Die Gentlemen-Gangster

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Seifritz fühlte den Satz wie einen Stich in die Seele. »Ich möchte Sie wirklich bitten, meiner Tochter nichts anzutun«, presste er flehend hervor, ergriffen von der unbezähmbaren Angst, das Mädchen und er stünden kurz vor dem Tod.

»Ihrer Tochter geschieht nichts. Sobald wir das Geld haben, ist sie frei«, bekam er wieder zur Antwort, aber für ihn klang es nicht überzeugend. Er hatte Mühe, die wild rotierenden Gedanken zu sortieren. »Es könnte aber sein, bei der LZB wird jemand misstrauisch und versucht, mich telefonisch zu kontaktieren.«

»Wird er nicht«, erwiderte der Gangster ungerührt. Wieder schien es so, als könne das Verbrechen gar nicht anders als geplant ablaufen.

Sie standen sich mit verschränkten Armen gegenüber, schweigend, abwartend, immer wieder auf die Armbanduhren schauend. Alle paar Sekunden blinzelte der Räuber durch den schmalen Türspalt nach draußen, wo Rilke und Lackner, bewacht von dem Uniformierten, noch immer schweigend mit den Geldscheinbündeln beschäftigt waren. In der Ledertasche musste nachher noch Platz für zwei Millionen sein.

Der Uniformierte nickte den beiden Bankangestellten zu: »Gut gemacht. Sehr gut. Aber jetzt müssten die Boten doch bald auftauchen, oder wie sieht das aus?«

Die Männer versuchten, den unruhig gewordenen Verbrecher zu beruhigen. Rilke deutete auf die Geldtasche: »Da sind jetzt exakt 689.500 Mark drin.« Lackner ergänzte: »Das Restliche, was wir noch im Tresor haben, müssen wir drin lassen, weil wir sonst für die Kassierer hier im Hause nichts mehr hätten. Das würde auffallen.«

Weitere bange Minuten verstrichen, bis endlich die Aufzugstür und näher kommende Schritte zu hören waren. Für den Gangster ein paar Schrecksekunden. Alles ging so schnell, dass er keine Chance mehr hatte, nach nebenan ungesehen im Archivraum zu verschwinden. Die beiden Geldboten tauchten auf und blieben wie erstarrt stehen, als sie durch die Sicherheitsscheibe neben den beiden Bankangestellten den Uniformierten mit der Maschinenpistole erblickten. Lackner wollte die spannungsgeladene Situation entschärfen, kam heraus, ließ die völlig verdatterten Boten eintreten und nahm die Geldtasche entgegen. Obwohl so gut wie nichts gesprochen wurde, war den Ankömmlingen sofort klar, was geschehen war. Einer von ihnen, ein jüngerer Mann, deutete mit einer Geste unmissverständlich an, dass er nicht gewillt war, den Gangster kampflos mit dem Geld entkommen zu lassen. Dieser mutige Widerstand war jedoch schnell gebrochen, als der Uniformierte zu seiner umgehängten Uzi griff und den Lauf blitzartig auf ihn richtete. Erst jetzt schien der Geldbote den Ernst der Lage zu begreifen, verharrte in der Bewegung und trat mit seinem Kollegen vorsichtig ein paar Schritte zurück.

Lackner und Rilke hatten in aller Eile damit begonnen, die herbeigeschafften Millionen in die vorbereitete Geldtasche umzusortieren. Sie wollten das Drama so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Beklemmende Stille hatte sich breitgemacht, als plötzlich von außerhalb des Tresorraums erneut beunruhigende Geräusche zu vernehmen waren: Aufzug, Schritte.

»Wer kommt da? Wer ist das?«, entfuhr es dem Gangster erschrocken, während die Geldboten noch ein paar Schritte zurückwichen, als wollten sie sich aus der Schusslinie bringen. Unterdessen verfolgten Seifritz und der andere Verbrecher angespannt durch einen schmalen Türspalt des Archivs, was sich anbahnte.

Rilke sah zu Lackner und fühlte sich zu einer Erklärung gezwungen: »Wahrscheinlich kommt ein Kassierer, der Geld braucht.« Seine Stimme klang erstaunlich fest.

»Noch einer?«, fragte der Räuber schnell und war mit zwei, drei Schritten an der Archivtür, um dort verschwinden zu können.

»Normaler Vorgang«, erklärte Rilke, während der Gangster die Tür zum Archiv aufdrückte, wo ihm sein Komplize und Seifritz respektvoll Platz machten.

Ein paar Sekunden später tauchte draußen ein junger Bankangestellter auf, korrekter Anzug, Krawatte. Für einen kurzen Moment war er verwundert, neben Rilke auch Lackner und die Geldboten vorzufinden. Doch die beiden Verantwortlichen für die Hauptkasse täuschten Routinearbeit vor, blickten nur kurz auf, und Rilke fragte mit gespielter Gelassenheit: »Sie brauchen wie viel?« Lackner blätterte in einigen Unterlagen und war darauf bedacht, dass seine zitternden Hände die innere Unruhe nicht verrieten.

Den jungen Kollegen beschlich zwar beim Anblick der prall gefüllten Geldtasche und der verängstigt dreinschauenden Geldboten ein merkwürdiges Gefühl, doch er ließ es sich nicht anmerken und sagte emotionslos: »Ich sollte 30.000 haben.« Worauf ihm Lackner mit einem beherzten Griff in die vor ihm auf dem Tisch stehende Transporttasche schnell einige Geldbündel vorzählte und sich Rilke mit der schriftlichen Abwicklung befasste. Währenddessen wandte sich Lackner beiseite, um die nun in der Tasche fehlende Summe mit einigen Geldbündeln aus dem Tresor wieder aufzufüllen. Alles ging so fix, dass der junge Bankangestellte diesen etwas seltsam anmutenden Austausch nicht zur Kenntnis nahm.

Und für die im Archiv versteckten Männer war der schmale Blinkwinkel durch die angelehnte Tür viel zu klein, um das gesamte Geschehen überblicken zu können. Nachdem Rilke mit dem Kollegen aus den oberen Geschäftsräumen die schriftlichen Formalitäten abgewickelt hatte, verschwand der junge Mann mit einem kurzen Abschiedsgruß aus dem Tresorraum, ohne die eingeschüchterten Geldboten noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.

Kaum war das Geräusch des abfahrenden Lifts zu vernehmen, wagten sich die Gangster mit Seifritz aus dem Versteck. »Na also«, resümierte der Uniformierte und sah den völlig erschöpften Bankdirektor an. »Wenigstens knappe drei Millionen. Seien Sie froh, dass wir uns damit zufriedengeben.«

»Und wann kommt meine Tochter frei?«, fragte der Bankchef angespannt, denn nur dies war ihm jetzt wichtig.

Die Antwort gab der zivil Gekleidete: »Sobald wir weg sind.« Er schnappte sich die Geldtransporttasche, während sein Komplize, an den Bankdirektor gewandt, entschied: »Herr Seifritz, Sie haben genügend mitgemacht, jetzt wird uns Herr Lackner begleiten.«

Alle Augen, auch die der erstarrten Geldboten, waren auf Lackner gerichtet, der sich plötzlich wie vom Donner gerührt fühlte. »Begleiten«, hörte er es im Kopf nachhallen. Wie bitte?, wollte er sagen, brachte aber keinen Ton aus der trockenen Kehle. Er und Seifritz sahen sich entgeistert an, als suche jeder beim anderen Halt. Doch der MP-Träger blieb dabei: »Sie kommen mit«, sagte er und gab mit einer Kopfbewegung in Richtung Lackner zu verstehen, dass dieser gar keine andere Wahl hatte. Und es klang beinahe wie eine Bitte, als er dem in Gedanken versunkenen Seifritz sagte: »Die Autoschlüssel.«

»Und meine Tochter? Was ist jetzt mit meiner Tochter?«, stammelte der Bankchef, während er in den Hosentaschen aufgeregt nach dem Wagenschlüssel fingerte und ihn dem Uniformierten aushändigte.

Der andere wurde deutlich: »Ihre Tochter wird bald wieder hier sein. Aber nur, wenn Sie nicht vor 10 Uhr die Polizei rufen.« Er sah auch zu den Geldboten hinüber. »Haben wir uns verstanden? Nicht vor 10 Uhr. Denken Sie daran.« Er hielt die Geldtasche mit den knapp 2,7 Millionen D-Mark umklammert und entfernte sich langsam. Lackner zögerte, wurde jedoch mit einer höflichen Handbewegung von dem Uniformierten aufgefordert vorauszugehen.

Seifritz und Rilke beobachteten atemlos die Szenerie und nickten dem völlig verstörten Angestellten zu – eine Geste der Verzweiflung, als wollten sie ihn ermuntern, sich widerstandslos in sein Schicksal zu fügen. Für einen Moment schien eine schwere Last von ihnen zu fallen. Aber nur kurz. Denn augenblicklich übermannte Seifritz wieder die Angst um die Tochter und die Sorge, es könnte noch etwas Unberechenbares geschehen. Die Gefahr dafür war groß, und vor allem: Was hatten sie mit Lackner vor?

Langsam verhallten die Schritte, die Tür des Lastenaufzugs schwenkte auf, Sekunden später schloss sie sich wieder. Eine beklemmende Stille erfüllte den Raum. »Und jetzt?«, wagte Rilke, der regungslos dastand, seinen apathisch wirkenden Chef zu fragen.

Schweigen. Rilke ließ noch ein paar Augenblicke verstreichen, sah in das fahle Gesicht von Seifritz, dessen Lippen bebten, bis sie endlich ein Wort formten: »Abwarten.«

7

Lackner stand mit weichen Knien im Aufzug und spürte den Atem des Uniformierten, der die Uzi wieder in der Aktentasche verbarg. Der andere Gangster hielt krampfhaft die Geldtasche umklammert und starrte auf den Boden, offenbar darauf konzentriert, die entscheidenden Schritte zur Flucht endlich tun zu können. Als der aufwärts fahrende Aufzug schon nach wenigen Sekunden im zweiten Untergeschoss stoppte, wo Seifritz’ Auto parkte, bemerkte Lackner als Erster, dass etwas nicht stimmte: Die Tür schwenkte nicht auf. Ein technischer Defekt? Eine Falle, durchzuckte es ihn. Hatte jemand die Polizei alarmiert?

»Was soll das?«, wurde der Uniformierte zum ersten Mal richtig ungeduldig und nervös. Lackner drückte erneut die Taste zum zweiten Untergeschoss. Eigentlich hätte der Aufzug vom dritten ins zweite Untergeschoss hochfahren sollen. Jetzt aber schien er irgendwie kurz davor steckengeblieben zu sein.

»Was ist hier los?«, entfuhr es dem Mann mit der Geldtasche und er warf einen zornig-wütenden Blick auf Lackner, dem es schwerfiel, kühlen Kopf zu bewahren. War er jetzt mit den Gangstern gefangen? Würde gleich eine Hundertschaft der Polizei heranstürmen, ihn befreien – mit einer wilden Schießerei? Der Uniformierte klemmte sich die Aktentasche zwischen die Schenkel und versuchte, die Tür mit bloßen Fingern gewaltsam zu öffnen, doch ohne Werkzeug hatte er keine Chance.

Lackner befürchtete, der Gangster könnte jetzt die Nerven verlieren und sich mit der Maschinenpistole den Weg freischießen. Fast gleichzeitig mit diesem schrecklichen Gedanken wurde er sich der Ursache für den vermeintlichen Defekt bewusst: Vor dem Aufzug parkte noch der gepanzerte Geldtransportwagen. Solange dieser hier in der Sicherheitsschleuse stand, öffnete sich die Tür des Lifts nicht. »Das geht nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Der Geldtransporter steht noch vor der Tür. Wir müssen ins erste Obergeschoss fahren und dann die Treppe runter.« Noch bevor einer der Geiselnehmer etwas antworten konnte, drückte Lackner die entsprechende Taste, worauf sich der Lift wieder in Bewegung setzte.

 

»Wenn das ein Trick ist …«, drohte der Uniformierte, wurde aber von dem aufgeregten Lackner schnell unterbrochen: »Ist es nicht. Wir kommen nur raus, wenn wir übers Treppenhaus gehen.«

Der falsche Polizist presste die Aktentasche mit der Waffe wieder an sich und wechselte einen Blick mit seinem Komplizen.

Im ersten Obergeschoss schwenkte die Tür auf. Lackner hoffte, dass sich niemand auf dem Flur befand. Denn in Begleitung dieser Typen, die alles andere als vertrauenerweckend aussahen, könnte es sehr schnell zu unberechenbaren Reaktionen kommen.

Aber da war niemand. Lackner, jetzt dazu entschlossen, die Gangster so schnell wie möglich loszuwerden, eilte voraus zu der nahen Tür ins Treppenhaus, das wie ein halbrunder Turm in die Fassade des mächtigen Gebäudes integriert war. Er stellte erleichtert fest, dass sich auch dort niemand aufhielt. Er hastete nach unten, gefolgt von den beiden Kidnappern, deren Schritte auf den Steinstufen von hinten an sein Ohr hallten. Noch immer waren keine anderen Personen aufgetaucht. Die Aufschrift »Tiefgarage U2« an der Betonwand verhieß für einen Augenblick Entspannung. Er öffnete nacheinander zwei schwere Metalltüren, dann standen sie in der mit Leuchtstoffröhren erhellten Tiefgarage, aus der die Gangster vor über eineinhalb Stunden gekommen waren. Für einen Moment hielten sie inne, um an der Reihe der geparkten Autos entlangzuschauen, doch auch hier schien niemand zu sein. Der Uniformierte stürmte voraus zu Seifritz’ Mercedes, entriegelte die Türen und setzte sich hinters Steuer, während Lackner neben ihm Platz nehmen musste und der Gangster sich mit der Geldtasche dahinter in den Fond zwängte.

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Lackner vorsichtig.

»Nur ein paar Minuten noch«, bekam er von dem falschen Polizisten zur Antwort, der den Motor startete und den Rückwärtsgang einlegte, um den Mercedes aus der Parkbucht heraus zu rangieren. Kaum hatte sich der Wagen für ein paar Meter in Bewegung gesetzt, trat der Geiselnehmer beim Blick nach hinten heftig auf die Bremse. Rote Lichter. Die drei Männer in Alarmstimmung. »Hinter uns fährt auch einer rückwärts raus«, stellte der hinten sitzende Räuber verärgert fest.

Lackner spürte zum wiederholten Male an diesem Tag den Schock in allen Gliedern. Also doch Polizei. Wollte jetzt ein Spezialkommando die Ausfahrt blockieren? Ohne Rücksicht darauf, dass er noch in der Gewalt der Gangster war? Augenblicke eisigen Schweigens. Die Rücklichter des anderen Autos verrieten, dass es sich nicht bewegte.

»Wer ist das?«, fauchte der Uniformierte so unfreundlich wie bisher noch nie.

»Ein Wagen des Vorstands«, presste Lackner hervor. »Lassen Sie ihn raus.«

Die Köpfe aller drei Männer waren nach hinten gerichtet. Offenbar wartete der Fahrer des anderen Autos, bis er sicher sein konnte, dass es zu keiner Karambolage kommen würde. Zwei, drei Sekunden später rangierte er rückwärts heraus und verließ dann vorwärts mit einem kurzen Seitenblick auf Seifritz’ Auto die Tiefgarage über die sanft ansteigende Rampe zur Ausfahrt in Richtung Bahnhofsvorplatz.

Lackner atmete auf, die beiden Gangster schwiegen. Der Uniformierte setzte das abrupt gestoppte Ausparken fort, griff zu der Parkkarte, die Seifritz am frühen Morgen in die Mittelkonsole gelegt hatte, und ließ den Mercedes zur Schranke rollen. Als sie sich öffnete und der Wagen ans Tageslicht gelangte, schloss Lackner erschöpft die Augen. Sie hatten es geschafft. Offenbar war die Polizei noch nicht eingeschaltet worden. Es sei denn, es wurde bereits unauffällig observiert. Womöglich vom Bahnhof aus. Wenn dies so war, dann konnte es bei einem etwaigen Zugriff noch gefährlich werden.

8

Marion fror. Obwohl sie in eine Decke gehüllt war und sich auf der hölzernen Bank in eine Ecke kauern konnte, spürte sie die Kälte des Märzvormittags am ganzen Körper. Ihre Hände waren gefesselt, die Beine an den Knöcheln mit Klebeband fixiert. Die durchwachte Nacht, der Schock und das pure Entsetzen ließen sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dazu die Angst um ihren Vater, um dessen Gesundheitszustand sie sich Sorgen machte. Außerdem schmerzten inzwischen ihre Handgelenke, die noch immer in den metallischen Schließen steckten. Der Mann, der sie seit Stunden bewachte, saß ihr schräg gegenüber auf einem Stuhl, schwieg beharrlich und sah nur hin und wieder auf seine Armbanduhr.

Obwohl es draußen längst hell war und durch die morschen Holzwände der Hütte das Frühkonzert der Vögel drang, herrschte in dem muffigen Raum nur gedämpftes Licht. Vor das kleine und einzige Fenster waren vergilbte und zerfetzte Vorhänge gezogen, an den Wänden lehnten Gartengeräte, die gewiss seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden waren. Marion hatte es inzwischen aufgegeben, ihren maskierten Bewacher nach dem weiteren Fortgang des Verbrechens zu fragen. Er schwieg beharrlich.

Irgendwann hatte sie es erschöpft aufgegeben, weitere Fragen zu stellen. Unter dem Handtuch, mit dem er ihren Kopf abgedeckt hatte, konnte sie ihn nur durch einen winzigen Spalt hindurch sehen. Er schien an ihrem Schicksal gänzlich uninteressiert zu sein und nur seinen Auftrag erledigen zu wollen, der da hieß, sie zu bewachen.

Nicht einmal auf die Frage nach der Uhrzeit wollte er eingehen. Doch Marion schien es inzwischen, als seien mehrere Stunden vergangen. Sie lauschte angestrengt in die Stille, um herausfinden zu können, wo sie sich befand. In der Ferne waren Autogeräusche zu hören und seit dem Morgengrauen häufig auch Flugzeuge. Dies konnte darauf hindeuten, dass sie tatsächlich irgendwo ins Remstal verschleppt worden war, wo an- und abfliegende Flugzeuge des nahen Stuttgarter Flughafens erfahrungsgemäß sehr tief flogen.

Nachdem der Gangster immer häufiger auf seine Armbanduhr geschaut hatte, nervös und zunehmend unruhiger, erhob er sich schließlich und sagte: »Okay.« Als habe ihm jemand ein Zeichen gegeben. Doch da war niemand gewesen. Er verließ die Hütte und verriegelte sie von außen.

Marion verharrte noch für ein paar Sekunden, versuchte, von draußen ein Geräusch wahrzunehmen, aber alles blieb still. Kein Auto. Nichts. Vielleicht, so überlegte sie, hatte sich der Räuber mit einem Fahrrad davongemacht.

Jetzt wollte sie schnell handeln. Mit den gefesselten Händen schob sie die Decke beiseite, sodass auch das Handtuch auf den Boden fiel, und begann umständlich, das Klebeband zu lösen, das seit Stunden ihre Knöchel zusammenpresste. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich tatsächlich davon befreien konnte. Doch ihre Beine schmerzten, sodass sie sich nur mühsam erheben konnte, um zur Tür zu gehen. Die sich aber trotz heftigen Rüttelns nicht öffnen ließ.

Das Fenster. Natürlich. Es musste ein Leichtes sein, dort hinauszusteigen. Sie schob die Vorhänge beiseite und erkannte zufrieden, dass nicht nur eine fest eingebaute Glasscheibe zum Vorschein kam, sondern ein Fensterflügel, den man öffnen konnte.

Weil ihre Hände nicht auf den Rücken, sondern an der Körpervorderseite gefesselt waren, konnte sie mit ein paar Verrenkungen immerhin erfolgreich den Griff erreichen. Der morsche Fensterrahmen ließ sich nach innen schwenken, und die Öffnung ins Freie war groß genug, um die Hütte verlassen zu können – trotz der Handschellen, denn Marion war schlank und sportlich, vor allem aber jetzt motiviert genug, um ihrem Gefängnis auf diese Weise zu entkommen.

9

Der Uniformierte war vorsichtig aus der Tiefgarage herausgefahren, um, wie es die Fahrtrichtung vorschrieb, nach links abzubiegen, vorbei am Hauptpostamt. An der Fußgängerampel wartete ein halbes Dutzend Passanten, ohne zu ahnen, wer da gerade vorbeifuhr.

»Wo wollen Sie denn hin?«, wollte Lackner zum wiederholten Male zaghaft wissen und sah sich nach allen Seiten um.

»Nicht weit. Sie dürfen gleich raus«, brummte der Mann hinterm Steuer und fuhr langsam die Gartenstraße entlang, folgte dann aber nicht der abknickenden Vorfahrt nach links zur Schützenstraße, sondern behielt die Geradeausrichtung bei – in einen eher abgelegenen Bereich. Lackner beschlich wieder ein bitteres Unbehagen. Denn hier, abseits des belebten Zentrums, würde es keine Zeugen geben, falls die Verbrecher ihm etwas antun wollten. Ein Wechselbad der Gefühle überflutete ihn: Einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass dieser Albtraum nun ein Ende nahm, andererseits jedoch könnte sich beim Auftauchen eines Streifenwagens die Situation sofort verschärfen und außer Kontrolle geraten.

Tief von diesen Gedanken ergriffen, holte ihn die Stimme neben ihm in die Realität zurück: »Sie können jetzt aussteigen«, sagte der Uniformierte völlig unerwartet und stoppte den Wagen kurz vor der Einmündung Betzstraße. Lackner war sich der Tragweite des Gesagten in diesem Moment nicht bewusst. Aussteigen. Hatte der Gangster »aussteigen« gesagt? Er sah in die Sonnenbrille des Fahrers, zweifelte den Bruchteil einer Sekunde, ob das ernst gemeint war, griff dann aber schnell zum Türgriff und verließ wortlos den Mercedes.

Kaum war die Wagentür wieder ins Schloss gefallen, brauste der Wagen, links in die Betzstraße abbiegend, davon. Lackner fühlte sich wie benommen. Träumte er? Was war jetzt auf einmal geschehen? Er sah apathisch dem Auto nach, das zwei Querstraßen weiter dann rechts aus seinem Blickwinkel verschwand.

War jetzt alles ausgestanden? Lackner schloss die Augen, fühlte, wie eine tonnenschwere Last von ihm fiel, wusste aber nicht, ob er sich darüber schon freuen sollte. Dass er Opfer eines der größten Bankraube der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen war, hatte er noch lange nicht verinnerlicht. Er musste nur an seinen Chef und dessen Tochter denken. Erst wenn beide frei sein würden, war der Fall abgeschlossen. Oder doch nicht? Natürlich nicht. Jetzt würden die Kriminalisten unzählige Fragen stellen. Und ganz bestimmt auch der Landrat.