Die Gentlemen-Gangster

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10

Seifritz hatte sich auch nach der Rückkehr Lackners strikt an die Anweisung der Kidnapper gehalten, nicht vor 10 Uhr Alarm zu schlagen. Sein Stellvertreter, den er gegen 9.30 Uhr in das Verbrechen einweihte, forderte die sofortige Einschaltung der Polizei. Seifritz wehrte aus Sorge um die Tochter zunächst ab und bekam spontane Schützenhilfe von Sekretärin Karin Rüger, die den stellvertretenden Sparkassendirektor beherzt am Arm packte und davon zurückhielt, die Polizei zu rufen.

Doch letztlich rangen sich die beiden Männer dazu durch, den örtlichen Leiter der Polizeidirektion, Josef Walser, zu einem Gespräch herzubitten. Möglichst ohne großes Aufsehen.

In dem verschachtelten Gebäudekomplex der Göppinger Polizeidirektion war gerade die montägliche Frühbesprechung zu Ende gegangen, als die Vorzimmerdame von Direktor Josef Walser ein Gespräch von der Kreissparkasse zu ihm weiterleitete. Er vernahm eine Frauenstimme, die ihn ohne lange zu zögern im Befehlston anwies: »Sie sollen um 10 Uhr kommen. Herr Seifritz und der Landrat warten auf Sie.« Die Anruferin wartete keine Nachfrage ab, sondern wiederholte mehrmals: »Um 10 Uhr. Aber keine Minute früher.«

Walsers Versuch, einen Grund für diese seltsame Aufforderung zu erfahren, blieb erfolglos. Die Anruferin beendete das Gespräch. Walser, ein groß gewachsener hagerer Mann, der seit 1973 die Polizei in Göppingen leitete, spürte, dass etwas nicht stimmte, wie er Augenblicke später seinen Kollegen Karl Geiger, den Leiter der Kriminalpolizei, wissen ließ. Für einen kurzen Moment war Walser zwar über den Befehlston aus der Kreissparkasse leicht verstimmt gewesen, wonach er keine Minute früher als 10 Uhr kommen dürfe. Dann aber überwog die Sorge, dort könne etwas im Gange sein, das sofortiges Handeln erforderte. Er sah auf die Uhr: kurz nach 9.30 Uhr.

Es erschien ihm angeraten, den Kripochef zu dem Termin mitzunehmen. Noch auf der knarrenden Holztreppe in den Hof hinunter begegneten sie dem Leiter der Schutzpolizei und dem jungen Oberkommissar Jürgen Holder, der erst vor vier Monaten zum Leiter der neu gegründeten Stelle des Sachbearbeiters für Öffentlichkeitsarbeit – kurz Ö genannt – bestimmt worden war. Walser stoppte die beiden, die zu einem Arbeitsessen mit dem Bürgermeister der Landgemeinde Gruibingen gehen wollten. Bei Schwäbischen Kutteln sollte die polizeiliche Vorgehensweise fürs Dorffest besprochen werden. Daraus wurde jetzt nichts. Walser erklärte kurz, dass sie sich möglicherweise auf einen größeren Einsatz vorbereiten müssten.

11

Dass sich im Nebengebäude zu diesem Zeitpunkt der Gerichts- und Polizeireporter der einzigen Tageszeitung vor Ort, der Neuen Württembergischen Zeitung, kurz NWZ, aufhielt, konnten Walser und Geiger nicht ahnen. Georg Sander, eines der jüngsten Mitglieder der Lokalredaktion, pflegte ein gutes Verhältnis zur Polizei und hatte an diesem trüben Märzmontag die Fahrt zum Verlagshaus für einen kurzen Besuch im Göppinger Polizeirevier unterbrochen. Jetzt, in den frühen 80er-Jahren, als es noch keine privaten Radio- und Fernsehstationen gab und in dieser Stadt mit ihren knapp 55.000 Einwohnern auch kein anderes täglich erscheinendes gedrucktes Medium, war Sander der Einzige, der hier über kriminelle Ereignisse berichtete.

Entsprechend bescheiden war auch der Andrang bei behördlichen Pressekonferenzen. Meist saß ein Journalist der Tageszeitung ganz allein einer ganzen Gruppe von Vertretern der Polizei gegenüber. Wenn die jährlichen Unfall- und Kriminalstatistiken vorgestellt wurden – endlose Zahlen und Prozente, beinahe heruntergebrochen bis ins letzte Kaff – versuchte Sander verzweifelt und meist vergeblich, dem trockenen Material etwas Spannendes abzugewinnen.

Es kam auch höchst selten vor, dass sich auswärtige Journalisten für etwas interessierten, was hier, zwischen Stuttgart und Ulm, geschah. Das mussten dann schon ganz große Dinge sein – sei es ein kommunalpolitischer Skandal oder ein Mord. Aber derlei Spektakuläres kam doch eher selten vor. Zum Leidwesen von Sander, dem Lokaljournalisten, der zwar kein Sensationsreporter im herkömmlichen Sinne war und auch nicht wirklich nur auf Stories hoffte, die Aufsehen erregten, es aber zunehmend als dröge empfand, stundenlange Gemeinderats- und Kreistagssitzungen über sich ergehen lassen zu müssen. Andererseits freilich, so hatte er schon oft erfahren müssen, waren die Abonnenten der Zeitung eher darauf bedacht, dass man das heimatliche Nest nicht beschmutzte. Wenn er allzu detailliert über Verhandlungen des örtlichen Schöffengerichts berichtete, war er nicht selten von aufgebrachten Lesern heftig kritisiert worden. Ganz zu schweigen, wenn es um große Fälle vor dem Landgericht Ulm ging, wo die schwerwiegenden Verbrechen verhandelt wurden. Nur zu gut war ihm aus den Anfangszeiten seiner Göppinger Tätigkeit ein Mordprozess gegen einen Mann in Erinnerung, der in einem alten Bauernhaus am Rande der Schwäbischen Alb eine ältere Frau vergewaltigt und umgebracht hatte. Allein das Wort Sperma, das Sander erwähnt hatte, weil es dabei um eine wichtige, belastende Spur des Täters gegangen war, hatte einige Leser geradezu entsetzt, was sie in empörten Anrufen beim Redaktionsleiter zum Ausdruck gebracht hatten.

Für Sander war seither klar: Die Leserschaft las zwar mit großer Begeisterung von Mord und Totschlag irgendwo auf der Welt, ja sog dann, wie er zu sagen pflegte, jeden Blutstropfen aus der Illustrierten oder dem Boulevardblatt heraus, aber wenn so etwas in der näheren Umgebung geschah, dann sollte das Heimatblatt geflissentlich Zurückhaltung üben. Dann hörte Sander häufig den Vorwurf, er sei schlimmer als die Bild-Zeitung. Er fragte sich in solchen Fällen, woher die Kritiker, die dieses Boulevardblatt mit Abscheu erwähnten, wohl ihr Wissen darüber bezogen, was schlimmer als die Bild-Zeitung sei.

Ohne mediale Konkurrenz war in diesen Zeiten der Kontakt zur örtlichen Polizei noch unbürokratisch. Sander kannte viele Beamte und ging im Revier ein und aus, zumal zwar die zurückliegenden Jahre des RAF-Terrorismus bereits erste Sicherheitsmaßnahmen erkennen ließen, der Zugang ins Polizeigebäude jedoch meist problemlos möglich war. Sander wusste dies zu schätzen, steckte seine Nase auch nie in Dinge, die ihn nichts angingen, sondern beschränkte seine Besuche auf ein Mindestmaß und kam auch nie unangemeldet.

Inzwischen pflegte er mit einigen Beamten ein freundschaftliches Verhältnis, das auch in private Aktivitäten mündete. So gab es eine Wandergruppe, die sich auf historische Pfade beschränkte und die Schauplätze des Ersten Weltkrieges in den Vogesen aufsuchte, geführt von einem Polizeibeamten, der sich auch fundiert mit dem deutsch-französischen Krieg in den 70er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts auseinandersetzte. Sander war einige Male bei solchen Exkursionen dabei gewesen und hatte in der zerschundenen Landschaft die Überreste dieser schrecklichen Zeit gesehen: Bunker, Stacheldraht, Munition, die endlose Reihe von Soldatengräbern.

An diesem Märzvormittag hatte er über eine neue Exkursion, die für den Herbst geplant war, sprechen wollen. In einem Büro, schräg gegenüber der Wache, saß er zwei altgedienten Beamten gegenüber, die er ihres bodenständigen und unkomplizierten Umgangs wegen sehr schätzte. Doch irgendetwas, so schien es ihm, war heute anders – als sei den beiden sein Besuch unangenehm. Der Ältere, ein großer, bärenstarker Typ, verließ einige Male den Raum und schloss nachdrücklich die Tür hinter sich, kam aber sofort wieder zurück, ebenfalls darauf bedacht, die Tür, die üblicherweise einen Spaltweit offen stand, sorgfältig wieder zu schließen. So recht wollte heute kein flüssiges Gespräch aufkommen. Der etwas Jüngere, hager und energiegeladen, war zwar bisher der engagierte Organisator der Vogesen-Exkursionen gewesen, doch an diesem Vormittag ließ er gleich gar kein Gespräch über die geplante Reise aufkommen. »Das können wir später in Ruhe besprechen. Wir haben noch Zeit. Jetzt ist März, und wir planen für September«, sagte er und wiederholte dies sinngemäß mehrere Male.

Sander gab sich damit zufrieden und dachte, dass die beiden heute wohl dienstlich unter Druck stünden. Er verabschiedete sich deshalb schnell und trat in den dunklen und engen Vorraum der Wache hinaus. Dass dort mehr Uniformierte standen als üblich und dass deren Gespräche kurz verstummten, als er an ihnen vorbei zur Ausgangstür ging, kam ihm erst Stunden später seltsam vor.

Dass er soeben hautnah an der größten Geschichte seines Journalistenlebens dran gewesen war, hatte er nicht ahnen können.

12

Es war kurz nach 10 Uhr, als Walser und Geiger in der Chefetage der Kreissparkasse eintrafen und sofort von Sekretärin Rüger in das Büro des Direktors geführt wurden. Die beiden Polizeibeamten, der eine uniformiert, der andere in Zivil, blickten auf vier erschöpft wirkende Männer. Seifritz saß kreidebleich hinter dem Schreibtisch, sein Vize und Landrat Doktor Paul Goes waren von ihren Plätzen auf der Polstergruppe aufgestanden. Auch Lackner, der hinzugerufen worden war, hatte sich erhoben, die zitternden Knie spürend.

Die Atmosphäre frostig, die Begrüßung kurz und knapp. Der Landrat, ein quirliger schlanker Mann, in Ehren ergraut, bot den Beamten mit einer Handbewegung freie Plätze auf Ledersesseln an, und als sich alle gesetzt hatten, sah er sich veranlasst, die Gesprächsführung zu übernehmen. Walser und Geiger lauschten gespannt den Schilderungen und erfuhren, dass die Geiselnehmer inzwischen spurlos verschwunden waren, es aber von Seifritz’ Tochter noch kein Lebenszeichen gab.

Dann versuchte Seifritz selbst, die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Stunden chronologisch darzulegen, immer wieder unterbrochen durch den Hinweis, doch nur aus Sorge um seine Tochter gehandelt zu haben.

 

Die beiden Polizisten hielten sich mit Nachfragen zurück, um dem völlig erschöpften Bankdirektor ausreichend Gelegenheit zu geben, sich alles von der Seele reden zu können, was ihn bedrückte. Schließlich aber versuchten sie einfühlsam, Details zu den Tätern zu erfahren: Aussehen, Sprache, Kleidung. »Die haben sich unkenntlich gemacht«, stellte Seifritz fest. Lackner ergänzte: »Falsche Bärte, vermutlich Perücken. Und dann die Sonnenbrillen.«

Walser resümierte, dass es offenbar so gut wie keine konkreten Ansatzpunkte für eine Fahndung gab. Solange auch der zur Flucht benutzte Mercedes des Sparkassendirektors nicht gefunden wurde, würde man sich mit den Ermittlungen äußerst schwer tun. Außerdem war ohnehin noch Zurückhaltung geboten. Zwar hatte sich Seifritz minutiös an die Bedingung gehalten, nicht vor 10 Uhr die Polizei zu verständen, aber Marion hatte sich bislang nicht gemeldet.

13

Marion stand einige Sekunden lang tief durchatmend vor der Hütte am Waldrand. Für einen Moment verspürte sie unendliche Erleichterung, doch dann befiel sie wieder die dumpfe Sorge um ihren Vater.

Das Tageslicht blendete sie, und die bewaldeten Hänge verschafften ihr Gewissheit darüber, wo sie sich befand: irgendwo im Remstal, das sich vom Großraum Stuttgart in Richtung Aalen zog.

Sie erinnerte sich, heute Früh in der Dunkelheit das Streulicht eines Ortes wahrgenommen zu haben. Vielleicht Schorndorf.

Weil ihre Beine vom langen regungslosen Sitzen schmerzten, wirkten ihre Schritte unbeholfen. Als würde sie vom Unterbewusstsein vor etwas gewarnt, blieb sie sofort wieder stehen, um sich prüfend umzusehen. Doch da war niemand. Auch der Mann nicht, der erst vor wenigen Minuten verschwunden war. Aber die dichten Obstbaumreihen versperrten die Sicht.

Am unteren Ende wurde die steil abfallende Wiese von einem Feldweg begrenzt, der sich durch diese Streuobstwiesenlandschaft weiter abwärts schlängelte.

Marion wollte so schnell wie möglich weg, beschleunigte deshalb ihre Schritte, auch wenn die Füße wehtaten, aber jetzt beflügelt von dem Gedanken, ihrem Vater berichten zu können, dass alles ein gutes Ende genommen habe. Hoffentlich für ihn auch, flehte sie. Sie begann zu rennen, obwohl sie die nach vorne gefesselten Hände in der Bewegungsfreiheit behinderten.

Als drei Personen auftauchten, die ihr entgegenkamen, stoppte sie abrupt ihren Lauf, weil ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss: Komplizen der Gangster?

Augenblicke später fiel ihr ein tonnenschwer Stein vom Herzen: Dem Äußeren nach zu urteilen, waren es wohl harmlose Spaziergänger. Aus Scham, sich als Opfer eines Verbrechens zu erkennen geben zu müssen, ließ sie ihre gefesselten Hände unter der Jacke verschwinden und erkundigte sich nach einer Telefonzelle, ohne in diesem Augenblick dran zu denken, dass sie gar kein Geld bei sich hatte. Doch die Schilderungen der Angesprochenen waren ohnehin wirr und ließen noch eine weite Wegstrecke befürchten, weshalb sie sich bedankte und einfach weiterging. Sie ignorierte die kritischen Blicke und nahm ihren Spurt wieder auf. Als zwischen den Obstbäumen die ersten Häuser in Sicht kamen, war sie fest entschlossen, dort irgendwo zu klingeln, um möglichst schnell telefonieren zu können. Doch in dem Neubaugebiet schien vormittags niemand daheim zu sein. Sie ging von Haus zu Haus, las das Straßenschild »Konnenbergstraße« und war sich noch immer nicht im Klaren, in welcher Gemeinde sie sich befand.

An zwei Häusern hatte niemand geöffnet, auch die Sprechanlagen waren stumm geblieben. Erst beim dritten Gebäude hörte sie gleich nach dem Klingeln Schritte hinter der Tür. Sie verbarg ihre gefesselten Hände, weil sie niemanden erschrecken wollte. Als geöffnet wurde, versuchte sie, einer verdutzten Frau so ruhig wie möglich zu erklären, dass sie entführt worden sei und dringend telefonieren müsse.

Die Angesprochene war von diesen Worten und dem verstörten Verhalten der jungen Frau völlig entgeistert, zögerte für einen Moment und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie deutete irritiert auf das Telefon, das in der Diele auf einer Kommode stand. Marion ging dankend dorthin, blieb aber beim Telefon mit dem Rücken zu der Frau stehen, damit diese nicht sehen konnte, wie sie sich mit gefesselten Händen zitternd abmühte, die Wählscheibe für die Durchwahlnummer zum Büro ihres Vaters zu drehen.

Die Hausbewohnerin war langsam in einen der Räume zurückgegangen, wo zwei Freundinnen, mit denen sie Kaffee getrunken hatte, bereits über die merkwürdige Besucherin rätselten.

Während sich die Telefonverbindung nach Göppingen aufbaute, wurde sich Marion bewusst, dass sie ihrem Vater ihren Aufenthaltsort gar nicht würde nennen können. Sie rief deshalb in Richtung des Zimmers: »Entschuldigung, wo bin ich überhaupt?«

»In Schorndorf, Konnenbergstraße«, kam es zurück.

Es vergingen endlose bange Sekunden, bis sich ihr Vater meldete und sie ihm dies mitteilen konnte.

14

Die kurze Ratlosigkeit, die sich unter den Männern in Seifritz’ Büro breitgemacht hatte, wurde von Chefsekretärin Rüger unterbrochen, die den Direktor ins Vorzimmer rief. Ein wichtiger Anruf, hatte sie gesagt.

Walser und Geiger verfolgten wortlos, wie Seifritz nach draußen ging. Auch Landrat Doktor Goes und der Direktionsvize schwiegen. Lackner hatte sich ohnehin die meiste Zeit zurückgehalten. Bange Minuten verstrichen, bis Seifritz tief durchatmend wieder erschien: »Meine Tochter ist frei.«

Er fühlte sich von der bleiernen Last befreit und endlich an keine Abmachungen mehr gebunden. Ausgelaugt sank er in seinen Bürosessel.

Noch immer fiel es ihm schwer, für das Schreckliche der vergangenen Stunden eine logische Erklärung zu finden. Vielleicht war es sein früherer Beruf als Staatsanwalt, der ihn zur Selbstdisziplin mahnte, was in solchen Momenten bedeutete: kein emotionales Vorgehen. Alles schien gut zu sein: die Tochter in Schorndorf in Sicherheit, Lackner auch wieder hier.

Walser wechselte ein paar Worte mit Landrat und Kripochef und ging ins Vorzimmer, um die Landespolizeidirektion zu verständigen. Der Ort, an dem die junge Frau festgehalten worden war, konnte auch die mögliche Fluchtrichtung der Gangster vermuten lassen: ins Remstal. Routinemäßig löste Walser Alarm Dynamit aus, wie im Polizeijargon eine Großfahndung bezeichnet wurde.

Zwei Stunden, nachdem sich Marion gemeldet hatte, konnte Seifritz sie noch immer nicht in die Arme schließen. Denn trotz des erleichternden Telefonats hatten die Ermittler auf Nummer sicher gehen und zunächst abklären wollen, ob Marion tatsächlich nicht mehr in der Gewalt der Kidnapper war. Viel zu unübersichtlich war die Situation. Die Darstellungen des Bankdirektors und die Schilderungen Lackners, die Walser an die Landespolizeidirektion und an seine Göppinger Kriminalbeamten weitergeleitet hatte, mussten sorgfältig geprüft werden.

Dann ein anonymer Anruf für Seifritz: Eine Männerstimme teilte mit, wo die gekidnappte Tochter zu finden sei. Offenbar wollten die Geiselnehmer sichergehen, dass ihr Opfer unversehrt freikam.

Als die ersten Einsatzkräfte aus Stuttgart im Chefbüro eintrafen, wunderte sich die Sekretärin angesichts der bereits verstrichenen Zeit über die Frage eines der Beamten: »Ist die Fahndung schon eingeleitet?« Tatsächlich war es ihr ohnehin so erschienen, als hätten die Ermittlungen nicht mit dem nötigen Nachdruck begonnen. Aber vielleicht, so überlegte sie, war sie einfach viel zu ungeduldig und von den Ereignissen der vergangenen Stunden nervlich zermürbt.

Immerhin mutete das ziemlich irreale und verworrene Geschehen wie das Drehbuch für einen Thriller an. Niemand hätte bis dahin ein solch raffiniertes und kaltblütig verübtes Verbrechen in der Provinz für möglich gehalten. Und doch sollten sich in diesen Zeiten große Kriminalfälle auf rätselhafte Weise sogar noch häufen.

Kein Wunder, dass es viele Gerüchte gab und hinter vorgehaltener Hand allerlei Verschwörungstheorien kursierten. An den Stammtischen wurden mysteriöse Verbindungen diskutiert und sogar konstruiert. Woran gewiss die häppchenweise und geheimnisvolle Informationspolitik der Behörden nicht ganz unschuldig war. Der örtliche Lokaljournalist Georg Sander, damals gerade 31 Jahre alt, würde noch lange Zeit darüber berichten können.

15

Innerhalb der Polizeidirektion Göppingen verbreitete sich die Nachricht, die Walser von der Kreissparkasse mitgebracht hatte, binnen weniger Minuten. Die Landespolizeidirektion zog die Ermittlungen angesichts der Größe des Falles an sich und bildete eine Sonderkommission, die in Göppingen untergebracht wurde. Streifenwagen durchkämmten das Stadtgebiet und das Umland nach Seifritz’ Mercedes, mit dem die beiden Kidnapper verschwunden waren. Und schon bald ließ sich der Leiter der Sonderkommission, Hartmut Zeller, in Begleitung zweier Kollegen von dem erschöpften Bankdirektor vor Ort die Situation schildern. Seifritz saß, von den Ereignissen der letzten 18 Stunden gezeichnet, auf seinem Bürosessel, während die Beamten und Lackner auf der Besprechungscouch Platz genommen hatten und die Sekretärin Kaffee brachte. Dem Bankchef fiel es sichtlich schwer, mehrfach den chronologischen Ablauf zu wiederholen, während seine Gedanken um seine Tochter Marion kreisten, mit der er zwar am Telefon gesprochen hatte und die von der Polizei hätte abgeholt werden sollen. Aber die Ermittler hatten beschlossen, behutsam vorzugehen und zunächst einige starke Einsatzkräfte zu der besagten Adresse zu schicken, weil angesichts des kaltblütigen Vorgehens der Gangster nicht auszuschließen war, dass sich dort die Täter mit ihr verschanzt hatten. Immerhin hätte die junge Frau auch von den Kidnappern zu dem Telefonat mit ihrem Vater gezwungen worden sein können.

Die dortige Hausbewohnerin war von den Schilderungen Marions verstört und völlig verunsichert. Als endlich Polizisten an der Haustür erschienen, ließ sie sich vorsorglich deren Dienstausweise zeigen. Sie wollte nicht auch noch Opfer falscher Ermittler werden. Allerdings hatte sich die Lage bereits entspannt, nachdem der anonyme Anruf mit dem Hinweis auf das Versteck eingegangen war.

Es war bereits früher Nachmittag, als Marion nach einer Tasse heißem Kaffee völlig in sich versunken in einem Streifenwagen saß und Richtung Göppingen gebracht wurde.