâm!‹7 vor, egal was ich tue oder meine. Es reicht sogar, wenn ich nur anderer Meinung bin. Nur meine kleinere Schwester Besna hält zu mir und versteht mich. Aber wir beide kommen einfach nicht gegen die anderen an! Und dann auch noch gestern dieser Riesenkrach, weil mein Vater mir strengstens verboten hat, mich mit dir weiter zu treffen! Er hat fürchterlich geschimpft, ich sei eine Abtrünnige, weil ich mich mit einem Ungläubigen versündige. Allah, so sagte er, würde mich dafür bestrafen. Und das alles nur, weil du mir mit der blöden Mathe hilfst, die einfach nicht in meinen Kopf hineinwill! Was das wohl für eine Sünde gegen den Koran sein soll! Ich sei doch seinem Vetter Hamid in Marokko versprochen, hat er mir gesagt, und müsse ihn heiraten. Was soll ich mit diesem alten Mann überhaupt? Ich hab ihn nur auf einem Foto gesehen, persönlich kenne ich ihn gar nicht! Er sieht hässlich und ekelhaft aus! Und nach Marokko will ich schon gar nicht! Was soll ich da? Ich bin hier geboren und fühle mich als Deutsche! Ich spreche nicht einmal gut Arabisch. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen!« Die hübsche junge Frau ist total aufgelöst und ihr Gesicht tränenüberströmt. Vor Wut hat sie ihren Hijab8 heruntergerissen. Ihre dicke Mähne aus wunderschönen schwarzen Haaren weht mit jeder ihrer verzweifelten Kopfbewegungen hin und her.

Total hilflos und erschüttert von diesem heftigen Gefühlsausbruch weiß der junge Mann nicht, was er tun kann, um der Schulfreundin zu helfen. Einerseits wirkt sie stets durchaus apart und attraktiv auf ihn, andererseits ist sie ihm doch irgendwie fremd. Jetzt sieht er sie zum ersten Mal ohne dieses Kopftuch, das sie in der Schule stets um ihre Haare gewickelt trägt.

Jörg Ewers ist mit achtzehn Jahren kaum ein Jahr älter als Amina und ein sportlicher und gut aussehender, blonder junger Mann. Seit er sie gegen zwei seiner Schulkameraden, die ihr das Kopftuch gewaltsam entreißen wollten, tatkräftig verteidigt hat und diese endlich davon abbringen konnte, sind sie sich freundschaftlich nähergekommen.

Mit den anderen Mädchen ihrer Klasse hat Amina dagegen kaum engeren Kontakt, nicht nur, weil sie ihnen absonderlich erscheint, sondern wohl eher wegen des elterlichen Verbots, am Sportunterricht und an anderen Schulveranstaltungen wie beispielsweise an Klassenfahrten teilzunehmen. An Amina selbst liegt es nicht. Des Öfteren versucht sie, sich der einen oder anderen Klassenkameradin anzunähern. Das Gelingen scheitert jedoch spätestens an den strikten Halal-Speisevorschriften des Islam, wenn sie zum Beispiel in das Haus der einen oder anderen zu einem Grillfest eingeladen wird. Auch hier muss sie absagen, haben ihr doch die Eltern eine Teilnahme strikt untersagt. Zu Gegenbesuchen kommt es ebenfalls nicht, da Nicht-Muslime in ihrem Elternhaus nicht gerade willkommen sind.

Ganz anders verhalten sich allerdings der Vater und die Brüder Walid und Osman im Verkehr mit der Außenwelt. Dort geben sie sich weltlich, zeigen sich offen und höflich und behandeln ihr Gegenüber auf Augenhöhe, da möchten sie unbedingt Gleiche unter Gleichen sein. Beim zwanzigjährigen Walid reichte der Lerneifer nicht bis zum Abitur, er brach deswegen das Gymnasium ab und hilft seitdem dem Vater im Geschäft. Der jüngere Osman ist fünfzehn und hat gerade seine Lehre als Kfz-Mechatroniker bei einer KIA-Vertragswerkstatt begonnen, die einem entfernten Verwandten gehört. Hadshi Jalil El-Karim ist erfolgreicher Gemüsehändler im Stadtzentrum und ein von seiner Kundschaft hoch angesehener Kaufmann. Bereits mehrmals hat er den anfänglich kleinen Laden, mit dem sein Vater vor mehr als zwanzig Jahren anfing, vergrößert und zu dem gemacht, was er heute ist: ein kleiner Supermarkt, in dem man so ziemlich alles erstehen kann, was Muslime, aber auch alle anderen, die die orientalische und arabische Küche lieben, für die Zubereitung dieser Speisen benötigen. Frische Gemüse- und Obstsorten aus Ägypten, Tunesien, Marokko und der Türkei alternieren mit Regalen voller Halal-Konserven; Kühlvitrinen beherbergen allerlei – selbstverständlich halal-konforme – Frischfleischarten sowie typische Oliven- und Käsesorten; dazu in mannigfaltiger Auswahl getrocknete Früchte, Samenkörner und traditionelle Gewürze. Betritt man den Laden, betören einen die Düfte und Aromen des Orients. Schließt man die Augen, hat man sofort das Gefühl, im Grand Basar eines der arabischen oder türkischen Metropolen zu sein. Penibel hält sich der Kaufmann an die gesetzlichen Bestimmungen des Landes und achtet vor allem auf die vorgeschriebenen öffentlichen Abgaben. Pünktlich zahlt er seine Steuern, und nichts darf dabei unter dem Ladentisch verschwinden. Jalil El-Karim spricht fließend Deutsch, ist stadtbekannt und wird deswegen oft von lokalen Politikern und Medien als ›Musterbeispiel erfolgreicher Integration‹ dargestellt, ahnt man doch nicht, wie rückständig und islamisch-konservativ es im eigenen Haushalt zugeht. Höflich hat er bereits mehrfach die Einladung einer örtlichen Partei abgelehnt, für ein Amt im Stadtrat zu kandidieren. Er sehe sich als Geschäftsmann vor allem seiner werten Kundschaft verpflichtet und möchte bei niemandem anecken, was wohl im Amt als Stadtabgeordneter gelegentlich unvermeidbar wäre.

 

»Was kann ich tun, um dir zu helfen, Amina? Du kannst doch nicht einfach von zu Hause weglaufen! Wo willst du denn hin? Zudem bist du noch nicht achtzehn, also laut unserem Gesetz auch nicht volljährig. Das bedeutet doch, dass deine Eltern immer noch das Bestimmungsrecht über dich haben. Ich möchte dir so gern unter die Arme greifen, aber ich kann leider nicht! Sieh doch, ich wohne noch bei meinen Eltern in dieser Vierzimmerwohnung. Wie und wo solltest du da unterkommen? Abgesehen davon, meine Eltern sind zwar sehr verständnisvoll und liberal, würden aber nie zulassen, dass du bei uns bleibst. Wir wären schließlich nicht sicher vor dem Zorn deiner Familie, sollten sie denn von diesem Bleibeort erfahren, oder?«

»Aber das hab ich auch gar nicht von dir erwartet, Jörg! Ich meinte vielmehr, ob du eine Idee hast, wo ich mich fürs Erste verstecken könnte, damit ich vor Verfolgung geschützt bin. Ich möchte ganz bestimmt nicht wieder nach Hause, wo mein Vater und mein älterer Bruder mich tyrannisieren und meine Oma und meine Mutter nur wohlgefällig und untertänig zuschauen! Ich hab solche Angst vor ihrer wütigen Vergeltung, aber ich kann nicht anders! Wüsstest du nicht einen Ausweg oder irgendjemanden, an ich mich schutzsuchend wenden könnte?«

»Warte mal, Amina, da fällt mir etwas ein!« Jörg öffnet sein Tablet und geht ins Internet.

»Ich hab’s!«, vermeldet er kurz darauf.

»Was denn?«

»Das Frauenhaus in Itzehoe! Das ist eine gemeinnützige Organisation für Frauen, die bedroht werden und sich in Not befinden. Notiere dir die Telefonnummer. Hier findest du sie auf der Homepage, wenn du diesen Notbutton anklickst. Da steht auch, du brauchst dich nur dort zu melden, denen sagen, wo du bist, dann holen sie dich ab! Die Adresse des Frauenhauses ist geheim, also wird man dich dort nicht so schnell finden!«

»Oh Jörg, ich danke dir, du hast mir wirklich geholfen! Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen!«

»Ich wünsch dir viel Glück, Amina, alles Gute! Wir werden uns dann wohl für längere Zeit nicht mehr sehen!«, sagt er mit Bedauern in der Stimme, während er sie bis zur Wohnungstür begleitet. Schließlich setzt er hinzu: »Sei vorsichtig, wenn du dort anrufst. Am besten benutzt du ein öffentliches Telefon, damit niemand das Gespräch bis zu dir zurückverfolgen kann. Schalte auch dein Smartphone aus, sodass man dich nicht orten kann, und kauf dir eine dieser anonymen Prepaid-Karten. Sei versichert, von mir erfährt niemand etwas!«

Amina hat Tränen in den Augen, als sie sich Jörg zuwendet und ihm als Dankeschön einen Kuss auf die Lippen drückt. Dann dreht sie sich rasch um und entschwindet die Treppe abwärts.

Als Jörg die Tür geschlossen hat und in das Wohnzimmer zurückkehrt, sieht er Aminas schwarzen Hijab, den sie auf dem Sofa liegen gelassen hat. Rasch nimmt er das Tuch und eilt damit auf den Balkon. Gerade sieht er Amina noch unten an der Straßenecke. Er ruft ihr laut hinterher und wedelt aufgeregt mit dem Tuch. Amina blickt hoch, sieht ihn und schüttelt – ein Lächeln auf den Lippen – verneinend den Kopf. Dann winkt sie ihm kurz zu und huscht geschwind um die Ecke.

Bewegt führt Jörg das Tuch an sein Gesicht, atmet begierig Aminas Duft ein und wischt sich die Träne ab, die ihm über die Wange kullert.

*

Rasend vor Wut verflucht Vater Jalil El-Karim die Tochter. Fürchterliche Beschimpfungen und Verwünschungen auf Arabisch ertönen im sonst friedlichen Haus am Eschenweg. Es ist bereits nach zehn Uhr und die renitente junge Frau ist weder zum Abendessen erschienen noch bisher nach Hause gekommen. Die Großmutter und Mutter Akila sitzen im Wohnzimmer auf runden marokkanischen Bodenkissen aus bunt verziertem Ziegenleder und weinen. Walid und Osman sind in der Stadt unterwegs, um Amina zu suchen, während Besna bereits mehrfach auf die Mailbox von Aminas Handy gesprochen und sie angefleht hat, zurückzukommen. Auch alle Bekannten und Freunde wurden bereits angerufen und nach Aminas Verbleib befragt, doch niemand konnte Auskunft geben. Dann kommt Osman ganz aufgelöst nach Hause und berichtet, die Polizei habe soeben Walid verhaftet, weil dieser in der Wohnung der Familie Ewers deren Sohn Jörg tätlich angegriffen habe, um von ihm gewaltsam zu erfahren, wo dieser seine Schwester versteckt halte. Jörg habe gesagt, er wisse von nichts, und sich tatkräftig verteidigt, indem er Walid geschickt mit einem Karateschlag abgewehrt und schließlich die Wohnungstür vor dessen Nase geschlossen habe. Darauf hätte Walid furchtbar randaliert und versucht, die Tür mit rabiaten Tritten aufzubrechen. Der Nachbar von gegenüber alarmierte die Polizei, die Walid überwältigte und in Handschellen abführte.

Wortlos lauscht der Familienvater den Ausführungen seines Sohnes. »Wo ist der Kombi?«, fragt er nach einer längeren Pause, in der er sich sichtlich bemüht, die Fassung wiederzugewinnen.

»Vor dem Wohnhaus der Familie Ewers«, antwortet Osman kleinlaut.

Jalil El-Karim steht auf und zieht sich Schuhe an. Dann holt er seinen Führerschein und den Zweitschlüssel des Mercedes. »Komm, wir gehen!«, sagt er zu Osman. Zeig mir, wo das ist!«

*

Vater und Sohn El-Karim klingeln wenig später an der arg lädierten Wohnungstür der Familie Ewers.

»Guten Abend, ich bin der Vater von Walid, der heute bei Ihnen bedauerlicherweise großen Aufruhr verursacht hat. Ich möchte mich im Namen meiner ganzen Familie für sein unmögliches Verhalten entschuldigen. Selbstverständlich komme ich für den verursachten Schaden auf und bitte Sie inständig, meinem Sohn zu verzeihen. Meine Tochter Amina ist verschwunden, und da wir wissen, dass Ihr Sohn in dieselbe Klasse geht und ihr ziemlich nahesteht, hat Walid etwas über ihren Verbleib erfahren wollen. Er fühlt sich als ihr älterer Bruder für sie besonders verantwortlich und ist wohl deswegen unnötigerweise ausgerastet, was ich zutiefst bedaure. Darf ich dennoch Ihren Sohn fragen, ob er uns darüber etwas sagen kann?«