Die Gentlemen-Gangster

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Mit den üblichen dürren Worten einer Pressemitteilung wollten sich Sander und Grüninger an diesem Tag nicht zufriedengeben. Nach einigen Telefonaten gelang es ihnen, die Chefin jener Gesellschaft ausfindig zu machen, die das Parkhaus Gmünd-Center betrieb. Die Leser wollten schließlich nicht nur darüber informiert werden, dass man das Auto der Bankräuber gefunden habe. Sie wollten auch noch ein bisschen über die Hintergründe erfahren. Vielleicht, so pflegte Sander oft zu argumentieren, fühlten sich diejenigen, die etwas wussten oder gesehen hatten, durch eine weitere Berichterstattung doch noch veranlasst, sich zu melden. Aber leider wollten die auf Geheimniskrämerei gebürsteten Beamten diese einfache Möglichkeit des Zeugenaufrufs nicht nutzen.

Mit seiner eigenen Recherche brachte Sander neue Aspekte ins Spiel. Denn die Parkhauschefin erinnerte sich an einen ähnlichen Millionenraub, bei dem ziemlich genau vor vier Jahren, Mitte Juni 1978, bislang noch immer unbekannte Täter von der Kreissparkasse Schwäbisch Gmünd 1,4 Millionen D-Mark erbeutet hatten. Die damaligen Gangster hatten offenbar genau darüber Bescheid gewusst, wie die Bank größere Geldmengen transportierte. Die Räuber überfielen im Hinterhof des Gebäudes vier Geldboten und flüchteten ebenfalls ins Parkhaus Gmünd-Center, wo sie ihr Fahrzeug an derselben Ecke abgestellt hatten, in der auch jetzt der silberfarbene Audi stand. Und noch eine Merkwürdigkeit: Das damalige Fluchtfahrzeug – ein grüner VW Golf – war mit einem gefälschten Göppinger Kennzeichen versehen worden.

Sander und Grüninger stutzten: Hatte die Soko diese Zusammenhänge gekannt und bisher nur darüber geschwiegen? Oder waren die Polizeidienststellen weitaus schlechter vernetzt, als man vermutete?

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Heidi Offenbach, eine junge Bankangestellte, hatte lange mit sich gerungen, ob sie einen Anlageberater ihres Arbeitgebers zurate ziehen sollte. Aber knapp 50.000 D-Mark, dazu noch in bar, waren eine riesige Summe, und es wäre wohl viel zu riskant, diese zu Hause aufzubewahren. Da bedurfte es eines Experten, dem sie ihr Anliegen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen konnte. Eine Zeit lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, dies bei einer anderen Bank zu tun. Aber falls man sie dort mit ihrem Beruf als Bankkaufmann erkennen würde, dazu vielleicht noch als Angestellte der Kreissparkasse, würde dies möglicherweise Argwohn erwecken. Also entschied sie, den älteren Kollegen Hermann Pfitzold um Vorschläge zu bitten. Während einer Mittagspause hatten sie sich in sein kleines Büro zurückgezogen. Pfitzold, ein Endvierziger, der Anzug und Krawatte trug, seine Haare kurz hielt und sorgfältig rasiert war, hörte sich interessiert an, was die 24-Jährige von ihm wollte: einen Rat für eine sichere, langfristige Geldanlage. »Vielleicht sogar für die Rente«, hatte sie gesagt und ihm erklärt, dass sie von ihrer Oma 48.000 D-Mark geerbt habe.

»In bar?«, fragte der Anlageberater völlig sachlich.

»Ja«, lächelte Heidi verlegen. »Sie hat wohl mal eine Lebensversicherung ausbezahlt bekommen und das Geld nie irgendwo angelegt.«

»Sie kennen sich ja aus. Woran haben Sie nun gedacht?« Er musterte die junge Frau, die ihn mit großen Augen anstrahlte und ihm äußerst sympathisch erschien. Allerdings trennten sie vermutlich fast 30 Jahre, dachte er. Zwar war sie ihm gelegentlich schon aufgefallen, wenn sie sich innerhalb des großen Bankgebäudes über den Weg liefen, aber jetzt, in ihrer Nähe und unter vier Augen, empfand er sie als besonders hübsch und charmant. Sogar die Unsicherheit, die sie zu verbergen versuchte, war liebenswürdig.

»Ich möchte das Geld sicher anlegen. Dauerhaft, ohne Risiko.«

Er überlegte, weshalb sie sich nicht selbst informierte. Als Bankkaufmann verfügte sie schließlich über eine entsprechende Ausbildung. Er entschied aber, nicht danach zu fragen, sondern sich auf seinen Auftrag zu konzentrieren: »Keine Aktien, Fonds oder Ähnliches? Mit der Aussicht auf hohe Renditen?« Pfitzold lehnte sich zurück und spielte mit einem Kugelschreiber.

»Nein, nichts davon. Ich hab eher an Gold gedacht. Deshalb komm ich zu Ihnen. Sie kennen sich da doch am besten aus.«

»Gold?«, staunte der Anlageberater.

»Ja. Meine Oma hat immer gesagt, wer nach der Währungsreform in den 40er-Jahren Gold gehabt habe, der sei gleich wieder reich gewesen.«

»Sie befürchten eine neue Währungsreform?« Pfitzold legte die Stirn in Falten.

»Man weiß ja nie …«

»Okay. Ich brauch Ihnen nicht allzu viel zu erklären«, nickte der ältere Kollege. »Denken Sie an Münzen oder Barren?«

»Barren sind wohl günstiger«, gab sich Heidi informiert.

»Ja, aber nicht so schön.«

»Ich will auch keinen großen Barren, sondern kleinere Stückelungen.«

Pfitzold holte einige Broschüren aus der Schublade und legte sie der jungen Frau vor. »Wir können das Geschäft machen, sobald Sie das Geld herbringen«, sagte er.

»Morgen? Wäre morgen okay?«

»Ja, natürlich. Aber passen Sie auf, wenn Sie so einen hohen Betrag mit sich herumtragen.«

»Mich wird schon keiner überfallen«, entgegnete sie keck.

»Nur noch eine Frage«, hakte der Banker nach. »Wie haben Sie das Geld? Scheine oder auch viele Münzen? Sind auch noch Scheine früherer Serien dabei?«

Heidi wusste für einen Moment mit dieser Frage nichts anzufangen. »Spielt das denn eine Rolle?«

Pfitzold lächelte einnehmend. »Ich dachte nur, wenn Ihre Oma das Geld gehortet hat, könnten es doch noch Scheine sein, die wir bei der Bundesbank tauschen müssten.«

»Nein, da sind keine dabei«, erwiderte sie schnell.

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Das Fluchtauto der Gangster und der Fundort waren endlich ein paar handfeste Anhaltspunkte, mit denen sich Soko-Leiter Hartmut Zeller erneut an die Öffentlichkeit wenden wollte. Seine Vorgesetzten bei der Landespolizeidirektion Stuttgart 1 hatten die Staatsanwaltschaft davon überzeugen können, den Fall der Redaktion der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst anzudienen. Dort nahm man das Ansinnen mit Interesse auf und fertigte im Eiltempo mithilfe der Ermittlungsakten ein Drehbuch an, sodass ein relativ langer Filmbeitrag entstand: mit allen Details vom Eindringen der Täter in die Wohnung Seifritz’ bis zur Flucht. Knapp viereinhalb Monate nach dem Verbrechen wurde die Fernsehfahndung am 17. Juli 1982 als siebter Fall dieser XY-Folge ausgestrahlt. Kommissar August Häberle verfolgte die Sendung am heimischen Bildschirm zusammen mit seiner Frau Susanne. »Den Seifritz stellen sie aber als ziemlich biederen Schwaben dar. Das hat er nicht verdient«, kritisierte er den Schauspieler, der den Bankdirektor verkörperte. Dass dieser im Film Hans Sanders hieß, veranlasste den Kriminalisten, der sich in Göppingen auskannte, zu einer süffisanten Bemerkung: »Die nennen ihn Sanders – beinahe so, wie dieser Journalist heißt«, grinste er seiner Frau zu. »Hab dir von dem doch schon erzählt. Der steckt seine Nase in Göppingen in alles rein. Georg Sander.«

Susanne konnte sich an einige Episoden des Journalisten erinnern, wollte sich jetzt aber nicht ablenken lassen und dem etwa 15-minütigen Film folgen. Im Anschluss gab neben Moderator Eduard Zimmermann der sichtlich nervöse Soko-Leiter Hartmut Zeller im hellbraunen Anzug mit grauer Krawatte weitere Erläuterungen zu dem Verbrechen. Häberle überlegte, ob sein Kollege den Text tatsächlich auswendig vortrug oder von einem Bildschirm ablas.

Georg Sander, der Journalist, war in diesen Tagen außer Gefecht gesetzt. Er hatte sich bei der verunglückten Landung seines ersten (und einzigen) Fallschirmsprungs das rechte Sprunggelenk innen und außen gebrochen und konnte deshalb die Fernsehfahndung nur vom Klinikbett aus verfolgen. Wie in den Tagen zuvor auch schon die Fußballweltmeisterschaft, die in Spanien stattfand und bei der Italien die deutschen Kicker im Endspiel mit 3:1 besiegte.

Sander, der kein allzu großer Fußballfan war, hatte sich trotzdem geärgert, die meisten Spiele nur in der Klinik anschauen zu können. Noch mehr wurmte es ihn aber, den bislang größten Kriminalfall seiner journalistischen Laufbahn nicht weiter beruflich verfolgen zu können. Doch der altgediente Grüninger konnte dies natürlich mindestens genauso gut.

Sanders Kollegen kümmerten sich in den heißen Julitagen geradezu liebevoll um ihn, versorgten ihn mit den neuesten Nachrichten und brachten ihm sogar nach der XY-Sendung die Pressemitteilung mit, die die Landespolizeidirektion Stuttgart 1 per Fax verbreitet hatte (hier der Originaltext):

Geiselnahme am 7. März d. J. in der Kreissparkasse Göppingen. Wie bereits ausführlich durch die Polizei berichtet, verschafften sich am Tag des Überfalls zwei mit Pistole und Maschinenpistole bewaffnete Männer – einer davon als Polizist verkleidet – kurz nach 20.15 Uhr Zutritt zu der am Stadtrand gelegenen Wohnung des Sparkassendirektors in Göppingen. Sie nahmen ihn und seine 18-jährige Tochter als Geiseln, forderten fünf Millionen DM und hielten die beiden alleine Anwesenden etwa acht Stunden in ihrer Wohnung fest. Am darauffolgenden Morgen, gegen 4 Uhr, entführten sie dann das Mädchen in ein Gartenhaus bei Schorndorf, wo es von einem dritten Täter bewacht wurde. Anschließend fuhren die beiden anderen Täter mit dem Direktor in dessen Dienst-Mercedes zur Hauptstelle der Kreissparkasse in Göppingen, wo sie das Eintreffen weiterer leitender Angestellten abwarteten und dadurch insgesamt 2,7 Millionen DM erpressen konnten. Danach flüchteten sie unter kurzfristiger Mitnahme eines Bankbediensteten als Geisel und konnten unerkannt entkommen. Währenddessen hatte sich die entführte Tochter, nachdem ihr Bewacher das Gartenhaus verlassen hatte, selbst befreien können. Obwohl die Polizei sofort nach Bekanntwerden eine Großfahndung auslöste, fehlt von den Tätern bislang jede Spur. Auch die von der LPD Stuttgart I eingerichtete Sonderkommission »Soko Fils«, die in minuziöser Kleinarbeit mehr als 570 Hinweise und Spuren untersuchte und auswertete, konnte bisher keinerlei konkrete Anhaltspunkte gewinnen. Die ersten brauchbaren Hinweise ergaben sich nun jedoch durch das Auffinden des im zweiten Parkdeck des Gmünd-Centers in Schwäbisch Gmünd abgestellten Tatfahrzeugs im Juni, das möglicherweise mit dem Fluchtfahrzeug identisch ist. Dabei handelt es sich um einen silbermetallic Audi 100 mit bereits Monate zuvor in Schorndorf entwendeten WN-Kennzeichen, die von den Tätern abgefälscht worden waren. Die dem Fahrzeug ursprünglich ordnungsgemäß zugeteilten Ludwigsburger Kennzeichen lagen dagegen im Kofferraum. Im Fahrzeug fand die Polizei einen grünen Polizeianorak, die leere Geldtasche der KSK Göppingen, zwei Handschließen mit passenden Schlüsseln und eine Sonnenbrille.

 

Sander las den Text interessiert, stellte jedoch fest, dass die Pressemitteilung nur wenig enthielt, was nicht schon bekannt war. Er hatte in den sommerheißen Julitagen trotz des schmerzenden Fußgelenks genügend Zeit, über den Fall nachzudenken. Auch seine Kollegen aus der Redaktion, die ihn beinahe täglich besuchten, wussten von Spekulationen und Gerüchten zu erzählen. Allgemeine Einschätzung: Wie kann es sein, dass Täter so dreist vorgehen und spurlos von der Bildfläche verschwinden? Da musste doch mehr dahinterstecken. Vielleicht doch eine Organisation oder Terroristen? Oder eine ganze Kette von Mitwissern?

29

Die großen Sportanlagen am Stadtrand galten als beliebter Treffpunkt für Honoratioren und solche, die sich dafür hielten. So ziemlich jeder Verein hatte sich hier im Lauf der Jahrzehnte ein eigenes Klubheim gebaut. Längst gab es in den meisten dieser Gaststätten einen Stammtisch, an dem regelmäßig die große und die kleine Politik ausführlich diskutiert wurden. Meist war es eine reine Männerrunde, bestehend aus Kommunalpolitikern sowie Führungskräften aus Wirtschaft und Sportfunktionären, die sich zum geselligen Treffen hier einfand.

Neuerdings hatte sich auch eine attraktive junge Dame namens Analena Heuberg dazugesellt, die zwar in Ulm wohnte, jedoch in Göppingen ein Schmuckgeschäft betrieb. An diesem schwülen Augustabend war sie nach längerer Zeit wieder zum Stammtisch in eines der Vereinsheime gekommen, was den heutigen Wortführer, den Fahrlehrer, Reisebürobesitzer und Kommunalpolitiker Hans Siebeneicher, sichtlich aus der Ruhe brachte. Allerdings war dies beim Anblick einer jungen Frau bei ihm keine Seltenheit, insbesondere wenn sie so luftig-sommerlich gekleidet war wie diese Juwelierin. Der Endvierziger mit schütterem weißem Haupthaar zeigte sich in Anwesenheit des weiblichen Geschlechts immer besonders charmant, während er bisweilen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu herben cholerischen Anfällen neigte.

Jetzt rückte er einen Stuhl heran, um links neben der Juwelierin sitzen zu können, die er mit ein paar Komplimenten für sich gewinnen wollte.

Aber wie in den vergangenen Wochen so oft, drehte sich das Gespräch ziemlich schnell um das, was die Göppinger in diesem Sommer am meisten interessierte: der rätselhafte Überfall auf den Bankdirektor und dessen Tochter. Heiko Emmerich, bei der Industrie- und Handelskammer engagierter Mittelständler, der mit Kurzarmhemd und offenem Kragen trotz seines fortgeschrittenen Alters auf burschikoses Auftreten Wert legte, machte eine abwehrende Handbewegung: »Fangt mir doch nicht wieder mit dieser Geschichte an. Wenn ihr mich fragt, will die Staatsanwaltschaft nicht wirklich mit der Sprache heraus.«

»Du meinst, da wird etwas zurückgehalten?« Niels Adamus, der bei der Handwerkskammer einen verantwortlichen Posten bekleidete und im blauen Poloshirt erschienen war, wurde hellhörig. »Du glaubst immer noch, die wissen mehr, als sie sagen wollen?«

Hans Siebeneicher, den das neuerliche Geplänkel um den Überfall nervte, schnitt mit kräftiger Stimme den beiden das Wort ab: »Habt ihr denn kein anderes Thema mehr? Ich glaube kaum, dass dies unsere liebe Analena interessiert. In Ulm kräht doch kein Hahn nach diesen Gangstern.« Er zwinkerte ihr zu, während sie an ihrem Weißweinglas nippte.

»Na ja«, meinte sie kühl, ohne Siebeneicher direkt anzusprechen. »Ich möchte das nicht erleben müssen, was man dem Sparkassenchef angetan hat.«

»Haben Sie denn nie Angst, überfallen zu werden?«, fragte Adamus, um die Dame nun auch ins Gespräch mit einzubinden.

»Angst nicht unbedingt«, erwiderte sie und drehte nervös ihr abgestelltes Glas. »Aber in der dunklen Jahreszeit, wenn’s ab 17 Uhr schon Nacht ist, hab ich manchmal ein ungutes Gefühl, wenn zwei merkwürdige Typen reinkommen und so tun, als interessierten sie sich für eine teure Uhr.«

»Aber Sie haben doch eine Alarmanlage?«, warf Siebeneicher fragend ein.

»Die Anlage schützt den Laden nach Geschäftsschluss. Aber ich hab natürlich einige Vorrichtungen, die tagsüber für Sicherheit sorgen«, erklärte Analena Heuberg selbstbewusst. Mehr wollte sie dazu nicht sagen. Man wusste ja nie, wer an den Nebentischen möglicherweise große Ohren kriegte.

Siebeneicher wollte noch etwas anmerken, aber da kam im Dunst des Zigarettenqualms ein groß gewachsener Mann aus Richtung Eingang auf sie zu. »Oh, oh, der Herr Autoverkäufer kann’s auch schon einrichten«, stichelte Niels Adamus und rückte seine Designerbrille zurecht.

»Hi, Leute«, begrüßte Dieter Blaubart die Runde mit breitem Lachen, worauf er einen freien Stuhl an den runden Tisch heranzog.

Blaubart, ein braun gebrannter Kerl von knapp 50 Jahren mit einigen Falten auf der Stirn, war offenbar geradewegs aus dem Verkaufsraum seines Autohauses gekommen, das sich auf Ex- und Import spezialisiert hatte. Rein äußerlich erweckte er den Anschein, ein Mann von Welt zu sein: korrekter Freizeitlook, passend wohl zu den Fahrzeugmodellen, die auf sportliche Typen setzten. Woher er die hochpreisigen, meist gebrauchten Wagen bezog und wohin sie gingen, darüber wollte er nur ungern sprechen.

»Hallo, schöne Frau«, schmeichelte er der einzigen Dame am Tisch und ließ sich neben ihr nieder. »Haben die Herren Sie gut unterhalten?«

Adamus fühlte sich zu einer Antwort berufen: »Entschuldige, Dieter, aber ich denke, der Dame ist es bisher nicht langweilig geworden.«

Analena reagierte nicht darauf. Ihr war das großspurige Getue von Dieter zuwider. Sie mochte keine Männer, die derart eingebildet waren wie der Autohändler, der wohl glaubte, die halbe Welt kaufen zu können.

Siebeneicher versuchte, die leichte Verstimmung der knapp über 30-Jährigen aufzuheitern: »Geh’n Sie auch zum Spiel gegen Kiel?«, lenkte er ab. Gemeint war die für Mitte September anstehende Begegnung der Göppinger Bundesliga-Handballmannschaft Frisch Auf gegen THW Kiel in der Hohenstaufenhalle. Siebeneicher, selbst begeisterter Sportfan, wusste, dass sich die junge Frau für Handball interessierte.

»Das wird ein spannendes, aber schwieriges Spiel. Sie erinnern sich: Im Januar haben wir auswärts bei denen immerhin gewonnen.«

Emmerich staunte: »Oh, Sie sind aber gut informiert.«

»Ich kann Ihnen sogar sagen, wie Frisch Auf in Kiel gewonnen hat: 18 zu 13«, trumpfte Analena auf und sah in die verdutzten Gesichter der Männer. Natürlich gab es bei den Göppinger Honoratioren sehr viele Handballfans, denn es gehörte zum guten Ruf und war sozusagen Ehrensache, fest zu dem Bundesligisten zu stehen. Aber wenn sich noch jemand an Spielergebnisse von vor über einem halben Jahr erinnern konnte, musste er schon ein ganz eingefleischter Fan sein.

Den Männern am Tisch wurde klar, dass sich Analena als Ulmerin schon sehr mit Göppingen identifizierte. »Ich hab selbst mal Handball gespielt«, verriet sie stolz. »In Ulm. Aber nicht sehr lange.«

»Und deshalb haben Sie sich für die Handballstadt Göppingen entschieden?«, wollte Adamus wissen und sah sie über das dicke schwarze Gestell seiner Brille hinweg verwundert an.

»Nein, nicht deswegen, sondern weil das Juweliergeschäft zur Verpachtung anstand und ich von der Bank einen günstigen Kredit für die Existenzgründung bekommen hab.«

»Sie sind gelernte Juwelierin?«, hakte Autohändler Blaubart nach, weil sie bei ihren letzten Treffen darüber nicht gesprochen hatten.

»Ja, bin ich. Goldschmiedin, genauer gesagt. Aber mein Traum war es schon immer, selbstständig zu sein.«

»Da braucht man allerlei Knete«, warf Siebeneicher aus eigener Erfahrung ein.

»Das kann man wohl so sagen. Jetzt mach ich das seit drei Jahren, aber ganz so locker sitzt den Göppingern das Geld nicht. In Ulm ist mehr gelaufen.«

Blaubart grinste. »Die Göppinger sind sparsam. Anstatt das Geld auszugeben, holen sie sich’s lieber bei der Bank – auf unkonventionelle Weise.« Kaum hatte er es gesagt, spürte er, dass diese ironische Anspielung auf den Bankraub in diesem Augenblick völlig unpassend gewesen war.

Siebeneicher war erneut um Schadensbegrenzung bemüht: »Nun lass mal. Oder willst du behaupten, die Räuber seien wirklich Göppinger?«

Heiko Emmerich, der als einer der Verantwortlichen der Industrie- und Handelskammer stets darauf achtete, den Standort Göppingen nicht in Verruf kommen zu lassen, stellte klar: »Wir sollten das Thema nicht vertiefen. Je mehr Gerüchte in Umlauf kommen, desto schneller könnte auch einer von uns in die Schusslinie geraten.«

»Einer von uns?«, entfuhr es Siebeneicher und sah in irritierte Gesichter. »Glaubst du, jemand würde ausgerechnet uns so ein Kidnapping zutrauen?« Er lächelte verlegen.

Wieder gab sich der Autohändler vorlaut: »Natürlich. Jeder in der Stadt könnte es gewesen sein. Jeder, der in einer finanziellen Klemme sitzt. Oder habt ihr etwa alle keine Schulden?«

30

Die Aufregung legte sich, und auch das Interesse an dem Bankraub schwand von Monat zu Monat. Als Sander wieder genesen war, unterhielt er sich ausführlich mit seinem älteren Kollegen Grüninger darüber, aber außer Spekulationen gab es weiterhin nichts, was sich in diesem Sommer zu dem Thema verbreitet hatte. Für die Journalisten fand sich trotz aller Mühe kein aktueller Grund mehr, die Berichterstattung am Köcheln zu halten. Auch mehr oder weniger regelmäßige Anrufe bei dem Soko-Leiter in Stuttgart erbrachten nichts. Aber einen derart spektakulären Fall als ungeklärt zu den Akten zu legen, das durfte wohl nicht wahr sein. Natürlich schlug sich das dreiste Verbrechen in den Jahresrückblickseiten der Heimatzeitung, der NWZ, nieder, womit neues Salz in die Gerüchtesuppe geschüttet wurde. Sander hatte noch immer die Hoffnung nicht aufgegeben, seinen Lesern irgendwann einen finalen Artikel bieten zu können.

Er ahnte natürlich, dass im Hintergrund unzählige Vernehmungen liefen und sich die Aktenordner bei der längst nach Stuttgart umgezogenen Sonderkommission füllten. Auch Heinrich Lackner hatte seinem Nachbarn, dem Soko-Leiter Hartmut Zeller, mehrfach das Vorgehen der Gangster im Bankgebäude schildern müssen. Seine Sorge, selbst in die Schusslinie der Ermittler zu geraten, stieg von Woche zu Woche.

Zeller hatte sein hartnäckiges Nachbohren so begründet: »Wir rätseln noch immer, weshalb die Täter so sicher sein konnten, dass in der Bank niemand etwas bemerkt hat.«

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen«, wurde Lackner an diesem Januartag erstmals etwas ungehalten, als ihn Zeller erneut ganz offiziell in ein Büro der Göppinger Kriminalpolizei gebeten hatte, »ich hab nur getan, was mein Chef von mir verlangt hat. Und als die mich dann mitgenommen haben, hatte ich wirklich panische Angst.«

»Haben Sie denn mal mit jemandem über die Örtlichkeiten im Tresorbereich gesprochen? Hat sich mal jemand auffallend dafür interessiert?«

»Was glauben Sie, wie oft ich mir das schon überlegt habe, seit Sie mich das erste Mal dazu befragt haben! Nein, ich kann mich an niemanden erinnern.«

»Sie wurden nie danach gefragt?«, zweifelte Zeller.

»Nein.«

»Auch nicht im Freundes- und Bekanntenkreis? Ich denke, dass es gesprächsweise doch manchen brennend interessiert, wie und wo die Bank das Geld lagert.«

»Na ja«, räumte Zeller ein, »das schon, aber da erzähl ich doch nicht im Einzelnen, wie man da hingelangt und wie man den Tresor öffnen kann.«

»Aber vielleicht, wie das mit den morgendlichen Geldtransporten ist?«

»Was wollen Sie denn von mir hören?«, brummte Lackner hörbar verärgert. »Jetzt werden Sie mich gleich auch noch fragen, ob ich Schulden hatte und dringend 2,7 Millionen Mark brauchte.« Er sah sein Gegenüber erbost an. »Ja, ich habe Schulden. Ich habe ein Haus gebaut. Aber da werden Sie im ganzen Land genügend Leute finden, denen es genauso geht wie mir.«