Jedermannfluch

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»… haben er und seine unermüdlich schuftenden Kollegen bisher nichts gefunden.«

Wie auf Stichwort war der Leiter der Tatortgruppe neben ihnen aufgetaucht und hatte mit einem satten Grinsen den Satz der Gerichtsärztin vollendet. Er reichte Merana die Hand.

»Hallo, Martin.« Er deutete nach oben. »Natürlich haben wir noch nicht jeden Quadratzentimeter des Geländes bis ins Kleinste durchsucht. Wie Eleonore ganz richtig bemerkte, gibt es bisher nichts, was wir als Quelle für diese eigenwillig geformten dunklen Gebilde ausmachen konnten. Aber wir sind auch noch lange nicht fertig. Wir suchen natürlich weiter. Und wenn da oben auch nur ein einziger Splitter existiert, der zu denen in der Kopfwunde passt, dann finden wir ihn!«

Daran hegte der Kommissar auch nicht die Spur eines Zweifels. »Wer hat die Tote entdeckt?«

Die Frage war an den Abteilungsinspektor gerichtet. Der zückte sein Notizbuch, blätterte darin. Der überwiegende Teil der Ermittler hielt mittlerweile längst jegliches Detail kriminalpolizeilicher Untersuchung auf Tablets fest oder auf ähnlichen multifunktionalen Digitalgeräten. Und das weltweit. Aber Abteilungsinspektor Otmar Braunberger benützte nach wie vor lieber Notizblöcke mit geringelter Halterung.

»Gefunden hat die Tote eine Frau Lotte Ramalla, 74 Jahre, pensionierte Kanzleiangestellte. Sie wohnt da drüben.«

Er deutete auf einen der gegenüberliegenden Hauseingänge.

»Sie wollte um halb sechs ihren Hund äußerln führen, so wie jedem Morgen.«

Halb sechs, dachte Merana. Da hatten eben die ersten Strahlen die obersten Felszacken des Untersberges berührt. Er hatte es beim Laufen gemerkt und sich gefreut.

»Die Dame war ein wenig verwirrt, als die alarmierten uniformierten Kollegen hier eintrafen, wie man mir berichtete. Ich werde später versuchen, nochmals in Ruhe mit ihr zu reden.«

»Gibt es sonst Zeugen?«

Der Abteilungsinspektor schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, Martin. Ich habe schon einige Kollegen losgeschickt, um Leute aus der Nachbarschaft zu befragen. Nicht nur hier entlang des Stiegenaufgangs, auch drunten in der Gasse. Aber bisher hat noch keiner etwas gemeldet, das uns bei diesem Fall weiterhelfen könnte.«

Vielleicht traf das Wort »Fall« auch gar nicht zu, ging es Merana durch den Kopf, zumindest nicht aus kriminalpolizeilicher Sicht. Die junge Frau konnte auch aus völlig anderen Gründen über die Geländerbegrenzung des Stiegenaufgangs gestürzt sein. Ohne dass jemand dabei nachgeholfen hatte und somit ein Verbrechen vorlag. Bis jetzt wussten sie noch gar nichts dazu. Ja, ihr allseits geschätzter Chef hatte beim Namen Laudess sofort alle Alarmglocken läuten gehört. Daraufhin hatte er umgehend die stärkste Polizeibesatzung aufmarschieren lassen, wissend, dass sich sofort Medien und Öffentlichkeit auf diesen Vorfall stürzen würden, wenn durchdrang, dass es sich bei der Toten tatsächlich um die Schwester von Senta Laudess handelte.

»Danke, Otmar.« Der Abteilungsinspektor steckte das unförmige, leicht abgegriffene Notizbuch wieder ein. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. »Ich glaube, da bist du gefragt, Martin.« Braunberger wies hinunter zum Anfang des Treppenaufstiegs. Einer der Streifenpolizisten an der Absperrung hielt eine groß gewachsene Frau auf, die an ihm vorbei nach oben wollte. Der Kommissar erkannte sie. Das war Jana Daimond. Sie war die Chefin der Öffentlichkeitsabteilung der Salzburger Festspiele. Jana Daimond war Merana schon im vergangenen Sommer vorgestellt worden. Er verließ den Platz, an dem die Tote lag, trat hinaus auf den steinernen Aufgang und stieg nach unten.

»Danke, Herr Kollege, ich übernehme das.«

Er gab dem uniformierten Kollegen ein Zeichen. Die groß gewachsene Frau im dunkelblauen Hosenanzug drehte sich zu ihm. Die Müdigkeit war ihr deutlich anzusehen. Die ansonsten gestraffte Gesichtshaut wirkte rings um die Augen leicht faltig. Für gediegene Kosmetik war wohl keine Zeit geblieben an diesem unerwartet ereignisreichen Morgen, kam es ihm in den Sinn. »Guten Tag, Herr Kommissar.« Er blieb direkt vor ihr stehen. Sie blickte ihm ins Gesicht, prüfend, als versuche sie darin zu lesen. Sie hatte wohl gefunden, was sie suchte. Ihre Stimme wurde ganz leise. »Es ist also wahr? Isolde Laudess ist etwas Furchtbares zugestoßen?« Er nahm sie am Arm, führte sie ein wenig zur Seite, hinein in die Gasse. Einem Fotografen war es offenbar gelungen, durch die Absperrung zu gelangen. Er stand in der Nähe, zielte mit der Kamera in ihre Richtung. Merana gab einem der Kollegen ein Zeichen, wies mit der Hand auf den Fotografen. Der Uniformierte setzte sich augenblicklich in Bewegung, um den Mann zu verscheuchen.

»Ja, Frau Daimond. Darf ich fragen, wie Sie von dem Vorfall erfahren haben?«

Sie schaute ihn leicht verwirrt an. »Der Herr Polizeipräsident höchstpersönlich hat mich angerufen.«

Natürlich, Merana hätte es sich denken können. Vermutlich hatte der Herr Hofrat inzwischen auch mit allen Chefredakteuren der wichtigsten Medien und wohl auch mit dem Landeshauptmann telefoniert. Mit jedem, der ihm auf seinem unermüdlichen Karriereweg irgendwann einmal vielleicht nützlich sein könnte.

»Können Sie mir erklären, Herr Kommissar, wie es für Isolde zu diesem Unglück kam? Ich vermute, es gibt Anzeichen für ein Verbrechen, wenn so viel Polizei vor Ort ist.«

Er versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu verleihen. »Dazu darf ich Ihnen derzeit leider noch nichts sagen, Frau Daimond.«

Sie nickte. »Die Ärmste. Vermutlich war sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Isolde hatte ja gestern noch bei unserer ›Jedermann‹-Aufführung auf der Bühne gestanden.«

Ja, das hatte Merana schon vermutet. Gestern war Vorstellung, wie ihm bekannt war. Dass die junge Frau zum Ensemble gehörte, das wusste er, seit er vor zwei Wochen eine Fernsehreportage darüber gesehen hatte. Die Gestalter hatten mehrfach darauf hingewiesen, welch wunderbare Fügung es sei, in diesem Jahr beide Schwestern nebeneinander auf der »Jedermann«-Bühne zu erleben. Senta, die allseits berühmte Darstellerin großer Charakterfiguren, als Buhlschaft, und die jüngere Isolde in einer kleinen Rolle als Mitglied der Tischgesellschaft.

»Kann ich sie sehen?«

Merana schüttelte den Kopf. »Ich bedaure sehr, aber das geht leider nicht.«

»Ich verstehe. Sie müssen sich wohl an Ihre Vorschriften halten.« Plötzlich wurde ihr Blick noch leerer. Sie seufzte tief. »Dann mache ich mich wohl besser gleich auf den Weg zu Frau Laudess. Besser, sie erfährt die schreckliche Nachricht von mir als von einem der Medienleute.«

Sie sagte ihm zu, dass er sie in zwei Stunden in ihrem Büro antreffen könnte, falls er sie noch brauchte. »Danke, Frau Daimond. Wie gesagt, ich kann Ihnen noch keine Details zum bedauerlichen Vorfall erörtern. Aber es könnte für meine Mitarbeiter und mich bald sehr wichtig sein, möglichst schnell ein klares Bild über die letzten Stunden von Isolde Laudess zu erstellen. Was passierte, nachdem sie ihren Auftritt bei der gestrigen ›Jedermann‹-Vorstellung beendete. Was hat sie unternommen? Wen hat sie getroffen? Dazu wollen wir möglichst viele Beteiligte an der ›Jedermann‹-Produktion befragen. Danke, wenn Sie uns dabei behilflich sind. Ich persönlich werde mich um ein baldiges Gespräch mit der Schwester bemühen. Auch da wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie das für mich arrangieren.«

Sie versprach es. Dann reichte sie ihm die Hand und ging. Der Polizist an der Absperrung drängte die inzwischen dort versammelten Leute zurück. Merana sah ihr nach, wartete, bis die hoch aufgeschossene Gestalt in der Gasse verschwand.

»War das nicht die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Festspiele?«

Braunberger hatte sich neben ihn gestellt.

»Ja, ich werde Jana Daimond vermutlich bald in ihrem Büro aufsuchen. Sie wird mir alle Daten zu den Ensemble­leuten und den übrigen Beteiligten des gestrigen ›Jedermann‹-Abends aushändigen. Dann hätten wir zumindest schon einmal diese Unterlagen, falls es sich beim Tod der jungen Frau doch um ein Verbrechen handelt.« Der Abteilungsinspektor wies mit der Hand die Treppe hinauf.

»Lass uns miteinander die Stelle anschauen, an der Isolde Laudess aller Wahrscheinlichkeit nach hinunterstürzte. Thomas Brunner ist schon oben, er wartet auf uns.« Sie stiegen hinauf. Während die hoch aufragenden Häuser an der linken Seite zur Kaigasse gehörten, waren die Gebäude rechterhand eng an den felsigen Hintergrund geschmiegt. Es gab mehrere Hauseingänge. »Nonnbergstiege 10c«, las Merana an einer Stelle. Acht Namensschilder waren auszumachen und ebenso viele Klingelknöpfe. Thomas Brunner wartete an jenem Platz des Aufstiegs, an dem die zurückgewichene linke Häuserfront wieder im rechten Winkel an die Treppe stieß. Merana sah sich prüfend um. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein kleiner ansteigender Garten mit einer kurzen, sehr niedrigen Begrenzungsmauer. Obwohl nur wenig Sonnenlicht in die schmale Stiegengasse fiel, gediehen hier offenbar dennoch einige Blumen und niedriges Gewächs. »Na, wer sagt’s denn«, rief der Abteilungsinspektor. »Hier gibt es sogar Gartenzwerge.« Er korrigierte sich im nächsten Moment. »Nein, das sind wohl doch keine Gartenzwerge. Schaut eher aus wie eine Ansammlung von Märchenfiguren.« Hinter dem schmalen, niedrigen Mäuerchen, das den steil ansteigenden Garten zur Stiege hin abgrenzte, waren etliche Figuren auszumachen. Sie dürften wohl rund 40 Zentimeter groß sein, schätzte Merana. Und sahen tatsächlich aus, als kämen sie aus irgendeinem Märchenbuch. Bei der schon leicht ramponierten bläulichen Katzenskulptur dürfte es sich wohl um den Gestiefelten Kater handeln, vermutete er. Weiters sah er zwei dickliche Zwerge, einen Prinz, der sich auf sein Schwert stützte, und einen Esel, dem ein Ohr fehlte. Zwischen beiden war eine Frauenskulptur zu erkennen. Das mochte vielleicht Schneewittchen sein. Rechts neben dem angeknacksten Esel lungerte ein flammenspeiender Lindwurm. Wahrlich ein putziger Anblick, der sich ihnen hier bot. Aber was Merana weit mehr faszinierte, war das Bild, das sich ihm in der Entfernung weit oberhalb des Gartens bot. Ein Stück helle Mauer leuchtete im Sonnenlicht.

 

Ein Teil der Festung war auszumachen. Er entsann sich. Er hatte auch mit der Großmutter an eben dieser Stelle während ihres Aufstiegs verweilt. Sie hatte ihn auf den bemerkenswerten Ausblick aufmerksam gemacht, auf die Festungsmauer und auf einen der Türme. Das Gärtchen hatte es vermutlich auch vor einem Monat an dieser Stelle schon gegeben. Es war ihm gewiss entfallen. An irgendwelche Märchenskulpturen konnte er sich überhaupt nicht erinnern.

»Also Martin, Eleonore hat es dir ja schon angedeutet. Unsere bisherige Untersuchung des Geländes führt zu dem Schluss, dass die junge Frau an genau dieser Stelle in die Tiefe stürzte.«

Merana wandte sich vom Anblick des Gärtchens und der Festung ab. Thomas Brunner wies auf die entsprechende Stelle an der Treppenabgrenzung. Merana trat an das niedrige Geländer, blickte hinunter.

»Sie war wohl auf dem Heimweg«, fügte der Abteilungsinspektor hinzu. »Sie wohnte nicht weit von hier entfernt in der alten Nonntaler Hauptstraße.«

»Welche Hausnummer?«

Meranas Frage bot dem Abteilungsinspektor wieder Gelegenheit, das legendäre Notizbuch zu zücken. Er blätterte darin.

»13B.«

Merana stutzte. »13B? Wenn ich das recht im Kopf habe, dann muss das am Anfang der Nonntaler Hauptstraße liegen.«

Braunberger nickte. »Du hast recht. Meines Wissens liegt das nicht weit entfernt vom Rösthaus und Café ›220 Grad‹.«

Merana fixierte seinen Kollegen, schüttelte irritiert den Kopf. »Also Otmar, das verblüfft mich jetzt.« Er wies mit der Hand hinab bis zum Anfang der steinernen Stiege.

»Warum ist sie nicht unten geblieben? Da wären es für sie nur noch wenige Meter in der Kaigasse gewesen. Dann hätte sie schnell den Kajetanerplatz überquert, hätte sich nach der Schanzlgasse gleich rechts gehalten und wäre im Handumdrehen zu Hause gewesen. Dieser Weg wäre bedeutend kürzer. Gar kein Vergleich zu der eher mühsamen Strecke über die Nonnbergstiege, immer am Berg entlang, vorbei am Kloster. Es dauert schon ein wenig, bis man weit hinter der Erhardkirche wieder hinunterkommt. Warum hat sie diesen Weg gewählt? War sie vielleicht doch nicht auf dem Weg zu ihrer Wohnung?«

Er schaute auf seine beiden Kollegen.

»Gute Frage, Herr Kommissar«, entgegnete Braunberger und steckte das Notizbuch zurück. »Vielleicht sollten wir den Esel fragen. Aber ich weiß nicht, ob der uns überhaupt versteht. Immerhin hat er nur ein Ohr.« Sein Lachen erinnerte ein wenig an das kehlige Gemecker eines Ziegenbocks, während er der beschädigten Grautierstatue einen Klaps versetzte.

3

Auch drei Stunden später war das meiste noch weitgehend unklar. Nur auf eine der aufgetauchten Fragen sollte der Kommissar eine einigermaßen einleuchtende Antwort erhalten. Warum Isolde Laudess nicht den wesentlich kürzeren Weg über den Kaigassenausgang, sondern die viel weitere Strecke über die Nonnbergstiege gewählt hatte.

Der Kommissar hatte Jana Daimond wie vereinbart in deren Büro aufgesucht. Er hatte ihr mehrmals bestätigt, die sensiblen Angaben vor allem zu den großen Stars der Festspielproduktion absolut vertraulich zu behandeln. Er würde nur Auszüge davon an seine vertrautesten Mitarbeiter weiterreichen, damit sie mit den Befragungen beginnen könnten. Die Öffentlichkeitschefin hatte auch arrangiert, dass er mit Senta Laudess reden könnte. Sie würde ihn um zwölf Uhr in ihrem Appartement erwarten.

»Frau Laudess wohnt nicht im Hotel?«

»Nein, einigen unserer Künstler ist es angenehmer, während ihres Salzburg-Aufenthaltes eine für sie bereitgestellte Wohnung zu beziehen als im Hotel zu bleiben. Wir versuchen natürlich, diesen Wünschen entgegenzukommen, so gut es geht.«

Bevor er erneut ins Kaiviertel aufbrach, wo die angegebene Wohnung lag, wollte er noch schnell Halt am Alten Markt machen. Er hatte es nicht anders erwartet. Das prächtige Wetter war zu verlockend. Das Café Tomaselli samt Terrasse und gegenüberliegendem Garten war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nicht besser sah es beim Café Fürst aus. Auch hier waren alle Tische auf dem Platz vor dem Lokal belegt. Doch dann bemerkte er, dass eine Gruppe von drei Leuten eben die Rechnung bezahlte und sich erhob. Er trat schnell heran und ergatterte den Platz. Er bestellte sich einen großen Schwarzen und einen Apfelstrudel. Er war seit fünf Uhr auf und hatte bis jetzt nur einen Haferflockenriegel zu sich genommen. Die Kellnerin war rasch zurück, stellte ihm das Gewünschte hin. Er nahm die Gabel, kostete ein Stück von der Mehlspeise. Köstlich. Er hatte es nicht anders erwartet. Er nahm das nächste Stück, schloss kurz die Augen, um jeden Bissen noch intensiver zu genießen. So viel Zeit musste sein, beschloss er. Erst sich den verdienten Genuss gönnen, dann weiter mit der Arbeit. Nichtsdestotrotz blieb doch noch ein Stück des Strudels auf dem Teller, als er bereits nach dem Handy griff. Er wollte die kurze Zeitspanne nützen, um sich ein wenigstens gerafftes Bild über die beiden Schwestern Laudess zu verschaffen. Er aktivierte sein Handy. Über Senta, den großen Bühnenstar, gab es wie erwartet eine Fülle an Eintragungen im Internet. Über Isolde war wenig zu finden, zumindest nichts Aufschlussreiches. Beide waren in Salzburg geboren, aber das hatte er schon gewusst. Senta hatte im Alter von 17 Jahren ihre Heimatstadt verlassen. Sie war nach Berlin gezogen, hatte eine Ausbildung an der berühmten Schauspielschule »Der Kreis« absolviert. Schon im zweiten Studienjahr bekam sie eine Gastrolle am Deutschen Theater. Das war der Start für eine auch international beachtliche Karriere. Welchen Weg die um sechs Jahre jüngere Isolde gegangen war, ließ sich für Merana in der Kürze mittels Internetrecherche am Handy nicht ermitteln. Doch er hoffte, von Senta Laudess bald mehr darüber zu erfahren. Er verspeiste das letzte Stück Strudel, trank den Kaffee aus, legte einen Geldschein auf den Tisch und erhob sich. Wie er von Jana Daimond erfahren hatte, lag die Wohnung in der Krottachgasse, einer Seitengasse zur Kaigasse, aus der man gleich nach dem Mozartkino abbog. Er machte sich rasch auf den Weg, erreichte das ihm von Daimond genannte Haus. Merana kannte sich in der Gegend ganz gut aus. Schräg gegenüber gab es ein italienisches Café. Gelegentlich trank er dort einen Cappuccino oder genehmigte sich einen Teller mit Antipasti und dazu ein Glas Wein. Er betrat das große Gebäude, das dem Lokal gegenüber lag. Er hatte im Laufe der letzten Jahre schon hin und wieder bei seinen Ermittlungen mit dem einen oder anderen großen Star aus der Welt der Künste zu tun gehabt. Dennoch spürte er einen Anflug von leichter Nervosität, als er die Marmorstiege langsam nach oben nahm. Im fünften Geschoss machte er Halt und läutete. Und obwohl er wusste, was ihn erwartet, konnte er sich eines gewissen Staunens nicht erwehren. Es war tatsächlich die gefeierte Buhlschaft aus dem »Jedermann« der Salzburger Festspiele, die ihm die Tür öffnete.

»Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Kommissar Merana. Bitte kommen Sie herein.«

Er überlegte, ob er ihr zur Bestätigung seinen Dienstausweis zeigen sollte, ließ ihn dann aber stecken. Das »Appartement«, wie Jana Daimond es in beiläufigem Tonfall bezeichnet hatte, erwies sich als große, luxuriös ausgestattete Wohnung. Beeindruckend war auch der Blick aus dem Salon auf die gegenüberliegende Seite der Stadt. Am anderen Salzachufer war ein Großteil des Kapuzinerbergs mit der lang gezogenen Befestigungsmauer und dem alten Franziskanerkloster am linken Ende auszumachen.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Sehr freundlich, ein Glas Wasser bitte.«

Sie deutete zum auffällig gestylten Glastisch, der in der Nähe des großen Fensters stand. Dann brachte sie eine vollgefüllte hellblaue Karaffe und zwei edel aussehende Kristallgläser. Er setzte sich auf einen der mit hellem Leder überzogenen Sessel. Sie nahm ebenfalls Platz, füllte die Gläser. Sie wirkt älter als auf der Bühne, fand er. In jedem Fall älter als auf den Bildern, die er von ihr kannte. Aber vielleicht täuschte sein Eindruck. Immerhin hatte sie eben erst vom tragischen Tod ihrer Schwester erfahren. Auch das rötlich gefärbte Haar erschien ihm kürzer, als er es von den Fotos in Erinnerung hatte. Nur die erkennbare Kupfertönung war ihm vertraut, so wie er sie von Abbildungen kannte. Er bemerkte den matten Glanz, der in ihren dunklen Augen lag. Auch der sanfte Schwung der Augenbrauen erschien ihm makellos. Sie lächelte. »Soll ich an meinem Gesicht etwas ändern, Herr Kommissar?«

Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss. »Nein, absolut nicht. Falls ich Sie angestarrt habe und Sie das aufdringlich empfunden haben, möchte ich mich entschuldigen. Das lag keineswegs in meiner Absicht.«

Erneut lächelte sie. Aber sie sagte nichts, nahm nur einen Schluck Wasser. Der Glanz in ihren Augen verschwand. Ihre Gesichtszüge nahmen jenen Ausdruck an, den er auch von vielen Bildern, auch aus bestimmten Film- und Theaterszenen kannte. Ihr Mienenspiel spiegelte jene Vitalität und Überzeugungskraft wider, mit der sie auf jeder Bühne brillierte. Er räusperte sich. Dann begann er das Gespräch, indem er ihr zuerst sein Beileid für den erlittenen Verlust aussprach. Sie bedankte sich. Sie wollte wissen, ob man Isolde tatsächlich auf der Nonnbergstiege gefunden hatte, wie ihr Jana Daimond mitgeteilt hatte.

»Ja.«

»Mein Gott.«

Er wollte nicht näher darauf eingehen, dass es nicht direkt auf den Stufen der Treppe war, wo man den Leichnam fand, sondern in einem der Freiräume zwischen Stiege und Hausmauer.

Sie verschränkte die Finger, stützte ihr Kinn darauf. Der Ausdruck der Vitalität war wieder längst verschwunden. Das Schimmern in den Augen zeugte von Trauer. »Ich hätte sie doch begleiten sollen«, flüsterte sie. »Ich hätte mich besser nicht schon vorher von ihr verabschiedet, um in meine Gasse abzubiegen. Vielleicht würde Isolde dann noch leben.« Sie senkte das Gesicht. Ihr Körper fing leicht zu beben an.

»Sie waren mit Ihrer Schwester gestern nach der Aufführung noch beisammen?«, fragte er und hoffte, dass sein Tonfall neutral klang und nicht überrascht.

»Wie spät war es, als Sie sich in der Kaigasse von Ihrer Schwester verabschiedeten?«

»Das muss so gegen halb zwei gewesen sein. Wir wollten beide heim.«

Er dachte nach, stellte sich die Szene vor. »Sind Ihnen zu dieser Zeit andere Passanten untergekommen?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, soviel ich mich erinnern kann, waren wir ganz allein. Nur anfangs auf Höhe der Chiemseegasse begegneten uns zwei Leute, aber die waren stadteinwärts unterwegs. Es war gestern ohnehin so gut wie nichts los. Die nächtliche Stadt wirkte nahezu ausgestorben. Manchmal ist das offenbar so in Salzburg, sogar mitten im Sommer. Das habe ich auch Isolde gegenüber erwähnt, als wir das ›K+K‹ verließen und über den Waagplatz schlenderten.«

»Sie waren gemeinsam im ›K+K‹?«

»Ja.« Es habe gestern eine kleine, eher improvisierte Feier gegeben, erklärte sie. Sie waren wie immer nach Ende ihres Auftrittes in die Garderoben im Großen Festspielhaus gebracht worden. Die anderen waren dann schon vorausgegangen. Sie hatte noch etwas zu erledigen und war etwa eine halbe Stunde später nachgekommen. Einer der jungen Kollegen aus der Darstellergruppe der Tischgesellschaft hatte gestern Geburtstag und deshalb zu einem Umtrunk mit kleiner Jause geladen. Außer dem Geburtstagskind, ihr und Isolde seien zwei weitere Personen dabei gewesen. Die beiden männlichen Kollegen seien nur kurz geblieben, bald aufgebrochen, nachdem sie selbst im Restaurant erschienen war. Sie nannte ihm die Namen der Beteiligten.

»Nur Bianca und Folker sind etwas länger geblieben. Sie saßen noch am Tisch, als Isolde und ich aufbrachen.«

Merana hatte sich die Namen notiert. Gleich nach der Unterredung würde er eine Nachricht an seinen Abteilungsinspektor schicken. Otmar möge sich der Teilnehmer der improvisierten Geburtstagsfeier annehmen, sie zum Verlauf des gestrigen Abends befragen.

»Sie haben sich an der Abzweigung zur Krottachgasse getrennt, sagten Sie. Die Wohnung Ihrer Schwester liegt in der alten Nonntaler Hauptstraße, wie ich erfahren habe.«

»Ja, das stimmt, Herr Kommissar. Es ist die Wohnung, die unserer Mutter gehörte. Auch ich bin dort aufgewachsen. Wir zogen ein, als ich acht Jahre alt war.«

 

»Die Wohnung liegt, der Hausnummer zufolge, gleich am Beginn der Straße. Wenn Ihre Schwester heimwollte, wie auch Sie vorhin erwähnten, warum wählte sie dafür einen viel weiteren Weg. Über die Route Kaigasse, Kajetanerplatz, Schanzlgasse wäre sie doch viel schneller zu Hause gewesen.«

Ihr Mienenspiel änderte sich. Das traurige Schimmern ihrer Augen wurde überdeckt von einem mädchenhaften Lächeln.

»Das ist ganz einfach zu erklären, Herr Kommissar. Kennen Sie den Weg über die Nonnbergstiege?«

»Ja.«

»Mögen Sie ihn?«

»Ja, sogar sehr. Ich liebe die Nähe zum alten Kloster, auch die zur alten Festung. Und die Ausblicke auf die Stadt, die man dort bekommt, sind einfach überwältigend.«

Ihr Lächeln wurde stärker.

»Isolde hätte es nicht besser beschreiben können. Sie liebte es, den Heimweg aus der Stadt über die alte Nonnbergstiege zu nehmen. Das war schon immer so.

Selbst, als sie noch ein Kind war. Ihnen ist sicher die markante Stelle direkt gegenüber der Klosterkirche bekannt.«

»Selbstverständlich. Dort bin ich gewiss schon sehr oft gestanden und habe den Blick Richtung Süden genossen.«

»Isolde auch, wahrscheinlich Hunderte Mal. Ich kann mich noch erinnern, als sie, da war sie vielleicht sieben, die alte Platane erklimmen wollte, um noch eine bessere Aussicht zu erhalten.«

Sie schloss die Augen. Vielleicht ließ sie im Inneren die eben geschilderte Begebenheit nochmals ablaufen, zur Erinnerung an ihre Schwester, die damals wohl ein glückliches Kind mit sieben Jahren war und die jetzt als lebloser Körper in einer der Kühlboxen der Salzburger Gerichtsmedizin lag.

Er wartete. Er ließ ihr Zeit, behutsam aus ihren von glücklichen Momenten überstrahlten Erinnerungen wieder in die harte Realität zurückzukommen.

Immerhin hatte sich nunmehr eine der Fragen geklärt, die ihm und gewiss wohl auch seinem Kollegen Otmar durch den Kopf schwirrten. Isolde Laudess hatte den Weg über die Nonnbergstiege gewählt, weil sie das immer so machte. Egal, zu welcher Tageszeit. Er nahm wahr, dass sie langsam wieder ihre Augen öffnete.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, jetzt kann ich mich wieder ganz Ihren Fragen widmen.«

Er wollte ihr trotzdem noch etwas Zeit geben. Er deutete mit der Hand zum Fenster, durch das man den traumhaften Ausblick auf den Kapuzinerberg hatte.

»Die Salzburger Festspiele haben Ihnen wirklich eine wunderbare Wohnung zur Verfügung gestellt, Frau Laudess. Dass Sie heuer in Salzburg zugegen sind, freut nicht nur die Festspiele, sondern auch viele Salzburger und Salzburgerinnen, wie ich weiß. Immerhin waren Sie schon sehr lange nicht mehr in Ihrer Geburtsstadt, wenn ich richtig informiert bin. War es für Sie von Anfang an klar, dass Sie ein Appartement beziehen würden? Hätten Sie auch bei Ihrer Schwester wohnen können? Oder wäre das nicht möglich gewesen?«

Es kam ihm vor, als würden plötzlich ihre Augen überschattet. Nur ganz kurz.

Dann war ihr Antlitz schon wieder in jene freundliche Miene gekleidet, mit der sie ihn auch begrüßt hatte. Sie löste die verschränkten Finger, griff nach ihrem Glas.

Sie trank es zur Hälfte aus. Dann blickte sie ihn direkt an.

»Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden, Herr Kommissar. Außerdem werden Sie im Zuge Ihrer Recherchen gewiss auf den einen oder anderen Hinweis stoßen. Eine abfällige Bemerkung im Internet ist gewiss leicht zu finden, eine Andeutung von irgendjemandem aus der Kollegenschaft schnell geliefert. Und es ist ja nicht so, dass Ähnliches nicht auch in anderen Familien vorkommt. Ich spreche es also lieber selber ganz klar aus. Isolde und ich verstehen uns …« Sie zuckte kurz zusammen. Er wartete, ob der Hauch des Schattens sich wieder zeigen würde. Doch sie sprach schon weiter, im gleichen Tonfall. Nur in den Augen vermeinte er wieder die Trauer zu erkennen. »Entschuldigen Sie, bitte, es muss wohl heißen, ›verstanden uns‹. Aber es fällt mir schwer, die unvorstellbar brutal hereingebrochene Wahrheit zu akzeptieren, dass Isolde nicht mehr am Leben ist. Und dass wir genau genommen nur Halbschwestern waren, macht es um keinen Deut leichter.« Wieder griff sie nach dem Glas, nahm einen tiefen Schluck.

»Also dann. Isolde und ich, wir verstanden uns nicht allzu gut. Das war schon in unserer Kindheit so. Mein Vater starb, als ich drei war. Als ich fünf war, heiratete meine Mutter wieder. Etwa ein Jahr später kam Isolde zur Welt. Mein Stiefvater war gewiss ein netter Mann. Endlich hatte meine Mutter sich einen Traum erfüllt und einen begeisterten Wagnerfan geheiratet. Er stammte noch dazu aus Bayreuth. Meine Mutter hatte oft davon geschwärmt, Salzburg zu verlassen und ins Wagner-Mekka Bayreuth zu übersiedeln. Doch daraus wurde nichts. Mein Stiefvater verließ uns bald, ließ sich scheiden und nahm ein lukratives Jobangebot in Australien an. Dass bei dieser Entscheidung auch eine attraktive Frau eine Rolle spielte, hat meine Mutter im Grunde nie überwunden. So blieb der glühende Wagnerfan wieder alleine, mit Isolde und mir. Kein Bayreuth. Dafür weiterhin Salzburg, die Pilgerstätte der Mozartfangemeinde.«

Merana horchte auf. Er dachte an die Namen der beiden Schwestern. Eine Ahnung beschlich ihn. »Wagnerfan? Hat Ihre Mutter Sie beide deswegen so benannt?« Nun kehrte das Lächeln zurück in ihre dunklen Augen. Sie nickte. »Ja, das ist der einzige Grund dafür. Aber es hätte weit schlimmer kommen können. Brünnhilde oder Wellgunde hat sie uns immerhin erspart.« Das Lächeln erlosch. Merana war kein ausgesprochener Wagnerkenner, bei Weitem nicht. Aber ein wenig kannte er sich schon in dessen Opernwelt aus. Der Name Senta stammte aus der romantischen Geschichte rings um den »Fliegenden Holländer«. Senta verliebt sich in den geisterhaften Seefahrer und erlöst ihn von dessen Fluch durch ihren eigenen Tod, wie er wusste. Und Isolde ist die irische Königstochter aus einer anderen Wagneroper, die sich unsterblich in den Helden Tristan verliebt.

»Lebt Ihre Mutter noch?«

Ihr Kopfschütteln war deutlich zu bemerken. Die rötlich schimmernden Locken zuckten.

»Leider nein, sie ist vor vier Jahren gestorben. Auch mein Stiefvater lebt nicht mehr. Er starb vor zwei Jahren in Melbourne, wie ich von Isolde erfahren habe.«

»Die Gründe, warum Sie und Ihre Schwester sich schon seit Ihrer Kindheit nicht sehr nahe standen, tun im Augenblick nichts zur Sache. Aber wie war es in der Gegenwart? Tauchten irgendwelche Probleme auf, wenn Sie miteinander auf der Bühne standen? Gab es Spannungen?«

Die freundliche Miene im Augenspiel kehrte zurück. Sie beugte sich leicht nach vorn.

»Aber nein, Herr Merana, so schlimm dürfen Sie sich das auch nicht vorstellen. Wir hatten immer wieder Kontakt in den letzten Jahren. Wir gingen einander ja auch nicht aus dem Weg. Sonst wäre ich wohl gestern auch nicht zur Feier ins ›K+K‹ mitgekommen. Unser Umgang war vielleicht etwas reservierter als unter Verwandten üblich. Da zeigten sich halt zwei Halbschwestern, die einander zwar nicht viel zu sagen hatten, aber die schon wussten, wie man sich professionell und zivilisiert verhält.« Plötzlich richtete sie sich auf, ihr Oberkörper straffte sich.

»Halbschwester!« Sie klopfte sich gegen die Stirn. »Mein Gott, unsere Mutter ist gestorben, somit bin ich ja die einzig lebende Verwandte. Ich muss mich augenblicklich um die Bestattung und all den Kram kümmern, der damit verbunden ist.« Sie sah ihn direkt an. »Wann geben Sie den Leichnam meiner Schwester frei?«

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