Die Gentlemen-Gangster

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Soko-Leiter Hartmut Zeller hatte sich vorgenommen, die meisten der involvierten Personen noch einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen, darunter auch die Chefsekretärin Karin Rüger, die ihr souveränes Auftreten auch im Büro der Kripo nicht verlor. Sie nickte, als Zeller rekapitulierte, wonach sie wohl über das höfliche Auftreten der Gangster verwundert gewesen sei. »Genauso war es«, bestätigte sie und betonte: »Die Herrschaften waren ungewöhnlich freundlich. Gangster stellt man sich ganz anders vor – wie aus den Kriminalfilmen im Fernsehen halt.«

»Aber die beiden waren bewaffnet«, gab Zeller zu bedenken.

»Ja, diese Maschinenpistole … aber die hat der eine gleich weggelegt, als ich gesagt habe, er soll nicht dauernd damit herumfuchteln.«

»Der andere hatte auch eine Waffe.«

»Ja, so eine kleine schwarze. Hab ich aber nicht genau gesehen.«

Zeller entschied, eine direkte Frage loszuwerden: »Hatten Sie während des Überfalls den Eindruck, dass es zwischen den Tätern und Herrn Seifritz einen persönlichen Bezug gab?«

»Persönlichen Bezug? Wollen Sie damit sagen, Herr Seifritz könnte die Täter gekannt haben?«

Zeller schwieg und sah der Frau in die Augen, was sie verunsicherte. »Ich hatte nur den Eindruck«, sagte sie schließlich, »dass sich die Täter mit Bankgeschäften ausgekannt haben.«

»Und mit dem persönlichen Umfeld des Herrn Seifritz«, stellte Zeller fest.

»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, gab sich die Frau beharrlich.

»Wenn Sie sich zurückerinnern – hat sich in den Monaten vor der Tat jemand bei Ihnen auffällig über Seifritz’ familiäre Verhältnisse erkundigt?«

Karin Rügers Gesicht wurde ernst. »Bei mir? Wie soll ich dies jetzt verstehen?«

»Es könnte doch sein. Nur so beiläufig im Gespräch. Im Freundes- und Bekanntenkreis vielleicht.«

»Ich bitte Sie, Herr Kommissar, wollen Sie mir jetzt unterstellen, mit den Tätern gemeinsame Sache gemacht zu haben? Und das jetzt, ein Dreivierteljahr nach der Tat?«

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Es war der Tag nach Aschermittwoch. Vom grauen Stuttgarter Himmel rieselte feiner Schnee, als Zeller seinem Vertreter, dem engagierten Kollegen namens August Häberle, gegenübersaß und, wie so oft schon, die immer dicker werdenden Aktenberge zum Göppinger Raubüberfall sichtete.

»So viel scheint festzustehen«, fasste Häberle zusammen, »die Täter sind Deutsche. Alle Zeugen berichten übereinstimmend, dass sie Deutsch mit badischem oder schwäbischem Akzent gesprochen haben.«

»Sie scheinen einen Bezug ins Remstal zu haben«, resümierte Zeller. »Das ergibt sich unter anderem aus dem Abstellort des Fluchtfahrzeugs im Gmünder Parkhaus.«

»Und der Tatsache, dass sich im Remstal die Hütte befindet, in der das Mädchen gefangen gehalten wurde«, bekräftigte Häberle, der es dank seiner Kombinationsgabe schon als junger Beamter zu den Sonderermittlern geschafft hatte.

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass es einen Bezug zu Seifritz geben muss«, sagte Zeller, der diese Äußerung niemals öffentlich gemacht hätte.

»Da wäre ich vorsichtig«, meinte Häberle. »Die Vorgehensweise lässt natürlich vermuten, dass sich die Täter in bankinternen Dingen auskennen. Aber mal unterstellt, Seifritz hätte das alles selbst arrangiert, dann wäre das doch ziemlich aufwendig und gefährlich gewesen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass in der Bank etwas schiefläuft, war doch groß. Dann hätten die Komplizen ziemlich schnell ihren Auftraggeber verpfiffen.«

»Ja, schon. Aber warum öffnet der Seifritz abends arglos die Wohnungstür? Die Täter vermuten zwar, dass die Ehefrau anwesend ist, werden dann aber mit der Marion konfrontiert – und sie fragen nicht nach der anderen Tochter oder einem Sohn. Wie reimt sich das zusammen?«

»Zufall«, entgegnete Häberle entwaffnend. »Ich würde den armen Mann in Ruhe lassen. Die Kollegen sagen, er sei noch immer ziemlich mitgenommen.«

»Ist er, ja. Insbesondere macht er sich Vorwürfe, seine Tochter nicht genügend vor den Tätern geschützt zu haben. Die ist übrigens in psychologischer Behandlung.«

»Ich schlag dir vor, Hartmut: Lassen wir die beiden erst mal außen vor. Stattdessen sollten wir uns um einige Bankkunden kümmern, die möglicherweise ihre hohen Kredite nicht zurückzahlen konnten und Grund hätten, sich auf illegale Weise Geld zu besorgen.«

»Du meinst im Ernst, es könnten Kunden der Sparkasse gewesen sein?« Zeller blätterte in seinen Unterlagen. »Suspekt erscheint mir da eher dieser eine Geldbote. Nolte heißt er. Wolfgang. War mal bei der Bereitschaftspolizei, hat dort die Ausbildung gemacht, wurde aber nicht ins Beamtenverhältnis übernommen.«

Häberle nickte: »Hab ich gelesen. Ja. Ex-Polizist und Polizeiuniform. Das macht einen tatsächlich hellhörig.«

»Er könnte nicht nur die Utensilien beigesteuert haben, sondern auch die Kenntnisse über die Vorgänge in der Bank«, ergänzte Zeller, gab aber zu bedenken: »Er hat sich jedoch mit einem der Gangster anlegen wollen, was aber auch ein Täuschungsmanöver sein könnte.«

33

Dieter Blaubart pflegte internationale Kontakte. Insbesondere die Offiziere der 1. Infanteriedivision Forward, die kriegsstark in Göppingen in den sogenannten Cooke Barracks stationiert war, schätzten seine Dienste, wenn es darum ging, Nobelkarossen von Übersee zu beschaffen, Gebrauchtwagen anzunehmen und gewinnbringend in die osteuropäischen Staaten zu verkaufen. Wie er es in den Zeiten des Kalten Krieges schaffte, diese Geschäfte mit der Sowjetunion und den Anrainerstaaten einzufädeln, blieb sein Geheimnis. Aber es gab genügend Kanäle und Beziehungsstrukturen, deren er sich geschickt bediente. Bisweilen halfen einige US-Dollars, um mit gewissen Zuwendungen die bürokratischen Grenzkontrollen zu umgehen.

Nicht immer hatte er es allerdings mit seriöser Kundschaft zu tun. Aber das war er längst gewohnt, weshalb er in seinem Geschäftshaus am Rande der Stadt Göppingen mehrere Alarmanlagen installiert hatte. Nur die Anschaffung von Überwachungskameras hatte er bisher aus Kostengründen gescheut, zumal deren Aufnahmequalität insbesondere bei Nacht nicht vom Feinsten war.

Angestellte hatte er keine, denn er wollte niemanden in sein Geschäftsgebaren einweihen. Auch dem Steuerberater enthielt er das Meiste davon vor, es sei denn, es trug zu einer Minimierung des offiziellen Gewinns bei.

An diesem Winterabend Ende Februar hatte er gerade die Lichter in dem kleinen Büro löschen wollen, als das Telefon läutete. Er sah auf die Uhr: 20.47 Uhr. Keine ungewöhnliche Zeit für seine Geschäfte. In den USA war es immerhin, je nach Zeitzone, erst Nachmittag. Nur bei seiner Kundschaft im Osten ging es langsam auf Mitternacht zu. Von dort kamen trotzdem häufig zu Unzeiten die Anrufe, denn oft brauchten die Kunden aus diesen Ländern viel Geduld, um überhaupt eine freie Telefonleitung nach Deutschland zu erhalten.

Blaubart nahm den Hörer ans Ohr und meldete sich mit einem knappen »Hallo«.

»Ich bin’s«, hörte er eine vertraute Frauenstimme hauchen. »Du bist noch im Geschäft?«

»Wie du merkst«, gab er selbstbewusst zurück. Vor seinem geistigen Auge formte sich das Bild von Kirsten, dieser hochgewachsenen Tänzerin im Luna, die er vor einigen Monaten dort kennengelernt hatte: schulterlange blonde Haare, eine Figur wie ein Titelblattmodel. Sie sah nicht nur im Glitzerlicht des Nachtklubs gut aus, wo sie sich dreimal die Woche aufreizend auszog, sondern auch wenn sie meist im knappen Kleidchen bei ihm auftauchte. Inzwischen wusste er, dass sie auf ihn stand – auf ihn, den erfolgreichen, attraktiven Geschäftsmann, der internationale Kontakte pflegte. Neulich hatte sie sich sogar splitternackt vor einem amerikanischen Straßenkreuzer fotografieren lassen. Sie tat alles, was Blaubart von ihr forderte. Wirklich alles. Fast schien es ihm so, als brauche sie jemanden, der ihr zeigte, wo es langging.

»Hast du heute frei?«, fragte er, weil sie nichts erwidert hatte. Sein Blick fiel auf das gerahmte Foto, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand und das diese junge Frau in aufreizender, splitternackter Pose am Kotflügel eines roten Cadillac-Oldtimers zeigte.

»Nein, ich bin erst kurz vor 23 Uhr dran«, sagte sie leise, und es hörte sich so an, als sei sie in Eile. »Ich wollte dir nur sagen, dass er da war.«

»Er?«, schluckte Blaubart und setzte sich wieder, während er sich im Spiegelbild der nachtschwarzen Scheibe betrachtete. »Bei dir?«

»Ja, und er hat gesagt, ich soll dir ausrichten, dass er endlich die Knete sehen will.«

Blaubart schloss für einen Moment die Augen. »Ich hab dem Idioten doch schon 1000-mal gesagt, dass ich keinen Pfennig rausrücke. Sag ihm das.«

»Diddi, ich glaube nicht, dass er sich so leicht abwimmeln lässt. Das hat sich nicht so angehört.«

»So?« Blaubarts Hand verkrampfte sich am Hörer. »Wieso? Was hat er gesagt?«

»Dass er mit dir reden möchte und du dich auf etwas gefasst machen könntest.«

»Da soll er nur mal aufpassen, dass ich ihn nicht in den Knast bringe.«

Blaubart wünschte sich für einen Moment, nie etwas mit diesem dubiosen Amerikaner zu tun gehabt zu haben.

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Georg Sander hatte für den ersten Jahrestag des Bankraubs einen großen Artikel vorbereitet. Allerdings musste sich der Lokaljournalist eingestehen, dass es nichts Neues dazu zu berichten gab, außer, dass die geschrumpfte Sonderkommission noch immer im Dunkeln tappte. Entsprechend wenig erbaut war Leiter Hartmut Zeller über den bohrenden Anruf der Göppinger Tageszeitung.

Doch noch vor dem Erscheinungstag der Reportage erschütterte ein neuerliches Verbrechen die Stadt: In der Wohnung des Hausmeisters eines öffentlichen Gebäudes waren fünf Leichen entdeckt worden. Sander war wie vom Blitz getroffen, als er die kurze Polizeimeldung las. Fünf Tote. Aber wohl kein Verbrechen, das größere Ermittlungen auslösen würde: Der 46-jährige Familienvater hatte seine vier Kinder (13, 16, 17 und 24 Jahre alt) erschossen und seine Ehefrau schwer verletzt, ehe er sich selbst tötete. Ein ungeheuerliches Familiendrama.

 

Sander brauchte ein paar Sekunden, um den Inhalt der dürren Pressemitteilung zu verdauen. Wenig später erfuhr er jedoch etwas, das ihm den Blutdruck in die Höhe jagte, weil es ihn fatal an den Bankraub von vor einem Jahr erinnerte. Denn der Hausmeister war ein sogenannter Polizeifreiwilliger. Einer, der in seiner Freizeit die aktiven Polizeibeamten unterstützte. In Uniform – und mit Waffe.

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»Ich fasse es nicht«, kommentierte Soko-Leiter Hartmut Zeller, als ihn in seinem Stuttgarter Büro die Nachricht von dem Familiendrama erreichte. Er rief das halbe Dutzend Beamte seines Teams zusammen. Besonders interessiert zeigte sich sein Stellvertreter August Häberle, der hellhörig wurde, wenn Meldungen dieser Art aus seiner Heimatstadt kamen. »Ein Polizeifreiwilliger«, wiederholte er erstaunt und entsetzt gleichermaßen.

»Und die Waffe, die er benutzt hat, war die, die er als Hilfspolizist tragen durfte, aber nicht hätte mit nach Hause nehmen dürfen«, ergänzte Zeller.

»Was glaubt ihr, wie jetzt in Göppingen die Gerüchte ins Kraut schießen«, brummte Häberle.

»Na klar«, meinte ein älterer Beamter, der aussprach, was die anderen dachten, »das muss natürlich etwas mit dem falschen Polizisten zu tun haben, der bei unserem Banker aufgetaucht ist.«

»Suizid, weil er mit dem schlechten Gewissen nicht mehr leben konnte«, resümierte ein anderer. »Dazu noch stilgerecht fast am Jahrestag.«

Häberle hob beschwichtigend die Hände: »Kollegen, das kann alles ein tragischer Zufall sein. Warum sollte einer seine ganze Familie auslöschen, wenn er ein paar 100.000 Mark beiseiteschaffen konnte?«

Einer aus der Runde mutmaßte: »Vielleicht hat seine Frau Wind davon bekommen und wollte ihn verpfeifen.«

Zeller ging nicht darauf ein. »Die Kollegen in Göppingen werden das abklären und uns berichten. Ich kann euch aber schon mal so viel sagen: Der Name des Mannes ist bisher in unseren Ermittlungsakten nicht aufgetaucht. Keinerlei Verbindung in Richtung Seifritz.«

»Hat er denn Schulden, dieser Mann?«, meldete sich ein anderer.

»Auch dazu werden wir bald aus Göppingen Nachricht bekommen.« Er wandte sich an Häberle: »Oder willst du selbst eingreifen?«

»Nein, nein«, wiegelte der junge Ermittler ab. »Lass das mal die Truppe in Göppingen machen. Sonst sind sie womöglich beleidigt, wenn wir schon wieder auftauchen.«

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Sander fühlte sich von allen Seiten gestresst: unzählige Anrufe von Kollegen aus der halben Republik. Die Boulevardpresse lechzte nach Fotos von dem Haus, in dem sich das Familiendrama abgespielt hatte. Einige ganz forsche Journalisten fragten, ob es denn Bilder von den erschossenen Kindern gebe. Als ob diese irgendwann schon einmal auf einem Gruppenfoto veröffentlicht worden wären. Auch Grüninger schüttelte über derlei Ansinnen den Kopf. Er hatte in der Nachkriegszeit die Zeitung in Göppingen mit aufgebaut und war nie mit der großen Welt der Boulevardpresse direkt konfrontiert worden. In dieser waren die Sitten rau und der Kampf um die beste Story täglich im Gange. Oftmals wurden vergleichsweise hohe Honorare für ein Foto gezahlt, wenn es Täter, Opfer oder sonst eine interessante Person zeigte. Allerdings scheiterten derlei Geschäfte dann meist an den begrenzten schnellen Übermittlungsmöglichkeiten. Ein Foto zu faxen, war natürlich angesichts der schlechten Qualität sinnlos. Und andere Techniken zur Bildübertragung standen der Lokalredaktion nicht zur Verfügung. Abhilfe konnte da allenfalls ein Express-Päckchen per Eisenbahn schaffen: die entwickelten Bilder in einen kleinen Karton gepackt und am Bahnhof aufgegeben. Sofern der Zielort am gleichen Tag erreicht wurde, konnte der Empfänger dort das Päckchen persönlich abholen – und das Foto war noch rechtzeitig genug in der Redaktion, um am nächsten Tag in der Zeitung zu erscheinen.

Der Lokalteil des Heimatblattes erinnerte an diesen Märztagen 1983 ein bisschen an die Boulevardblätter: Kriminelles in jeder Ausgabe. Der Rückblick auf den Banküberfall, das Familiendrama – und an den Folgetagen jeweils Ergänzungsartikel.

Grüninger, der bei seinen frühmorgendlichen Fahrten im überfüllten Linienbus das Ohr buchstäblich am Pulsschlag der Bevölkerung hatte, wurde von Tag zu Tag nervöser. »Glauben Sie denn auch, dass die Sache mit dem Hausmeister mit Seifritz zu tun hat?«, fragte er, nachdem auch Sander bereits kurz nach 8 Uhr in der Redaktion erschienen war.

Der zuckte mit den Schultern. »Schwierig zu sagen. Wir sollten aber dringend mal zu den Gerüchten etwas schreiben.«

Grüninger wollte das Thema in einer der folgenden Redaktionskonferenzen ansprechen und die Meinung der übrigen Kollegen dazu hören.

Noch bevor es dazu kam, ereilte die Redaktion eine neuerliche Schockmeldung. Gerade mal zwei Tage nach dem Familiendrama.

37

Schon einige Stunden zuvor hatte die Meldung bei der Sonderkommission in Stuttgart wie eine Bombe eingeschlagen. Wieder Göppingen. Schon wieder ein mysteriöser Fall. Waren sie denn dort jetzt alle verrückt geworden, oder hatte der Banküberfall nach einem Jahr eine Kettenreaktion ausgelöst? Waren vielleicht doch einige Göppinger darin verwickelt – und drohte etwas aufzufliegen, wovor sie alle Angst hatten? Etwas, von dem die Kriminalisten keine Ahnung hatten? Gerüchte dieser Art würden schnell die Runde machen, schoss es August Häberle durch den Kopf, als er wieder mit Zeller und einigen Kollegen im Besprechungsraum der Landespolizeidirektion Stuttgart 1 zusammengekommen war.

»Wir sind über einen Todesfall unterrichtet worden, der sich am gestrigen Dienstag am Bodensee ereignet hat«, informierte Zeller nun detailliert das ganze Team: Ein Geschäftsmann aus Göppingen war mit seinem Auto von einer Bodenseefähre gerollt und mit dem Fahrzeug versunken.

»Wie?«, fragte einer der Ermittler. »Von der Fähre gerollt? Wie geht das denn?«

Zeller schob einige Blätter beiseite und las nach. »Er ist in Romanshorn, in der Schweiz also, gegen 13.30 Uhr als Letzter auf die Autofähre gefahren, zurück ans deutsche Ufer. Ein Zöllner will beobachtet haben, dass der Mann wohl darauf bedacht war, auch wirklich als Letzter auf das Schiff zu fahren.«

»Ein Suizid also«, resümierte Häberle.

»Die Kollegen in Friedrichshafen gehen davon aus, obwohl kein Motiv dafür erkennbar ist«, berichtete Zeller weiter. »Der Pkw stand mit dem Heck rund fünf Meter von der Reling entfernt, als sich das Auto während der 50-minütigen Überfahrt etwa 600 Meter, bevor die Fähre das Friedrichshafener Ufer erreicht hätte, rückwärts in Bewegung gesetzt hat. So sagen es zwei Jugendliche, die im Fahrzeug davor saßen.«

»Ein Unfall oder eine Fehlbedienung des Autos?«, hakte ein Ermittler nach.

»Sieht nicht danach aus. Die Kollegen schreiben, der Fahrer habe den Motor des Autos gestartet. Und selbst dann, wenn dabei versehentlich der Rückwärtsgang eingelegt gewesen wäre, hätte der kurze Ruck nicht ausgereicht, den Pkw über eine Strecke von fünf Metern zu bewegen und dort eine stabile Absperrkette zu durchbrechen. Im Übrigen seien die Fähren mit einem Gefälle zur Schiffsmitte hin konstruiert, sodass kein Fahrzeug selbstständig von Bord rollen könnte.«

»Was hat der Mann denn in der Schweiz gemacht?«, wollte Häberle wissen. »Hat man im Wagen etwas gefunden? Belege …«

»Belege«, griff Zeller das Gesagte auf. »Du denkst an Bankbelege. Bisher keine Erkenntnisse, nein. Und was den Grund der Reise anbelangt, hab ich die Kollegen in Göppingen gleich, nachdem ich die Meldung gekriegt hab, danach gefragt. Sie sagen, dass er vormittags noch mit seiner Frau gemeinsam in den eigenen Betrieb gefahren ist. Dort habe er dann erklärt, er müsse auswärts geschäftliche Verpflichtungen erledigen und werde deshalb möglicherweise nicht bis zum Mittagesessen zurück sein.«

»Und dann?«

»In seiner Wohnung hat man inzwischen eine Notiz gefunden, mit der er seiner Frau mitteilte, er werde für einige Tage verreisen. Sogar einige Reiseutensilien hat er wohl zusammengepackt, ehe er in Richtung Bodensee gefahren ist, wo er vermutlich den Grenzübergang Schaffhausen benutzt hat.«

»Damit, liebe Kollegen«, fasste Häberle seine Gedanken zusammen, »dürfte sich das Gerüchtekarussell in Göppingen noch rasanter drehen.«

Zeller nickte: »Deshalb wäre es vielleicht nun doch angebracht, du würdest dich in den nächsten Tagen als Einheimischer dort umhören. Findest du nicht auch?«

38

Blaubart hatte in den vergangenen Tagen kein Bedürfnis gespürt, Kirstin zu treffen. Sie hatten einige Male miteinander telefoniert, dabei auch über den Amerikaner gesprochen, der sich Joe Lukas nannte. Doch trotz ihrer inständigen Bitte, ihr zu sagen, welcher Art die Schwierigkeiten mit ihm waren, wich er immer wieder aus und erklärte allgemein: »Die Amis haben seltsame Vorstellungen, was Oldtimer kosten.« Noch hatte sich der Kerl nicht bei ihm gemeldet, dafür aber, so berichtete ihm Kirstin, tauchte er fast jeden Abend im Luna auf, warf geradezu mit Geld um sich und suchte eindeutig die Nähe zu der jungen Frau, deren Job es natürlich war, die männliche Kundschaft zum teuren Sektkonsum zu animieren.

Jetzt, an diesem frühlingshaften Aprilabend, sank er nach unzähligen Telefonaten, die er teils in Englisch, teils in Französisch geführt hatte, auf seinem Bürosessel zusammen und besah, wie immer, wenn die Nacht schon hereingebrochen war, sein eigenes Spiegelbild in der großen dunklen Fensterscheibe. Vielleicht, so dachte er, war es sinnvoll, dort endlich eine Jalousie anzubringen, um nicht von draußen beobachtet werden zu können. Zwar gab es hier am Stadtrand unweit der Cooke Barracks nur selten Passanten, allenfalls ein paar entfernte Nachbarn, die ihre Hunde ausführten. Aber diese Einsamkeit kam ihm seit einigen Wochen nicht mehr ganz so friedlich vor. Schließlich gab es unter seiner gewiss zahlungskräftigen Kundschaft auch einige Typen, die bisweilen etwas dubios erschienen. Außerdem konnte man in den derzeit politisch turbulenten Zeiten niemals so genau wissen, wie lange das internationale Geschäft noch boomte. Die Friedensinitiativen gewannen nahezu täglich mehr an Boden, sodass militärisches Eingreifen, in welcher Form und wo auch immer, das Wirtschaftsgefüge sehr schnell durcheinanderbringen konnte. Außerdem hatte der US-Präsident Ronald Reagan erst dieser Tage die Sowjetunion als »Reich des Bösen« bezeichnet. Das waren wirklich keine guten Zeichen.

Blaubart sah auf den Wecker, der auf seinem Schreibtisch stand: 22.47 Uhr. Das war so ungefähr die Zeit, zu der Kirstin auf die Bühne musste, um die Hüllen von ihrem wohlgeformten Körper fallen zu lassen.

Nein, er entschied, auch heute nicht ins Luna zu gehen, vor allem nicht, weil dort möglicherweise der Amerikaner Lukas sein Unwesen trieb.

Während er sich gerade mit diesem Gedanken beschäftigte, dröhnte etwas an sein Ohr. Aus der Ferne. Ein dumpfer Schlag. Aber von ungewohntem Klang, sodass er regungslos sitzen blieb und in die Nacht lauschte, die nur vom gleichmäßigen Rauschen der Klimaanlage erfüllt war. Seine Augen waren auf die nachtschwarze Fensterscheibe gerichtet, durch die er von außen wie auf einem beleuchteten Präsentierteller wirken musste.

Instinktiv griff er zum Lichtschalter, der sich links an der Wand in Reichweite befand, knipste die Leuchtstoffröhren aus und saß augenblicklich in undurchdringlicher Finsternis, während gleichzeitig wieder ein dumpfes metallisches Geräusch an seine Ohren drang. So, als sei nebenan in der Garagen- und Werkstatthalle eine Verbindungstür zugefallen. Dort gab es einige, die nie zugeschlossen wurden. Aber das große Rolltor, zuckte es ihm durch den Kopf, das hatte er bereits in der Abenddämmerung heruntergefahren. Ganz sicher.

Er spürte, wie sein Herzschlag an Tempo zulegte. Wieder diese Stille und nur das Rauschen der Klimaanlage. Inzwischen hoben sich vor ihm in der Finsternis die Fenster als tief schwarzgraue Flächen ab, denn seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Draußen gab es Streulicht von der nahen Stadt und einigen Straßenlampen. Er drehte den Kopf nach links zu der Tür, die ins Freie führte. Er hatte sie abgeschlossen und den Schlüssel innen steckenlassen. Hingegen befielen ihn Zweifel, ob er auf der gegenüberliegenden Seite die Tür in den Garagenbereich auch schon verschlossen hatte. Manches tat er unbewusst, ohne dass es sich in sein Gedächtnis einprägte, das von der angespannten Situation ohnehin gelähmt zu sein schien. Doch er durfte jetzt nicht panisch werden. Er musste einen klaren Gedanken fassen, versuchte dies auch krampfhaft, doch alles mündete in diese verdammte dumpfe Angst.

 

Wenn da draußen jemand war, dann konnte dies zweierlei bedeuten: Entweder war’s ein Autodieb oder jemand, der es nur auf ihn persönlich abgesehen hatte. Natürlich, hämmerte es in seinem Gehirn, da lauerte jemand auf ihn. Denn ein Autodieb wäre durch das Licht, das bis vor wenigen Minuten im Büro gebrannt hatte, abgeschreckt worden. Dann hätte der gewiss gewartet, bis die Luft rein gewesen und das Auto vor dem Gebäude weggefahren wäre. Wenn der Unbekannte trotzdem eingedrungen war, dann bedeutete dies allergrößte Gefahr.

Blaubart überlegte für einen Moment, ob er die Polizei rufen sollte. Eine schwerwiegende Entscheidung zwischen Leben und Tod – oder zwischen Regen und Traufe?

Er konnte jedoch unmöglich einfach in der Dunkelheit sitzen bleiben. Wenn er allerdings diese verdammte Tür zur Garage tatsächlich nicht verschlossen hatte, würde sie sich jeden Augenblick öffnen. Und wenn sie doch verriegelt war, bot sie auch keinen Schutz. Der Unbekannte brauchte doch nur die Fensterscheibe einzuschlagen. Okay, beruhigte er sich, das war zwar sogenanntes Sicherheitsglas, das man nur mit einem Vorschlaghammer zertrümmern konnte. Aber was, wenn der Eindringling einige Schüsse abfeuerte?

Blaubart griff reflexartig zur linken unteren Schublade seines Schreibtisches und fingerte zwischen Papieren nach jenem Gegenstand, den er dort seit einigen Monaten aufbewahrte. Sofort spürte er das kühle Metall, den Griff und die Form des Revolvers, den er im geladenen Zustand hier versteckt hatte. Für den äußersten Notfall. Nie hatte er damit geschossen. Und auch jetzt wollte er es nicht. Aber wenn er sich zur Wehr setzen musste, wenn es wirklich um Leben und Tod ging, was blieb ihm dann anderes übrig? Er nahm die schwere Waffe in die rechte Hand und zielte in Richtung jener Tür, von der er nicht wusste, ob er sie im abendlichen Arbeitseifer schon verriegelt hatte. Ihre Konturen konnte er in der Dunkelheit, die ihn umgab, schemenhaft erahnen.

Wenn sie jetzt aufging, wenn dort plötzlich die Silhouette einer Person erschien, die er in diesem fahlen Lichtschimmer natürlich nicht würde erkennen können, sollte er dann rigoros abdrücken? Ohne zu wissen, wen er da niederschoss? Würde man ihm Notwehr zugestehen?

Aber er konnte doch nicht regungslos sitzen bleiben und mit dem Täter eine Konversation beginnen. Noch ehe er dazu in der Lage wäre, würde womöglich der andere schießen. Wilde Gedanken jagten gleichzeitig durch seinen Kopf.

Blaubart spürte, dass seine rechte Hand mit der schweren Waffe zitterte. Er konzentrierte sich darauf, sie zu entsichern. Jetzt bedurfte es nur noch einer kleinen Fingerbewegung, und ein Schuss würde sich lösen.

Noch aber blieb es still. Kein neuerliches Geräusch mehr. Oder waren da irgendwo Schritte? Feste Schuhe auf dem Betonboden der Garage? Blaubart hielt den Revolver krampfhaft umklammert. Vorsicht, riet ihm die innere Stimme. Eine falsche Berührung, und die Waffe könnte losgehen.

Das monotone Rauschen der Klimaanlage schien sich immer tiefer in seine Ohren zu fressen und gaukelte ihm Geräusche vor, die es gar nicht gab.

Die Taschenlampe, durchzuckte es Blaubart. Natürlich. In der obersten Schublade hatte er sich doch eine dieser starken Halogenlampen bereitgelegt. Für den Fall eines Stromausfalls. Er konnte mit ihr die Klinke der gegenüberliegenden Tür anstrahlen und sofort sehen, ob sich etwas bewegte. Und er könnte eine Person blenden, die in den Raum käme. Blaubart hielt mit der rechten Hand den Revolver auf die Tür gerichtet und zog mit der linken die obere Schreibtischschublade heraus, in der griffbereit die Stablampe lag. Sie mit links einzuschalten, erforderte als Rechtshänder einiges Geschick. Für einen Augenblick zögerte er noch, denn ein Licht im Büro würde ihn durch das Fenster wieder verraten.

Er entschied, dieses Risiko einzugehen, und zielte mit dem schmalen Lichtstrahl auf die Klinke der gegenüberliegenden Tür, die in den Garagenbereich führte. Wieder quälte ihn die bange Frage, ob sie verriegelt war oder nicht.

Dann geschah es. Oder war es nur Einbildung? Die Klinke bewegte sich nach unten. Ja, eindeutig. Blaubarts Blutdruck schoss in die Höhe. Gleich würde sich die Tür öffnen, sofern er sie nicht verschlossen hatte. Gleich würde es geschehen. In der nächsten Sekunde. Schießen. Du solltest sofort schießen, wenn es so weit ist, mahnte seine innere Stimme. Nein, nein, befahl ihm der Verstand. Ein einziger Schuss würde alles verändern. Brutal und radikal.