Die Gentlemen-Gangster

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16

Die Beamten in Seifritz’ Büro hatten Mühe, die bankinternen Abläufe nachzuvollziehen. Das würde noch ausführliche Vernehmungen und Protokolle nach sich ziehen, seufzte Soko-Chef Hartmut Zeller und sah im Geiste schon den unseligen Papierberg mit all den Aktenordnern vor sich. Seifritz, der am Ende seiner physischen und psychischen Kräfte zu sein schien, erläuterte zum wiederholten Mal, wie die Geldübergabe im dritten Untergeschoss vonstattengegangen war, und dass die Täter darauf bestanden hätten, Lackner als neue Geisel mitzunehmen. Unterbrochen wurde er von einem der Kriminalisten, der sich als Kommissar Klaus Biegert vorgestellt hatte, und auf den abseits sitzenden Kassenangestellten deutete: »Wieso haben die gerade Sie mitgenommen, Herr Lackner?«

Lackner war erschrocken, sah hilfesuchend zu Seifritz, der jedoch ebenfalls konsterniert zu sein schein und nur wortlos mit den Schultern zuckte.

Soko-Leiter Zeller spann den Faden weiter: »Wäre denn außer Herrn Lackner auch noch jemand anderes infrage gekommen, der den Scheck für die Landeszentralbank hätte unterschreiben können?«,

Die beiden Angesprochenen waren auf diese Frage offenbar überhaupt nicht gefasst gewesen. »Ja, es hätte noch jemanden gegeben«, erklärte Seifritz schließlich. »Aber mir war klar, dass Herr Lackner bereits so früh morgens da sein würde. Deshalb hab ich ihn gerufen.«

»Und Sie, Herr Seifritz? Hätten Sie nicht auch unterschreiben können?«, bohrte Kommissar Biegert weiter.

»Ich? Ja, ich auch. Natürlich. Ich bin auch befugt, Schecks auszustellen.«

»Wenn also der Hauptkassierer drunten im Tresorraum schon da war, dann hätte es doch gar keiner weiteren Person mehr bedurft«, meinte der andere Ermittler ruhig. »War es denn notwendig und sinnvoll, noch jemanden einzuweihen?«

Lackner sah sich zu einer Antwort genötigt: »Es ist unüblich, dass Herr Seifritz die Schecks für die LZB unterschreibt. Das wäre dort vermutlich gleich aufgefallen.«

Lackner fühlte sich plötzlich unwohl und in die Enge getrieben. Ihn überkam eine undefinierbare Angst. Aber die Fragen der Kriminalisten hörten sich so an, als zweifelten sie an seinen Schilderungen und damit an seiner Integrität. Oder war es die stundenlange Nervenanspannung, die ihn nun so dünnhäutig machte?

»Und dann sind Sie mit den beiden mitgegangen«, stellte der Kripochef sachlich fest.

»Mitgegangen ist wohl das falsche Wort«, entgegnete Lackner. »Vergessen Sie nicht: Die waren bewaffnet und haben immer wieder gedroht, sie würden das Mädchen umbringen. Hätte ich mich da zur Wehr setzen sollen?«

Seifritz verdeutlichte: »Herr Lackner hat absolut korrekt gehandelt, meine Herren.«

Der Soko-Leiter nickte verständnisvoll. »Sie haben gesagt, Sie hätten den Eindruck, zumindest einer der Täter sei mit den bankinternen Abläufen vertraut und habe vielleicht sogar Kenntnisse der räumlichen Verhältnisse hier im Gebäude.«

»Ja, den Eindruck hatte ich«, bestätigte Seifritz. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gelassen und selbstsicher die vorgegangen sind. Dazu noch erstaunlich höflich. Die haben uns nie geduzt, immer nur gesiezt. Auch mal ›danke‹ und ›bitte‹ gesagt.«

»Also gepflegte Umgangsformen«, konstatierte der junge Kommissar Biegert.

Über Seifritz’ Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. »Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man sagen: ›Die Gentlemen bitten zur Kasse‹. Wie die Posträuber vor 20 Jahren in England.«

Soko-Leiter Zeller, ein dynamischer Mittdreißiger mit korrektem Haarschnitt, ging auf diese flachsige Bemerkung nicht ein, sondern stellte mit einem Seitenblick auf Biegert klar: »Die Spurensicherung wird sich Ihrer Wohnung annehmen. Außerdem sollten Sie und Ihre Tochter eine möglichst genaue Personenbeschreibung der Täter abgeben. Wir werden versuchen, Phantombilder anzufertigen. Für die Öffentlichkeitsfahndung.«

»Sie wollen an die Öffentlichkeit gehen?«, entfuhr es Seifritz, der es gewohnt war, über sein Geldinstitut nur positive Meldungen verbreiten zu lassen, musste sich aber sofort eingestehen, dass es keinen Sinn machte, auf die Pressearbeit der Polizei Einfluss zu nehmen. Trotzdem sollte versucht werden, die internen Abläufe und die Art und Weise, wie die Gangster an die 2,7 Millionen D-Mark gekommen waren, nur oberflächlich zu schildern. Gleichzeitig musste er an die örtliche Zeitung denken – vor allem, dass ihn Walser vor zwei Journalisten gewarnt hatte, die vermutlich nicht lockerlassen würden, bis sie jedes Detail zu diesem großen Verbrechen ihren Lesern schildern konnten: der junge, engagierte Georg Sander und der stellvertretende Redaktionsleiter Manfred Grüninger, ein Journalist der alten Schule. Denen würde man kein X für ein U vormachen können.

17

Am späten Nachmittag war eine 30-köpfige Sonderkommission komplett, federführend durch die Landespolizeidirektion Stuttgart 1. Spurensicherer untersuchten jeden Quadratzentimeter von Seifritz’ Wohnung, mehrere Beamte ließen sich noch einmal von dem Bankdirektor, seiner Tochter, den beiden Angestellten Rilke und Lackner sowie der Chefsekretärin detailgenau deren Eindrücke und Beobachtungen schildern. Auch die beiden Geldboten wurden mit einbezogen.

Bereits gegen 13 Uhr war auch der Mercedes des Bankdirektors gefunden: bei der Göppinger Feuerwache, nur etwa 150 Meter von der Stelle entfernt, wo Lackner hatte aussteigen dürfen. In dem Fahrzeug, das am Rande einer innerstädtischen Nebenstraße stand, lag eine Polizeimütze.

»Auch das ist doch ziemlich kaltblütig«, kommentierte dies Hartmut Zeller, seines Zeichens Leiter des Dezernats Sonderfälle bei der Landespolizeidirektion Stuttgart 1. »Die steigen am helllichten Tag aus dem Mercedes und verschwinden wohl mit einem anderen Auto.«

»Vielleicht war dort jenes Fahrzeug abgestellt, mit dem am frühen Morgen die Marion nach Schorndorf gebracht wurde«, meinte einer aus der Ermittlerrunde, die mehrere Räume der Polizeidirektion Göppingen in Beschlag genommen hatte – zum Leidwesen des örtlichen Kripochefs Karl Geiger, der diese Aufgabe gerne selbst übernommen hätte, sie jedoch angesichts der Tragweite des Falles an die Experten aus der Landeshauptstadt hatte abgeben müssen. Immerhin sah alles danach aus, dass man es mit professionellen Tätern zu tun hatte, die möglicherweise auch schon landesweit ihr Unwesen getrieben hatten. Nichts also für eine provinzielle Polizeidienststelle.

Ein anderer Kriminalist, der auch aus Stuttgart angereist war, gab zu bedenken: »Wenn es sich bei dem weiteren Fluchtfahrzeug um jenes handelt, mit dem Marion heute früh verschleppt wurde, dann müsste es der Täter bei der Rückkehr von Schorndorf hier bei der Feuerwache abgestellt haben und dann zu Fuß zum Hause Seifritz gegangen sein. Das wären – wenn ich das richtig aus dem Stadtplan rausgemessen habe – rund 1,6 Kilometer, auf normalem Weg wahrscheinlich etwa zwei Kilometer. Dafür braucht man bei flottem Schritt schätzungsweise 25 Minuten.«

Soko-Chef Zeller fuhr sich durchs füllige Haar, nickte anerkennend und blätterte in seinen Unterlagen. »Kann hinkommen. Die Marion wurde gegen 4 Uhr mit einer größeren Limousine, vermutlich einem Audi, nach Schorndorf gebracht, und eineinhalb Stunden später war der Täter wieder in der Wohnung Seifritz zurück. Das passt.« Zeller überlegte kurz. »Bis Schorndorf braucht er in den verkehrsarmen Morgenstunden keine halbe Stunde. Hin und zurück also nicht mal eine ganze Stunde. Er stellt den Fluchtwagen, mit dem die Täter ja auch angereist sein mussten, bei der Feuerwache ab und geht zu Fuß in die Wohnung Seifritz, knapp eine halbe Stunde. Dann ist er gegen 5.30 Uhr wieder dort. Genau, wie Seifritz es sagt.«

»Aber warum stellt er das Auto ausgerechnet bei der Feuerwache ab? Macht das Sinn?«, warf ein anderer Ermittler ein. »Außerdem war er als Polizist verkleidet. Mit dieser Maskerade muss er dann quer durch die City bis zur Nordstadt gehen.«

»Es war dunkel«, gab ein älterer Beamter zu bedenken. »Und wer wird schon misstrauisch, wenn er einem Uniformierten begegnet? Außerdem muss das Auto ja nicht zwangsläufig dort abgestellt gewesen sein, wo sie den Mercedes zurückgelassen haben.«

Zeller sah in die Runde. »Irgendwie kommt mir das alles komisch vor.«

»Sie haben Zweifel an den Schilderungen zum Tatablauf?«, fragte jemand, worauf sich in dem Saal eine plötzliche Stille breitmachte.

»Nein, nicht wirklich. Nein«, ruderte Zeller zurück. »Wichtig ist, dass wir mit großer Sorgfalt an die Sache herangehen. Denn die Arbeitsweise der Täter erscheint doch zumindest ziemlich seltsam zu sein. Um es mal vorsichtig auszudrücken.«

»Weiß man denn, wem das Gartenhaus gehört, in dem Marion festgehalten wurde?«, wollte ein junger Kriminalist wissen, der ein deutliches Stuttgarter Honoratiorenschwäbisch sprach.

»Ja«, erwiderte Zeller und sah wieder auf seine Unterlagen. »Es gehört einem Professor aus Schorndorf, der das kleine Wochenendhaus aber schon lange nicht mehr benutzt hat.«

»Marion war dort eingeschlossen? Sie ist durchs Fenster rausgestiegen?«

»Es gab kein richtiges Schloss. Aber der Täter hat die Tür mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Alles ziemlich merkwürdig«, räumte Zeller ein und fügte grinsend an: »Und bevor noch jemand von Ihnen auf eine andere Merkwürdigkeit stößt, will ich’s gleich sagen: Ich bin ein Göppinger, und der Herr Lackner ist mein Nachbar.«

Zeller konnte zu diesem Zeitpunkt freilich nicht ahnen, dass es noch weitaus mehr Merkwürdigkeiten und seltsame Zusammenhänge geben würde.

18

Die Pressekonferenz am Spätnachmittag hatte tatsächlich einige auswärtige Journalisten in einen Saal der Polizeidirektion Göppingen gelockt. Staatsanwalt, Direktionsleiter und Soko-Chef saßen einem Dutzend Medienvertreter gegenüber. Georg Sander hatte während seiner bisherigen Laufbahn noch nie so viele Kollegen bei einer örtlichen Pressekonferenz erlebt. Mikrofone waren aufgebaut, eine Fernsehkamera auch. Vertreter des Süddeutschen Rundfunks hatte man in der Provinz bisher nur bei ganz außergewöhnlichen Ereignissen gesehen. Direktionsleiter Walser fasste nach kurzer Begrüßung als Hausherr die dramatischen Ereignisse der letzten Stunden zusammen und erklärte, dass sofort eine Sonderkommission gebildet worden sei, die aus 30 Beamten, insbesondere von der Landespolizeidirektion Stuttgart 1, bestehe. Von dort aus werde auch die Pressearbeit gesteuert. Walsers Blick traf den örtlichen Pressesprecher Jürgen Holder, der sich von den Ereignissen überrollt und schlecht informiert fühlte. Denn die Stuttgarter hatten nicht nur die Ermittlungen, sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit an sich gezogen.

 

Ausführlich schilderte dann Soko-Leiter Hartmut Zeller einige Details, um die schier unglaubliche Gelassenheit der Täter und deren Ortskenntnisse hervorzuheben. Und letztlich lobte der Oberstaatsanwalt aus Ulm die bisherige Vorgehensweise der Polizei, deren oberstes Gebot es gewesen sei, das Leben der jungen Frau nicht zu gefährden.

Die erste Frage der Journalisten bezog sich auf die Anzahl der Täter: »Es waren also drei«, stellte ein junger Mann fest. »Aber wenn ich Sie richtig verstehe, könnte es einen vierten gegeben haben, der vom nahen Bahnhof aus das Sparkassengebäude observiert hat. Gibt es dazu und zu den angeblichen Bomben und Granaten, mit denen die Täter gedroht haben, konkrete Hinweise?«

Kopfschütteln am Tisch der Behördenvertreter. Zeller sah sich zu einer Antwort genötigt: »Nein, gibt es derzeit nicht. Aber ausschließen können wir es auch nicht.«

Sander hatte die Chronologie der Schilderungen aufmerksam verfolgt und einige logische Ungereimtheiten erkannt: »Weiß man denn, wie die Täter gestern Abend zum Haus Seifritz gekommen sind?«

»Vermutlich mit demselben Fahrzeug, mit dem einer das Mädchen heute früh nach Schorndorf verschleppt hat«, antwortete Zeller sofort.

»Und wo ist dieses Auto geblieben?«, bohrte Sander weiter.

»Wir wissen es nicht. Vermutlich haben es die Täter als Fluchtfahrzeug benutzt, nachdem sie den Mercedes von Herrn Seifritz bei der Feuerwache abgestellt haben.«

»Aber wie ist dieses Auto, mit dem der eine Täter ja von Schorndorf zurückgekehrt ist, in die Nähe der Feuerwache gekommen, ziemlich weit von der Wohnung Seifritz entfernt?«, wollte Sander wissen.

»Auch das ist vorläufig unklar«, räumte der Soko-Leiter ein. »Sie sollten aber nicht vergessen, dass es den dritten Täter aus der Gartenhütte gibt. Der muss ja auch ein Fahrzeug gehabt haben.«

Eine Journalistin des Süddeutschen Rundfunks meldete sich als Nächste und wandte sich an Zeller: »Ihren Schilderungen ist zu entnehmen, dass sich die Täter in bankinternen Vorgängen und vielleicht sogar im Gebäude der Kreissparkasse ausgekannt haben. Besteht der Verdacht, dass jemand aus dem Haus in die Sache involviert ist?«

Jetzt sah sich der Leiter der Polizeidirektion gefordert, dem stets viel daran gelegen war, örtliche Institutionen aus der Schusslinie zu nehmen: »Dazu gibt es momentan keine Anhaltspunkte. Aber Sie dürfen mir glauben, dass wir in alle Richtungen ermitteln.«

Ein Grauhaariger, der hinter Sander saß, mischte sich mit sonorer Stimme ein: »Und jemand aus der Familie? Sie haben vorhin gesagt, dass die junge Frau noch eine Schwester hat, die kurz vor dem Auftauchen der Täter mit ihrem Freund Richtung Tübingen weggefahren sei. Außerdem soll es noch einen Bruder geben …«

»Ich bitte Sie«, unterbrach ihn der Direktionsleiter, »Sie sollten am heutigen Tag, an dem die Familie – insbesondere das Mädchen und sein Vater – so viel durchgemacht haben, mit derlei Spekulationen vorsichtig sein.«

Ein Journalist der Stuttgarter Zeitung hob den Finger und legte sofort los: »Es muss doch in der Bank ein Menge Leute gegeben haben, die heute Morgen etwas mitgekriegt haben.« Er wandte sich ebenfalls an den Soko-Leiter: »Sie haben uns vorhin berichtet, dass man für die zwei Millionen von der Landeszentralbank einen Scheck mit zwei Unterschriften gebraucht hat, dass ein Angestellter kurzzeitig als Geisel mitgenommen worden ist, und dass es Geldboten gab, die man zur Landeszentralbank geschickt hat. Das hört sich ja nicht gerade nach einem blitzartigen Überfall an. Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber das klingt alles ziemlich irreal.«

»Ist es auch«, unterbrach Zeller den Wortfluss des Journalisten. »Deshalb gehen wir auch davon aus, dass wir es mit keinen Gelegenheitsverbrechern zu tun haben. Vergessen Sie aber bei Ihren Überlegungen nicht, dass der Bankdirektor um das Leben seiner Tochter besorgt war. Was hätte er anderes tun sollen, als den Forderungen nachzukommen?«

Auf Sanders weitere Frage, wie denn die Geldübergabe abgelaufen sei, ergriff der Staatsanwalt das Wort: »Das sind bankinterne Vorgänge, die wir hier nicht besprechen sollten. Jedenfalls war es so, wie von Herrn Zeller bereits dargelegt: Im Tresor war bei Weitem nicht so viel Geld wie gefordert, weshalb man auf die Landeszentralbank hat zurückgreifen müssen.« Der Staatsanwalt lenkte die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema. Man werde noch im Laufe des Spätnachmittags mithilfe der Opfer von den Tätern Phantombilder anfertigen lassen, die dann sofort den Redaktionen gefaxt würden. Außerdem sei für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führten, eine Belohnung in Höhe von 150.000 D-Mark ausgesetzt.

Sander hatte noch eine Frage: »Waren die Nummern der Geldscheine eigentlich registriert? Dann wäre es für die Täter ja wohl schwierig, das Geld irgendwo auszugeben oder anzulegen.«

Wieder antwortete der Staatsanwalt, ohne zu zögern: »Sie werden verstehen, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt dazu nichts sagen.«

Sanders Eindruck, dass allerhand verschwiegen werden sollte, verfestigte sich.

19

Noch nie hatte es vermutlich im Lokalteil der örtlichen Zeitung eine so fette Überschrift über mehrere Spalten hinweg gegeben. An diesem Dienstag lautete sie: Bankdirektor und Tochter als Geiseln. Damit war kurz und knapp die ganze Dramatik umrissen. Den Artikel umgaben Fotos: ein Porträt des Bankiers sowie jeweils ein Bild von dessen Privathaus und dem weißen Mercedes, den die Täter gegenüber der Feuerwache abgestellt hatten. Dazu Phantomzeichnungen mit den Köpfen der beiden Haupttäter: Sonnenbrillen, Bärte, volles Haar, einer mit Polizeimütze. Sander hatte seinem Text die Angaben der Polizei hinzugefügt, wonach ein Täter Hochdeutsch mit nordbadischem Akzent gesprochen hatte. Gesucht würden ferner Zeugen, die in der Nacht zum Montag in der Göppinger Dornierstraße einen hellen Mittelklassewagen, möglicherweise einen weißen Audi 100, mit Waiblinger Kennzeichen gesehen hätten. Der genannte Bereich, das wusste Sander, grenzte direkt an den Tatort an.

Sander war an diesem Dienstagvormittag viel früher als üblich in die Redaktion geeilt. Es würde noch viel zu tun geben. Mittlerweile meldeten sich unzählige auswärtige Medien, die jetzt auch auf den ungewöhnlichen Kriminalfall aufmerksam geworden waren und Informationen und Fotos erbaten.

Der stellvertretende Redaktionsleiter Manfred Grüninger, der als Frühaufsteher galt, war oft schon um 6 Uhr in der Redaktion, was bei den üblicherweise notorischen Spätauf­stehern, zu denen Journalisten im Allgemeinen gezählt werden, meist unverständliches Kopfschütteln auslöste. Aber Grüninger wollte schon frühmorgens von der nahen Wetterwarte Stötten wissen, wie tief in der Nacht die Temperatur gefallen war, und mit welchen klimatischen Gegebenheiten man die nächsten Tage rechnen müsse.

Im Übrigen wurde Grüninger nachgesagt, nicht nur das Gras wachsen zu hören, sondern noch so manches mehr. Mit ihm hatte Sander schon immer einen guten Lehrmeister zum Thema Recherchieren gehabt. Beide verband sie die Lust, sich nicht abwimmeln zu lassen und niemals aufzugeben. Man kriege alles raus, wenn man nur wolle, lautete ihr Motto. Allerdings brauchte es dazu viele Kontakte und noch mehr Geduld – also Zeit. Kein Telefonat war dann zu aufwendig. Wenn es sein musste bis ins tiefste Afrika. Sander empfand es als wohltuend, dass bisher niemand von der Geschäftsleitung die hohen Telefonkosten moniert hatte. Und Redaktionsleiter Doktor Wolfgang Schmauz, ein charmanter Journalist der alten Schule und die Seriosität in Person, wusste die akribische Recherche zu schätzen. Er selbst hielt sich meist im Hintergrund und trug wohl zum Zeichen seiner leitenden Funktion in der Redaktion stets einen weißen Arbeitskittel. Weshalb man ihn liebe-, aber auch respektvoll, den »weißen Riesen« nannte.

Noch war die Medienwelt in der Provinz eher behäbig und in dieser Zeit, Anfang der 80er-Jahre, noch ziemlich überschaubar und vergleichsweise bieder eingestellt. Es gab keine Privatradios, keine privaten Fernsehstationen.

Sander, als Lokaljournalist auch fürs Kriminelle und die Justiz zuständig, bohrte gleich in diesen frühen Vormittagsstunden nach, stieß jedoch bei Staatsanwaltschaft und Polizei auf eine Mauer des Schweigens. Der neue Pressesprecher der Göppinger Polizeidirektion musste ehrlicherweise und zerknirscht eingestehen, dass auch er von den Ermittlern aus Stuttgart nicht ausreichend informiert wurde. Sander musste deshalb rasch erkennen, dass auch seine guten Kontakte in Polizeikreise zu keinen weiteren Informationen führten. Am meisten ärgerte ihn, dass er am gestrigen Vormittag zwar im Göppinger Polizeirevier gewesen war, aber nichts von dem Großeinsatz mitbekommen hatte, der sich zu dieser Zeit gerade anbahnte.

Sein an Dienstjahren und Erfahrung älterer Kollege Manfred Grüninger, um die 50, ein bodenständiger Journalist, der sein Handwerk verstand wie kaum ein anderer, durfte mit Fug und Recht als investigativer Journalist bezeichnet werden, obwohl dieser Begriff damals noch nicht geläufig war. Grüninger fühlte sich von den dürren Worten einer Pressemitteilung der zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart richtiggehend angespornt, den Ablauf des Kidnappings detailgenauer zu recherchieren.

Grüninger, der alte Fuchs, brachte jetzt sogar das Kunststück fertig, den Bankchef zu einem Interview zu überreden. Auch im Hinblick darauf, etwaigen Verschwörungstheorien vorzubeugen, so hatte der Journalist sein Ansinnen begründet. Denn der geradezu filmreife Fall heizte bereits seit gestern Abend die Gerüchteküche kräftig an. Außerdem war wohl von offizieller Seite einiges verschleiert und nebulos dargestellt worden.

Am frühen Nachmittag saßen Grüninger und Sander im Büro von Seifritz. Noch auf der Herfahrt hatten sich die beiden Journalisten über die Vorgehensweise abgestimmt: möglichst einfühlsam, nicht allzu direkt, aber doch mit dem Wunsch, etwas mehr Einzelheiten zu erfahren, sprich: Persönliches.

Seifritz ließ Kaffee bringen und zeigte sich gegenüber den Fragen aufgeschlossen. Er wirkte zwar blass und erschöpft, schien jedoch den Ablauf des Überfalls sachlich und nahezu emotionslos schildern zu können. »Ich bin froh, dass alles ohne Menschenopfer vorübergegangen ist«, sagte er schließlich.« Und fügte an: »Aber für meine Tochter war es ganz schlimm.«

Groß sei seine Sorge auch gewesen, weil die Gangster gedroht hatten, es werde im Schalterraum ein Blutbad geben, falls sie nicht mit dem Geld sicher aus dem Gebäude wieder herauskämen. Sie hätten erklärt, es würden in den Morgenstunden Personen mit Handtaschen auftauchen, in denen Bomben und Granaten versteckt seien. Außerdem hätten sie behauptet, im Auftrag einer Organisation zu handeln.

Und auf die Frage von Sander, wie er denn diese Stunden der Ungewissheit nervlich überstanden habe, wurde er für einen Moment nachdenklich und sagte: »Das wird sich erst zeigen. Dass ein solcher Vorgang nicht an den Kleidern hängen bleibt, ist klar.«

Was jedoch die Übergabe des Geldes anbelangte, also das Geschehen im dritten Untergeschoss, blieb Seifritz wortkarg, flüchtete sich in allgemeine Formulierungen und erklärte, dass es sich um bankinterne Abläufe handle. Allerdings zeigte er sich davon überzeugt, dass zumindest einer der Täter sehr gute Bankkenntnisse haben müsse und offensichtlich auch mit dem Gebäude vertraut sei.

Grüninger riskierte eine Feststellung: »Demnach könnte es durchaus sein, dass der Täter aus dem Hause stammt?«

Seifritz atmete tief durch.