Die Gentlemen-Gangster

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Knapp eineinhalb Stunden, nachdem er weggefahren war, kam der falsche Polizist wieder in Seifritz’ Haus an. Es war inzwischen 5.30 Uhr und noch immer dunkel. »Läuft alles wie am Schnürchen«, beschied er seinem Komplizen mit leicht schwäbischem Akzent. »Jetzt kommt’s nur darauf an, ob die Millionen fließen.«

Seifritz verlangte Auskunft darüber, wohin Marion gebracht worden war.

»Keine Sorge. Sie ist an einem sicheren Ort. Ihr wird nichts geschehen«, bekam er zur Antwort. »Sie müssen nur tun, was wir wollen.«

Zum wiederholten Mal unternahm der erschöpfte und übermüdete Bankchef den Versuch, den Gangstern klarzumachen, dass der geforderte Betrag von fünf Millionen D-Mark kaum zu beschaffen sein würde. Im Tresor des Geldinstituts lagere deutlich weniger. Auch wäre es auffällig, wenn frühmorgens bei der Landeszentralbank, von der es eine Filiale in Göppingen gab, ein solcher Millionenbetrag geordert werde.

»Das ist Ihr Problem«, warf ihm der zivil Gekleidete vor. »Sind Sie nun Bankdirektor oder nicht?«

Schon in der Nacht hatte Seifritz darüber nachgegrübelt, ob er überhaupt befugt wäre, Geld der Bank als privates Lösegeld für seine Tochter zu verwenden. Aber wenn nicht … daran wollte er gar nicht denken. Er konnte in dieser Situation ja unmöglich mitten in der Nacht den Landrat als den allerobersten Chef der Kreissparkasse um Rat bitten. Wie es überhaupt schwierig sein würde, den Überfall geheimzuhalten, wenn er mit den beiden Gangstern noch vor Geschäftsbeginn im Hause auftauchen würde. Außerdem kam er allein ohnehin nicht an Geld. Er brauchte dazu den Hauptkassierer, und die Übergabe müsste im Tresorraum im streng abgeriegelten dritten Untergeschoss vonstattengehen. Dort lieferten die Geldtransporte nach einer Sicherheitsschleuse die Geldtaschen ab.

Wieder die quälende Angst: Wenn im Lauf der nächsten Stunden jemandem in der Bank etwas verdächtig erschien oder jemand Alarm schlug, dann würde er seine Tochter nie mehr wiedersehen. Er spürte von Minute zu Minute, wie ihn die Ungewissheit und die Sorge um das Mädchen zermürbte. Er musste das Geld besorgen. Aber durfte er das wirklich? Konnte er eigenmächtig den Geiselnehmern Millionen aushändigen, die ihm gar nicht gehörten? Es fiel ihm zunehmend schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er fühlte sich müde, erschöpft und ausgelaugt. Die schlaflose Nacht forderte ihren Tribut.

Wieder vergingen qualvolle eineinhalb Stunden. Um 7 Uhr – inzwischen war der Himmel hell geworden – waren die beiden Gangster, denen er im Wohnzimmer gegenübersaß, unruhiger geworden. Der falsche Polizist nickte seinem Komplizen zu, was dieser als Zeichen für den Aufbruch deutete. »Sie fahren«, forderte er den Bankdirektor auf. Seifritz wischte sich trotz des frühen Morgens Schweiß von der Stirn. Er müsse sich noch frisch machen und etwas anderes anziehen, erklärte er, denn er könne unmöglich in diesem Zustand in der Bank auftauchen.

Bewacht von einem der Räuber rasierte er sich flüchtig, warf sich Wasser ins Gesicht und putzte die Zähne. Beim Blick in den Spiegel erschrak er über sein Äußeres. Die Spuren der Horrornacht waren deutlich zu sehen.

»Wir gehen ganz unauffällig raus«, erklärte der falsche Polizist. Und immer wieder die Drohung, zwar ruhig ausgesprochen, aber unmissverständlich: »Denken Sie an Ihre Tochter.«

Die Wohnstraße lag noch immer still in der Frische des kühlen Märzmorgens, als sie das Haus verließen. Der falsche Polizist hielt seine Uzi – die kompakte Maschinenpistole eines israelischen Herstellers – in der Aktentasche verborgen, was ihm beim Einsteigen hinten links in den Mercedes 280 SE einige Verrenkungen abverlangte. Sein Komplize hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Seifritz steckte mit zitternder Hand den Zündschlüssel ins Schloss und fuhr los. Hinter den Fenstern einiger der benachbarten Villen brannte zwar Licht, aber nirgendwo hatte jemand bemerkt, dass soeben eines der größten Bankraub-Verbrechen Deutschlands in die entscheidende Phase ging.

5

Auf der nur knapp einen Kilometer langen Wegstrecke von der Wohnung zur Hauptstelle der Kreissparkasse hatte Seifritz Mühe, sich auf das morgendliche Verkehrsgeschehen in der Innenstadt zu konzentrieren. Beinahe hätte er eine rote Ampel übersehen, worauf ihn der falsche Polizist neben ihm lautstark aufmerksam machte. »Halt – da ist rot.«

»Versuchen Sie ja nicht, einen Unfall zu provozieren«, kam die Stimme des anderen von hinten. »Denken Sie an Ihre Tochter.«

Seifritz, für den es nichts Ungewöhnliches war, lange vor Geschäftsbeginn im Bankgebäude zu erscheinen, steuerte den großen Wagen in die schmale Einfahrt der Tiefgarage hinab, schob die Parkkarte in den Automaten und ließ die Schranke hochgleiten.

»Sie parken dort, wo Sie immer parken«, befahl der Mann mit dem grünen Polizeianorak auf dem Beifahrersitz. Noch immer trugen die Gangster ihre Sonnenbrillen, die sie auch während der Nacht nie abgenommen hatten. Eine Reihe von Leuchtstoffröhren flammte auf, als sie das zweite Untergeschoss erreichten und Seifritz an seinem angestammten Platz parkte.

Die Männer hatten sich in der vergangenen Nacht die Situation im Gebäude exakt schildern lassen und sich sogar den Namen der Chefsekretärin eingeprägt. Demnach gelangte man von der Tiefgarage über das Treppenhaus ins zweite Obergeschoss, wo sich das Büro des Direktors befand. Noch begegneten sie auf dem Weg dorthin niemandem. Seifritz ging durchs menschenleere Vorzimmer und betrat, bewacht von seinen Peinigern, verunsichert sein Büro, das von der Größe her einem verantwortlichen Banker durchaus alle Ehre machte und eine Besucherecke samt lederner Sitzgarnitur aufwies.

Die beiden Räuber sahen sich prüfend um, als wollten sie sichergehen, von keiner Alarmeinrichtung erfasst zu werden. Seifritz sank unterdessen auf seinen Schreibtischsessel, während die Gangster seelenruhig auf der Couch am Besprechungstisch Platz nahmen und ihre Forderung nach fünf Millionen bekräftigten. Seifritz wiederholte, was er die ganze Nacht über beteuert hatte: dass so viel Geld nicht im Tresor lagere und auch nicht unauffällig zu beschaffen sei. Auf die Schnelle könne man allenfalls ein paar 100.000 Mark bei der Landeszentralbank ordern, wie dies jeden Morgen üblich sei.

Doch die Räuber, die bereits in der Nacht von diesen Gepflogenheiten erfahren hatten, blieben hartnäckig. »Dann lassen Sie sich halt etwas einfallen. Sie sind der Chef hier«, gab der Uniformierte gelassen zu verstehen.

Seifritz schloss für einen Moment die Augen. Marion. Er sah ihr ängstliches Gesicht, wie sie ihn heute Morgen angeschaut hatte, als sie weggebracht worden war. Wie sie geheult und gefleht hatte. Nein, er hatte natürlich gar keine andere Wahl, als das Geld zu beschaffen. »Blutbad«, dröhnte es wieder durch seinen Kopf. Sie hatten gestern Abend von einem Blutbad gesprochen, von Bomben in der Schalterhalle, von einem Aufpasser, der von der anderen Straßenseite, vom Bahnhof aus, das Bankgebäude beobachten werde.

Dann beunruhigte ein Geräusch aus dem Nebenraum die beiden Täter. »Wer ist das?«, wollte der Uniformierte wissen, der Seifritz’ Aktentasche auf dem Schoß hielt, während der andere erschrocken aufsprang.

»Meine Sekretärin, die Frau Rüger«, beruhigte Seifritz. »Wir werden das vor ihr nicht geheim halten können.«

»Denken Sie an Ihre Tochter«, mahnte der zivil gekleidete Mann und setzte sich wieder.

Kaum hatte er es gesagt, ging ohne ein vorheriges Klopfzeichen die Tür auf, und eine Frau mittleren Alters hielt überrascht in der Bewegung inne. Ihr Blick war nur auf den Uniformierten gefallen, der links von ihr auf der Couch saß. Für einen Augenblick dachte sie, ihr Chef habe einen verkehrspolizeilichen Verstoß begangen und sei mit einem Strafzettel konfrontiert worden. Sie machte kehrt, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Aber schon Sekunden später ertönte an ihrem Telefon der sogenannte »Sekretärinnenruf«: Ihr Chef bat sie mit gedämpfter Stimme in sein Büro zurück. Energisch, wie sie sein konnte, trat sie erneut ein – und wurde sich der merkwürdigen Situation sofort bewusst: Der Uniformierte, den sie zuvor als Polizisten wahrgenommen hatte, trug eine Sonnenbrille und einen Vollbart. Noch während sie auch den anderen Mann anstarrte, der ebenso seltsam aussah, jedoch zivil mit einem Trenchcoat bekleidet war, erklärte Seifritz schnell: »Die Herren sehen zwar aus, als wenn sie von der Polizei wären, aber dem ist nicht so.« Den Hinweis, sie verlangten für die entführte Tochter fünf Millionen D-Mark Lösegeld, konterte die Sekretärin spontan: »Aber so viel Geld haben wir doch nicht.« Ihr erster Schock war einer gewissen Wut gewichen. Wut und Zorn darüber, dass es die Gangster gewagt hatten, die Tochter ihres Chefs zu kidnappen. »Sie sind doch Verbrecher«, brach es wütend aus ihr heraus, aber gleichzeitig überkam sie ob der eigenen Courage die Angst, diese angespannte Atmosphäre könnte außer Kontrolle geraten. Denn der falsche Polizist hatte in der Aktentasche ihres Chefs eine Maschinenpistole verborgen gehalten, mit der er nun drohend herumfuchtelte.

Für Karin Rüger ein Anblick, der ihr etwas in Erinnerung rief, das mehr als 20 Jahre zurücklag. Plötzlich tauchten Bilder auf, die noch tief in ihrem Unterbewusstsein steckten. Bilder, die sich im jugendlichen Alter beim Lesen ihres ersten Kriminalromans geformt hatten. Es war um einen Banküberfall gegangen, bei dem die Räuber alle Beteiligten erschossen hatten.

Mit einem Mal schien diese Szene lebendig zu werden: Schießerei, Maschinenpistole, zuckte es durch ihren Kopf. Und hier drinnen waren sie von Betonwänden umgeben. Querschläger? Ein panisches Gedankenkarussell. Ohne lange zu überlegen, herrschte sie den Uniformträger an: »Fuchteln Sie nicht mit diesem Ding rum.«

 

Der Angesprochene war über diese unerwartete Reaktion konsterniert. »Da geht kein Schuss los«, erwiderte er missmutig. »Aber damit Sie beruhigt sind, pack ich’s wieder ein.« Er steckte die Waffe zurück in die Aktentasche.

Seifritz hatte das kurze Wortgefecht am Schreibtisch sitzend verfolgt. Seine Sekretärin beobachtete mit Sorge, wie nervös und unruhig er geworden war. »Wollen Sie einen Whisky?«, fragte sie, um die gereizte Atmosphäre zu dämpfen. Seifritz nickte und ließ sich einen Johnny Walker eingießen, dessen Aufbewahrungsort in seinem Büro Frau Rüger genau kannte. Unterdessen beteuerte Seifritz immer wieder, keine fünf Millionen D-Mark besorgen zu können, weil ein solch hoher Betrag gar nicht im Hause aufbewahrt werde.

»Ich kann allein kein Geld besorgen«, stellte er nach einem Schluck Whisky klar und schlug vor, seinen Stellvertreter zu holen.

»Tun Sie das nicht«, mischte sich seine Sekretärin ein. »Je mehr Personen hier auftauchen, desto unübersichtlicher wird die Lage«, gab sie zu bedenken, als wie zur Bekräftigung ihrer Worte Geräusche aus dem Nebenraum die bewaffneten Männer erneut in Unruhe versetzten.

»Das ist meine junge Kollegin, die gerade gekommen ist«, versuchte Frau Rüger zu beschwichtigen.

»Erklären Sie ihr, was los ist. Sie soll niemandem etwas sagen und ganz normal weiterarbeiten«, ordnete Seifritz an, worauf seine Sekretärin die Mitarbeiterin im Vorzimmer instruierte.

Die beiden Gangster schienen sich von der Aufregung nicht anstecken zu lassen. Der falsche Polizist wirkte sogar eher entspannt, als er sich erneut an Seifritz wandte:

»Vielleicht sollte ich Sie noch mal an Ihre Tochter erinnern.« Sein Komplize ließ währenddessen den Entsicherungshebel einer schwarzen Pistole mehrfach klicken.

6

Heinrich Lackner, ein zurückhaltender, ruhiger Bankangestellter, die Seriosität in Person und als stellvertretender Leiter der Schalterhalle auch für die Hauptkasse zuständig, wie im hausinternen Jargon der Tresorraum im dritten Untergeschoss bezeichnet wurde, kam häufig früher als notwendig zur Arbeit. Er parkte seinen Wagen in einem nahen Parkhaus und betrat das mächtige Sparkassengebäude über die Zufahrt zur Tiefgarage, in der nur Kunden und die Vorstände ihre Fahrzeuge abstellen durften. Wie häufig, so galt auch an diesem Märzmontag sein erster Gang der Hauptkasse, die sich unter dem zweiten Untergeschoss der Tiefgarage befand. Ein Lastenaufzug, wie ihn die Angestellten nannten, führte durch alle Etagen, war aber nur für die interne Nutzung gedacht. Mit ihm fuhr Lackner ganz hinunter, wo in den klimatisierten, aber schmucklosen Räumen bereits Hauptkassierer Berthold Rilke einige Aufzeichnungen las. Wie immer prüfte er alle Daten, Zahlen und Anweisungen mehrfach, wie er es als penibler Bankmitarbeiter ein Berufsleben lang gewohnt war. Auch jetzt, kurz vor dem Renteneintritt, hatte er nichts von seiner korrekten Arbeitsweise verloren. Das Geld, das für den täglichen Geschäftsbetrieb droben in der Schalterhalle gebraucht wurde, konnte er jedoch nicht allein aus dem Tresor holen. Dazu bedurfte es eines zweiten Angestellten, und der war Lackner. Die eingespielte Prozedur wiederholte sich deshalb jeden Morgen: Lackner gab in das Zahlenkombinationsschloss die Geheimnummer ein, worauf Rilke mit seinem Schlüssel die schwere gepanzerte Tür öffnen konnte, hinter der sich über Nacht nur ein vergleichsweise geringer Betrag befand. Die beiden Männer wechselten noch ein paar Worte zum gestrigen Sonntag, den Lackner trotz des schlechten Wetters auf einer Wanderhütte bei Gruibingen verbracht hatte, und widmeten sich kurz einer weiteren Routinearbeit: Beide mussten sie den Scheck unterschreiben, mit dem die Geldboten jeden Morgen einen größeren Betrag für den zu erwartenden Tagesbedarf bei der Landeszentralbank-Filiale holen mussten, die sich Luftlinie nur etwa 300 Meter entfernt befand. Heute waren es 700.000 Mark.

»Dann noch einen schönen Tag«, wünschte Lackner seinem älteren Kollegen, der bisweilen nervös werden konnte, wenn nicht alles so lief, wie er es sich vorstellte. Dazu jedoch gab es an diesem Vormittag keinen Anlass.

Lackner bestieg den Aufzug und fuhr zur ebenerdig gelegenen Schalterhalle hinauf, in der sich sein Büro befand. Schon waren auch weitere Angestellte eingetroffen, die sich auf den Geschäftsbeginn vorbereiteten. Lackner machte sich über Akten und Protokolle her, in denen es um einige merkwürdige Überweisungen ging, die bei einem ausländischen Kunden aufgefallen waren. Als er ein paar Minuten später einen Kollegen in der Schalterhalle etwas dazu fragen wollte, lief ihm völlig unerwartet Rilke über den Weg, den er um diese Zeit noch immer im Tresorraum vermutet hätte. Bevor er ihn ansprechen konnte, war Rilke schnellen Schrittes Richtung Treppenhaus verschwunden. Lackner sah ihm eine Sekunde lang nach, zuckte verwundert mit den Schultern. So war Rilke eben. Oft in Eile, nervös und stets darauf bedacht, alles 100-prozentig richtig zu machen.

Lackner, der in Stresssituationen hingegen in sich zu ruhen schien und jedes noch so kritische Gespräch mit sonorer und sanfter Stimme entkrampfen konnte, setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, um einige dubios erscheinende Geldtransaktionen zu verfolgen. Es verging kaum ein Monat, in dem nicht irgendetwas aus dem üblichen Rahmen fiel. Meist jedoch ließen sich die Sachverhalte logisch erklären, und der betroffene Kunde merkte von der hausinternen Prüfung überhaupt nichts. Allerdings schienen die Tricks der Ganoven und Geldwäscher immer ausgeklügelter zu werden. Spätestens seit es Geldautomaten gab, hatten die Betrugsversuche deutlich zugenommen. Es hatte bundesweit sogar schon Täter gegeben, die die stabilen Geräte mit Sprengladungen aus der Verankerung gerissen hatten.

So weit war es im beschaulichen Göppingen noch nicht gekommen, aber auch hier, im nördlichen Vorland zur Schwäbischen Alb zwischen Stuttgart und Ulm, war man bestimmt nicht davor gefeit.

Tief in Gedanken versunken, wurde Lackner vom schrillen Ton des Telefons wieder in die Realität zurückgeholt. Er nahm ab, meldete sich und hörte sofort eine wohlvertraute Frauenstimme, die heute aber viel ernster klang als sonst: »Sie sollen doch bitte mal zu Herrn Seifritz kommen.« Es war Chefsekretärin Karin Rüger.

Lackner brummte ohne weitere Nachfrage ein »Okay« und legte auf. Zum Chef. Das hatte ihm am frühen Montagmorgen gerade noch gefehlt. Was er wohl wollte?

Er schlug die Akten zu und machte sich auf den Weg quer durch die Schalterhalle, die für den Kundenbetrieb noch geschlossen war, hinauf durch das im Halbrund gebaute turmartige Treppenhaus mit den Bullaugenfenstern. Dort kam ihm auf halbem Weg Rilke mit blassem, ernstem Gesicht entgegen. »Was ist denn los?«, wollte Lackner wissen, weil er sofort merkte, dass etwas anders war als sonst.

Die Antwort fiel kurz und knapp aus: »Ich war bei Seifritz. Geh rauf.« Dann eilte Rilke an ihm vorbei abwärts.

Lackner stand für einen Moment wie belämmert. So hatte er seinen Kollegen noch nie erlebt. Plötzlich befiel ihn die Gewissheit, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Er verlangsamte seine Schritte und betrat vorsichtig die zweite Etage, das Reich der Vorstände, in dem für gewöhnlich gediegene Ruhe herrschte. Auch jetzt lag der Flur in absoluter Stille.

Er klopfte an die Tür des Vorzimmers und trat unmittelbar danach ein. Sein Blick fiel auf Chefsekretärin Karin Rüger, die kreidebleich an ihrem Schreibtisch kauerte und ihm grußlos andeutete, gleich ins Büro von Seifritz weiterzugehen, dessen Tür geschlossen war. Ihre junge Kollegin hatte nicht einmal aufgeschaut.

Lackners Verunsicherung stieg. Noch nie hatte es eine solch seltsame Situation gegeben. Er klopfte an die Tür, die sogleich geöffnet wurde. Vor ihm stand ein Uniformierter, der ihn in allerhöchste Alarmbereitschaft versetzte. Polizei, durchzuckte es Lackner. Üblicherweise kamen die Beamten direkt zu ihm, wenn es polizeiliche Ermittlungen gab. Die Anwesenheit eines Polizisten im Chefbüro konnte nichts Gutes bedeuten. Lag etwas gegen ihn selbst vor?

Aber die Sonnenbrille, das bärtige Gesicht und etwas, das wie eine Maschinenpistole aussah, jagten ihm augenblicklich ganz andere Ängste durch den Kopf: der Chef in der Gewalt von Gangstern.

Seifritz, der übernächtigt hinterm Schreibtisch saß, forderte seinen völlig irritierten Angestellten auf hereinzukommen und die Tür hinter sich zu schließen. Er hatte Lackners Entsetzen bemerkt und gleich klargestellt: »Herr Lackner, das sind keine echten Polizisten.«

Augenblicklich erfasste der Angestellte die bedrohliche Lage und erblickte erst jetzt den abseits stehenden zweiten Mann. Geschockt ließ er sich von dem sichtlich mitgenommenen Seifritz die Situation schildern – vor allem aber, dass die beiden Verbrecher seine Tochter entführt hätten. Worauf der Uniformierte, der die Maschinenpistole hielt, völlig unaufgeregt bekräftigte: »Keine Polizei. Wenn etwas schiefgeht, sieht Herr Seifritz seine Tochter nicht mehr lebend.«

»Und in der Schalterhalle gibt’s ein Blutbad«, ergänzte der andere ebenso ruhig.

»Die wollen fünf Millionen«, erklärte der Bankchef seinem Angestellten. »Ich hab ihnen aber bereits erklärt, dass das nicht geht.«

»Sie werden es hinkriegen«, lächelte der Uniformierte und sah Lackner in die Augen.

»Ich hab gesagt, dass der heutige Transport von der Landeszentralbank mit 700.000 Mark bald eintrifft – aber sie wollen fünf Millionen«, sagte Seifritz mit schwacher Stimme. Seine Hände zitterten, die Augen hinter der dicken Brille waren wässrig.

»Jetzt brauchen wir Ihre Hilfe«, wandte sich der falsche Polizist mit charmantem Unterton an Lackner, der nicht verstand, was dies bedeutete.

Seifritz stellte klar: »Herr Rilke holt einen Scheck. Mit dem können wir noch zwei Millionen bei der LZB besorgen lassen.«

Lackner kapierte: Weil zwei Unterschriften notwendig waren, mussten er und Rilke unterzeichnen. »Aber wenn die Boten gleich noch ein zweites Mal zur LZB kommen, fällt das auf«, gab er zu bedenken.

»Hab ich auch gesagt«, pflichtete ihm Seifritz bei, räumte dann jedoch ein: »Aber mit zwei Millionen könnte es klappen.

Der Uniformierte schien dies endlich zu begreifen, wandte sich aber drohend an Lackner: »Es darf nichts nach außen dringen. Denken Sie an die Tochter von Herrn Seifritz.«

Lackner musste sich eingestehen, dass es keinen Sinn machte, neuerliche Bedenken vorzubringen. Augenblicke später wurde Rilke von der Sekretärin hereingeführt. Er hielt den bereits ausgefüllten Scheck in der Hand, legte ihn auf den Schreibtisch des Chefs und unterschrieb. Seifritz nickte dankend, rührte das Papier aber nicht an, sondern gab nun mit einer stummen Handbewegung Lackner zu verstehen, dass es jetzt an ihm liege, den neuerlichen Geldtransport ebenfalls per Unterschrift zu bestätigen. Lackner zögerte, wartete noch auf eine klare Aussage seines Chefs, doch dieser verzog keine Miene. Sekretärin Rüger verfolgte angespannt die Szenerie und fragte sich insgeheim, weshalb nicht Seifritz selbst die zweite Unterschrift auf den Scheck setzte, denn kraft seines Amtes hätte er dies ohne Weiteres tun dürfen.

Sie spürte, dass auch Lackner darüber nachdachte. Er zögerte für einen kurzen Moment und überlegte offenbar, ob er es überhaupt würde verantworten können, per Unterschrift der Forderung der beiden Gangster nachzukommen. Aber immerhin schien es sein Chef so zu wollen. Wahrscheinlich, so beruhigte sich Lackner, wäre es bei der Landeszentralbank viel zu auffällig, wenn plötzlich der Bankchef höchstpersönlich die zweite Anforderung des Tages unterschrieben hätte.

Aber warum gerade er, Lackner, schoss es ihm durch den Kopf? Schließlich gab es außer ihm noch einen weiteren Angestellten, der befugt war, Geld von der Landeszentralbank zu ordern. Weshalb hatte Seifritz ausgerechnet ihn ausgewählt? Lackner verdrängte derlei Gedanken, denn er wollte unbedingt vermeiden, dass das Leben der jungen Frau leichtfertig aufs Spiel gesetzt wurde, nur weil er jetzt zögerte. Also trat auch er an den Schreibtisch, zückte einen Kugelschreiber und setzte mit zitternden Fingern seine Unterschrift unter das Dokument.

»Leiten Sie alles in die Wege«, nickte Seifritz dem Hauptkassierer zu. »Wir kommen dann auch runter.«

Rilke verschwand mit dem Scheck. Sobald die Boten mit den regulär georderten 700.000 D-Mark zurück sein würden, mussten sie sofort wieder zur Landeszentralbank geschickt werden, um den zweiten Auftrag zu erledigen. »Na also, geht doch«, brummte der Uniformierte, nachdem Rilke den Raum verlassen hatte. »Wenn wir das Geld haben, ist Ihre Tochter frei.«

 

Seifritz wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn und sah auf die Uhr. Je näher die Öffnungszeit der Bank rückte, desto mehr Angestellte hielten sich in dem großen Gebäude auf. »Bomben und Granaten«, schallte es wieder durch seinen Kopf. Die Gangster wollten Sprengkörper in der Schalterhalle deponiert haben. Wenn dies tatsächlich so war, dann musste das Zeug bereits gestern hereingebracht worden sein. Womöglich war das Ganze die kaltblütige Tat einer professionellen Bande – und womöglich doch ein Wachposten gegenüber am Bahnhof postiert, um auf verdächtige Bewegungen außerhalb des Bankgebäudes zu achten. Dann aber müsste er mit den Geiselnehmern in Funkkontakt stehen. Dafür aber, so überlegte Seifritz, hatte es bisher keine Anhaltspunkte gegeben.

Der Uniformierte umklammerte die Aktentasche, in der sich die Maschinenpistole befand, und gab seinem Komplizen einen Wink. »Sie beide«, er wandte sich an Seifritz und Lackner, »bringen uns jetzt runter zur Hauptkasse.«

»Aber immer dran denken«, schaltete sich der schweigsamere Gangster ein, »wenn irgendjemand die Polizei ruft, ist Ihre Tochter tot.«

Seifritz reagierte nicht, sondern stand auf und verließ als Erster das Büro, gefolgt von den beiden Gangstern und Lackner. Die Sekretärin blickte die Männer sprachlos und entgeistert an. Erst jetzt schien sie die ganze Tragweite des Geschehens verinnerlicht zu haben. Ihr bislang couragiertes Auftreten war purer Angst gewichen.

»Ich bin für niemanden zu sprechen«, erklärte Seifritz und fügte verunsichert an: »Niemand darf etwas erfahren. Niemand. Haben Sie mich verstanden?«

Karin Rüger saß wie erstarrt auf ihrem Bürostuhl und umklammerte die Schreibtischkante. Ihre junge Kollegin wagte es nicht, sich umzudrehen, sondern tat so, als sei sie mit dem Studium einer Akte beschäftigt.

Erst als die vier Männer den Raum verlassen hatten, verspürte die Chefsekretärin für einen Moment eine gewisse Erleichterung. Obwohl an ein gutes Ende noch nicht zu denken war.

Auf dem Flur der Vorstandsetage herrschte die übliche Stille. Seifritz hatte inständig gehofft, dass noch niemand unterwegs war. Wie hätte er den Angestellten erklären sollen, weshalb er um diese Zeit in Begleitung eines Polizisten und eines weiteren Fremden schon sein Büro verließ, dazu noch gemeinsam mit Lackner?

Seifritz ging zielstrebig zu dem sogenannten Lastenaufzug, den er mit einem Knopfdruck anforderte. Die paar Sekunden, bis er eintraf, steigerten Seifritz’ innere Aufregung ins Unermessliche, während die beiden Kidnapper weiterhin so taten, als seien sie sich ihres Vorgehens absolut sicher.

Wortlos und dicht gedrängt standen sie nebeneinander, als der Aufzug in das dritte Untergeschoss ruckelte. Seifritz mied den Blickkontakt zu den anderen und starrte auf die beleuchteten Tasten. Lackner studierte hingegen verstohlen die verkleideten Gangster und ihre seltsame Maskerade und versuchte, sich möglichst viele Einzelheiten einzuprägen.

Der Aufzug hielt mit einem sanften Ruck, die Tür schob sich beiseite, und grelles, kaltes Licht schlug ihnen entgegen.

Im Vorraum, in dem sich die Kundenschließfächer befanden, sahen sie durch eine dicke Panzerglasscheibe in den eigentlichen Tresorraum, wo Hauptkassierer Berthold Rilke mit mehreren Bündeln Geldscheinen hantierte, die er in eine Ledertasche steckte. Als Lackner mit Seifritz und den beiden Gangstern über einen weiteren Nebenraum hereinkamen, stellte Rilke mit vor Aufregung heiserer Stimme fest: »Die 700.000 sind bereits da.« Sein Gesicht war aschfahl, jedes Wort verriet hochgradige Nervosität. »Die Boten sind gerade wieder weg, um die zwei Millionen zu holen«, ergänzte er und signalisierte damit, dass der Geldtransporter bereits wieder zur Landeszentralbank-Filiale unterwegs war.

»Wissen die Boten Bescheid?«, wollte Seifritz wissen.

»Nein. Bisher nicht. Aber gewundert haben sie sich«, erwiderte Rilke verängstigt.

Natürlich war es ungewöhnlich, dass an einem ganz normalen Geschäftstag sofort wieder eine größere Summe geordert wurde. Normalerweise kam dies allenfalls in der Vorweihnachtszeit vor, wenn die Zahl der Barabhebungen zunahm. Auch die Boten würden sich möglicherweise ihre Gedanken machen, zumal diese allein schon ihres früheren Berufes wegen misstrauisch waren. Bei den meisten handelte es sich nämlich um pensionierte Polizeibeamten, die sich mit diesem Job ein Zubrot verdienten, oder um jüngere Männer, die ihre Ausbildung bei der Polizei abgebrochen hatten.

Lackner, der zwischen Seifritz und den beiden Gangstern stand, musste daran denken, dass die Geldboten glücklicherweise nicht mehr bewaffnet waren. Nicht auszudenken, wenn sie nachher bei der Rückkehr mit den zwei Millionen D-Mark Verdacht schöpften und die Helden hätten spielen wollen. Früher, das wusste er, hatten Geldboten stets Waffen bei sich gehabt und deshalb regelmäßige Schießübungen absolvieren müssen. Sogar bei den Kassierern waren noch in den 60er-Jahren Schusswaffen durchaus üblich gewesen. Als Lackner vor 15 Jahren bei einer Zweigstelle draußen auf dem Land, in Süßen-Nord, tätig gewesen war, hatte er selbst zwar keine Pistole mehr bekommen, jedoch trotzdem an den Schießübungen teilgenommen, die offenbar für einige Angestellte der Kreissparkasse damals weiterhin vorgeschrieben waren.

Inzwischen hatte man die Bewaffnung abgeschafft, weil die Gefahr bestand, dass es mit Räubern zu gefährlichen Schießereien kam – mit unabsehbaren Folgen. Menschenleben waren schließlich mehr wert als Geld.

Nur für ein paar Sekunden gingen Lackner solche Szenarien durch den Kopf, weil ihn die Maschinenpistole beunruhigte, die der Uniformierte über der Schulter hängen hatte. Noch immer wirkten die beiden Gangster gelassen und selbstsicher. Seifritz, dessen Gedanken unablässig um seine Tochter kreisten, war mehr denn je davon überzeugt, dass die Männer ziemlich abgebrüht sein mussten.

Der falsche Polizist sah sich prüfend um und deutete auf eine nur angelehnte Tür. »Was ist da drin?«, wollte er in sachlichem Ton wissen.

»Das Archiv«, erwiderte Rilke, der noch immer ganz konzentriert die gebündelten Geldscheine zählte und in eine Ledertasche steckte. 700.000 D-Mark, überwiegend in blauen Hundertmarkscheinen.

Seifritz wurde von dem zivil gekleideten Gangster in den kühlen Nebenraum gedrängt, wo metallene Aktenregale und ein weißer Tisch in grelles Kunstlicht gehüllt waren.

»Wie lange sind die Boten unterwegs?«, verlangte der mit einer kleinen schwarzen Pistole bewaffnete Mann Auskunft.

»Kommt drauf an«, erwiderte der Bankdirektor, während er mit dem Gangster im Archivraum verschwinden musste und der Uniformierte draußen bei Rilke und Lackner blieb. »Wenn bei der LZB viel Betrieb ist, kann es dauern.«

»Ungefähr?«, drängte der Räuber auf eine klare Antwort und zog die Tür von innen zu, ohne sie einrasten zu lassen. Auf diese Weise waren sie zwar außer Sichtweite, konnten aber verfolgen, was Rilke und der uniformierte Gangster sprachen.

»20 Minuten brauchen die Geldboten«, erklärte Seifritz, auf dessen Stirn sich Schweißperlen gebildet hatten. »Ich weiß nicht, wie der Verkehr heute früh in der Stadt ist.«

Die Luft in dem kleinen Archivraum war trocken, das sanfte Rauschen eines Gebläses zu vernehmen.

»Und wenn das mit den zwei Millionen nicht klappt?«, wagte Seifritz verzweifelt und flüsternd einen Vorstoß. Er musste diese Frage jetzt einfach loswerden.

Ebenso leise kam die Antwort seines Bewachers: »Dann gibt es ein Blutbad.«