1918 - Wilhelm und Wilson

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5 Neujahr

Das Jahr 1918 begann für mich mit einem eindrucksvollen Gespräch, das ich für mein Leben - so kurz es vielleicht von hier aus der Charité betrachtet auch nur noch sein mag - niemals wieder vergessen werde! Seine kaiserliche Hoheit, Kronprinz Wilhelm ließ mir durch seinen Adjutanten Major von Müller bei der von ihm befehligten Heeresgruppe “Deutscher Kronprinz” am 2. Januar persönlich mitteilen, er wünsche vor seiner Abreise an die Front eine persönliche Unterredung. Diese habe unter vier Augen und ausdrücklich nicht im Berliner Stadtschloss, sondern auf Schloss Cecilienhof in Potsdam, dem Wohnsitz der Familie Wilhelms vor den Toren der Residenz Berlin statt zu finden. Ich war natürlich verwundert. Uns blieben nur zwei Tage. Ich sagte ohne Zögern für den darauf folgenden Tag zu. Adjutant von Müller zeigte sich erleichtert. Er erklärte, seine kaiserliche Hoheit sei sich dessen gewiss gewesen, sich auf mich verlassen zu können. Der Kronprinz lade für den 3. Januar um 15 Uhr zum Tee. In der anschließenden Nacht schlief ich schlecht. Ich kam nicht zur Ruhe, weil meine Gedanken um die Frage kreisten, welche äußeren Ereignisse so bedeutsam sein konnten, dass sie seine Hoheit veranlassten, sich in großer Eile mit dem Vorsitzenden der größten vaterländisch gesinnten Reichstagsfraktion zu treffen, heimlich und allein. Natürlich stellte ich Spekulationen an, die mich nicht gerade in einen Zustand der Beruhigung versetzten. Sollte die Front wanken? Gäbe es eine neue Qualität bei der Auflösung aller staatlichen Autorität in Russland oder endlich die Einwilligung der bolschewistischen Revolutionäre in einen Frieden nach unseren Vorstellungen? Gab es vielleicht aber ein Zerwürfnis zwischen der Obersten Heeresleitung und dem Reichskanzler? Graf Hertling war zwar als Nachfolger von Michaelis erst seit dem 1. November im Amt, aber was hieß das schon in diesen Zeiten? In Berlin ging in einschlägigen Kreisen von Abgeordneten und Presse, von Ministerialbürokratie und den Verbandsvertretern der Wirtschaft das Gerücht um, Hindenburg und Ludendorff verlange es nach dem uneingeschränkten Primat der militärischen vor der zivilen Führung in allen Angelegenheiten von Krieg und Frieden. Eine solche Bankrotterklärung des Reichskanzlers hätte ich als schweren Fehler, als Selbstaufgabe der Politik empfunden. Stattdessen war ich immer mehr davon überzeugt, dass es die ureigene Verantwortung des Reichstags werde, durch eigene Anstrengungen und solidarische Kreativität mit dem Hause Hohenzollern und damit auch mit der von ihm eingesetzten zivilen Reichsleitung den Frieden zu erringen. Ob es dagegen die ureigene Fähigkeit Ludendorffs und seiner Männer in Spa sein sollte, die Weltlage und die Strömungen in Deutschland politisch richtig einzuschätzen, daran waren mir doch im abgelaufenen Jahr 1917 immer größere Zweifel gekommen. Schließlich hatte sich die Entente allen Versprechungen zum Trotz weder aufgelöst noch hatte ihre Kampfkraft merklich gelitten, sondern mit Hilfe der Amerikaner war die Entente sogar gefestigt aus dem Kriegsjahr 1917 hervorgegangen.

Was es auch immer war, das der Kronprinz mit mir erörtern wollte. Als mich die von ihm geschickte Limousine am 3. Januar um 14 Uhr zu Hause abholte, betrachtete ich es als meine heilige vaterländische Pflicht ihm zu helfen so gut es in meinen Möglichkeiten liegen sollte. Auf dem Weg nach Potsdam durchquerten wir Steglitz, Dahlem und Zehlendorf, kamen an immer noch weihnachtlich geschmückten Schaufenstern und hell erleuchteten Gaststätten vorbei. Natürlich reichte die Pracht und Vielfalt der Auslagen nicht an Friedenszeiten heran. Dennoch nahm ich sehr bewusst auf, wie lebenswert Berlin, ja ganz Deutschland trotz aller Not, trotz des Mangels an Lebensmitteln und Brennstoff für die Mehrzahl der einfachen Menschen weiterhin war, selbst im vierten Kriegsjahr geblieben war. Ich als Fraktionsvorsitzender der Nationalliberalen trug eine herausragende Verantwortung dafür, dass die deutsche Politik so umsichtig wie irgend möglich auf Kaiser und Reich einwirkte, für einen Frieden, der unserer Nation und vor allem den einfachen Menschen Glück und Wohlstand, am besten dauerhaften Frieden und Anerkennung in der Welt einbrachte. Einmal mehr musste ich an Albert Ballins Worte gegenüber dem Kohlenbaron Stinnes denken: Deutschland in Europa zu stärken und zu sichern empfanden wir als unsere gemeinsame Aufgabe. Und ich bekam das ungute Gefühl, dass meine Vorstellungen von der Umsetzung dieser hohen Idee mit denselben von Stinnes und Ludendorff, aber womöglich auch des Kaisers und seines Sohnes nicht ganz übereinstimmen mochten. Innerlich aufgewühlt kam ich in Potsdam am Schloss Cecilienhof an. Bereits in der Türe empfing mich seine kaiserliche Hoheit mit weit geöffneten Armen und einem erfrischenden Strahlen in den Gesichtszügen. Ein wenig erleichtert betrat ich mit Kronprinz Wilhelm den großzügigen Salon, den er als Arbeits- und vor allem als Besprechungszimmer nutzte. Eine schwere Garnitur in grünem englischen Leder diente uns als bequeme Sitzgelegenheit. Im Kamin prasselte ein helles Feuer. Dank des trockenen Buchenholzes stieg kaum Rauch auf. Ein Kammerdiener servierte Tee und Kuchen. Der Kronprinz bestellte dazu Kognak und zwei Zigarren. Dann waren wir allein.

Die nun folgende Unterredung brannte sich derart in mein Gedächtnis ein, dass ich sie noch heute Wort für Wort nacherleben kann, ganz so, als säße ich gerade eben wieder mit seiner kaiserlichen Hoheit, meinem inzwischen engen Freund Wilhelm in engster Vertraulichkeit zusammen.

„Lieber Doktor Stresemann, haben sie vielen Dank für diesen schnell vereinbarten Termin. Ich weiß ja selbst, wie viele familiäre Verpflichtungen die Weihnachtstage und Neujahr mit sich bringen. Richten sie bitte ihrer Gemahlin meine herzlichsten Grüße und einen warmherzigen Dank dafür aus, heute auf sie zu verzichten.”

Wilhelm spricht etwas langsamer und auch etwas leiser als bei unseren bisherigen Begegnungen. Es ist womöglich keine Niedergeschlagenheit, die ihn kennzeichnet. Ganz gewiss ist er jedoch nachdenklich und höflich. Ich bin mir sicher, es muss sich etwas ereignet haben, dass ihn tief bewegt.

„Kaiserliche Hoheit, meiner Gattin fiel es nicht schwer, heute auf mich zu verzichten. Sie hat ihre Eltern zu Gast und weiß überdies zu erkennen, wann höhere Staatsgeschäfte über dem Familienleben stehen. Da auch sie heute Nachmittag auf ein Zusammensein mit ihren Liebsten verzichten, obgleich die baldige Rückreise zu ihrer Heeresgruppe an der Somme ansteht, wird es einen wichtigen Grund für unser Treffen geben. Zuallererst möchte ich mich für das Vertrauen bedanken, dass sie mir hiermit entgegenbringen, und ihnen meine vollkommene Verschwiegenheit zusichern.”

„Mein lieber Stresemann, danke dafür. Sie machen es mir leicht, gleich zum Kern der Sache zu kommen. Aber eine Vorbemerkung ist mir wichtig. Sie mögen glauben, ich lüde sie als den Vorsitzenden der Nationalliberalen Reichstagsfraktion ein. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht so ganz. Ich möchte mit ihnen sprechen, weil ich in unserem letzten Gespräch im kleinen Kreise mit dem Generalquartiermeister und Oberst Bauer tiefes Vertrauen zu ihnen gefunden habe. Zugleich war ich sehr angenehm berührt von der großen Verantwortung, die sie für die Zukunft unseres Volkes empfinden. Auch wenn wir in einer Frage - nämlich den Erzen von Longwy / Briey - nicht übereinstimmen, betrachte ich dies, vielleicht anders als die Herren Kommerzienräte Hugenberg und Stinnes, als eine Detailfrage.”

Der Kronprinz lächelt bei diesen letzten Worten und deutet mir damit an, dass es keine vollständige Übereinstimmung in der Gewichtung der Ziele zwischen ihm und den Ruhrbaronen gibt. Ich könnte vor Freude in die Hände klatschen, so sehr erleichtert mich diese Erkenntnis, die kaum mehr ist als der Ausfluss eines einzigen Nebensatzes und einer winzigen Miene.

„Warum ich sie heute zu mir gebeten habe, hat zunächst gar nichts mit den Herren Hugenberg und Konsorten und auch nicht mit seinen Exzellenzen Hindenburg und Ludendorff zu tun. All diese Personen spielen nur sehr mittelbar hinein. Im Kern der Sache geht es um mein Verhältnis zu meinem Herrn Vater und damit selbstverständlich um die elementaren Interessen des Deutschen Reiches und deren wirkungsvolle Wahrnehmung in der nächsten Zukunft.”

Mir stockt der Atem und mein Puls schnellt in die Höhe. Ich spüre sogar meine rechte Halsschlagader plötzlich heftig pochen. Welch eine Gunst mir der Kronprinz erweist! Er hat eine Meinungsverschiedenheit mit Seiner Majestät und zieht mich zu Rate. Ich bin glücklich, an diesem Nachmittag im Schloss Cecilienhof sitzen zu dürfen.

„Womit fange ich an, lieber Doktor Stresemann? Nachdem wir uns im Mai im Stadtschloss trafen, ist eine Menge passiert. Ich selbst habe im Juli eindeutig für die Entlassung Bethmann-Hollwegs votiert. Anders als sie, der sie klare Ziele für einen großartigen Frieden verfolgen, war Bethmann nur noch passiv, ja ich möchte sogar sagen resignativ. Das galt zuerst für die erzbergersche Friedensresolution, deren Umsetzung dem Reich jede Zukunft nähme. Das gleiche galt für das gleiche Wahlrecht in Preußen schon im Kriege, so dass wir bei einem leichtfertigen Nachgeben jeder Erpressung von SPD und Gewerkschaften hilflos ausgeliefert wären. Deshalb habe ich mich mit Hindenburg und Ludendorff bei meinem Vater für die Entlassung Bethmann-Hollwegs ausgesprochen. Dann hatte ich in der knappen Folgezeit nichts mit der Berufung von Michaelis zu tun. Doch der erwies sich als Bürokrat ohne Phantasie und Fortune. Ich bin froh, dass er inzwischen auch wieder entlassen ist. Und obwohl ich damit nun auch gar nichts zu tun hatte, bildete der doppelte Kanzlerwechsel des zurückliegenden Jahres den Ausgangspunkt eines Streits, den ich mit dem Kaiser hatte.”

Wilhelm macht eine lange Pause. Er schwenkt seinen Kognak, trinkt einen kleinen Schluck, stellt das Glas ab, greift zur Zigarre, die er in aller Seelenruhe anschneidet und sich sodann anzündet. Meine Neugierde wächst. Meine Ungeduld drückt sich in dem Schweiß aus, den ich in meinen Handflächen fühle. Das zwingt mich dazu, ruhig und gleichmäßig einzuatmen und mit scheinbar gelassenem Lächeln um die Lippen abzuwarten. Dann spricht der Kronprinz weiter.

 

„Es war folgendermaßen: Am ersten Weihnachtstag fand mittags das Zusammentreffen der gesamten kaiserlichen Familie im Stadtschloss statt. Wie stets zu Weihnachten waren die Kinder aufgeregt und warteten ungeduldig auf die Bescherung. Mein Vater brachte größte innere Ruhe zum Ausdruck und wahre Freude über das Wiedersehen mit all seinen Enkeln, die in den letzten Monaten zum Teil auch in Schlesien und Westpreußen ihren Aufenthalt hatten. Nach der Andacht folgte erst die Bescherung, dann das Mittagessen. In gemessenen Worten begrüßte der Kaiser die Schar und gab sich als geselliger Gastgeber. Nach dem Essen wechselten wir in den Musiksalon und hörten ein abwechslungsreiches Konzert der verschiedensten Familienmitglieder, die sich rühmen ein Instrument zu beherrschen. Es begann mit den Kleinsten, denen mein Vater mit größtem Interesse lauschte. Als aber die Enkel ihr Vorspiel beendet hatten, bedeutete er mir, mit ihm den Salon zu verlassen. Er schien zunächst bestens gelaunt und sprach mich auf dem Weg in sein Arbeitszimmer sogar mit Lieber Willi an. Dort angelangt wurde er ernster und forderte mich auf, gemeinsam mit ihm einen Rückblick auf 1917 zu halten. Ich nickte und zögerte zugleich damit, das Gespräch zu beginnen. Zu neugierig war ich darauf, ob mein Vater, den ich Ludendorff gegenüber jüngst reichlich despektierlich noch den Zauderer genannt hatte, denn wohl mit einer pointierten Bewertung starten wolle.

Es sei vielleicht ein grober Fehler gewesen, den alten, verdienten Bethmann nach acht Jahren der Kanzlerschaft zurück auf sein Landgut in die Mark Brandenburg zu schiken. So begann mein Vater das Gespräch. Nach langer Zeit der Verlässlichkeit sei nun eine unschöne Bewegung in das Erscheinungsbild der Reichsregierung geraten. Es habe ihn geärgert, Michaelis auch schon wieder nach nur gut drei Monaten entlassen zu müssen. Was sollen nur unsere Feinde, aber ebenso unser eigenes Volk, der einfache Mann auf der Straße, von der Monarchie denken, wenn die Kanzler jetzt beginnen zu wechseln wie die Jahreszeiten.

Ich wurde unruhig. Auch wenn es keinen direkten Vorwurf gab, fühlte ich mich herausgefordert. War ich es doch, der im Juni/Juli des zurückliegenden Jahres voller Unverständnis auf das Taktieren des Kanzlers reagiert, mich mit der OHL wechselseitig aufgepeitscht hatte. Ich hegte unbestreitbar eine nicht nur sachlich, sondern ebenso emotional unterfütterte Abneigung gegen den flauen Theobald. Und dann gingen mit mir die Pferde durch! Jawohl, ich möchte es ihnen gegenüber sehr freimütig zugeben und schildern, lieber Doktor Stresemann, im Vertrauen auf ihre absolute Verschwiegenheit. Ich war dann nicht ganz fair und habe meinen Vater geradezu angegriffen. Es tut mir sogar Leid im Nachhinein. Aber nun ja, es ist geschehen und wird auch nicht wieder rückgängig gemacht. Wir beide sollten nach meiner Schilderung freundschaftlich beraten, welche Folgen der Disput haben könnte.”

Freundschaftlich hat Kronprinz Wilhelm gesagt. Ich fühlte mich geschmeichelt. Ich befürchtete zugleich, dass die angedeuteten Konsequenzen von großer Tragweite für das nun beginnende vierte Kriegsjahr sein würden.

„ `Du bist der Kaiser der Unentschlossenheit! Und statt daran etwas ändern zu wollen, machst du all jenen auch noch Vorwürfe, die den Mut aufbringen, klar in die Zukunft zu schauen, und dir dafür feste Empfehlungen geben. Mache bitte weder die OHL noch mich dafür verantwortlich, wenn Deutschland nach mehr als drei Jahren des Krieges immer noch ohne Sieg dasteht!`

So unvermittelt habe ich meine Erwiderung auf die bisher ja durchaus moderat ausgefallene Eröffnung des Gespräches durch den Kaiser begonnen. Und es geht von meiner Seite genau so weiter, ohne Rücksicht darauf, dass ich mit meinem ehrwürdigen Herrn Papa disputiere.

`Es war nicht zuletzt dein Handeln oder Nicht-Handeln, das die Lage des Reiches seit 1914 immer wieder verschlechtert hat. Daran können wir nicht mehr vorbei sehen, lieber Papa!

Dieses lieber Papa wirkte auf mich selbst wie der reinste Widerspruch zu Inhalt und Tonfall meiner Worte. Vielleicht wollte ich zum Mindesten den kleinsten Versuch unternehmen, eine unnötige Verschärfung der Atmosphäre zu vermeiden. Doch mit einem Mal, lieber Doktor Stresemann, hatte ich mich in den Disput geworfen und es gab kein zurück mehr. Um ehrlich zu sein, nachdem ich die Stimmung gründlich verdorben hatte, wollte ich sogar die Gelegenheit nutzen, um meine Vorstellungen und Wünsche einmal los zu werden. Ich stellte mir vor, wie ich wohl handelte, wäre ich selbst der Kaiser. Während des folgenden Monologs beschlich mich wohl die Einsicht, dass es immer leichter sei, von außen harsches Vorgehen zu fordern, als wenn man selbst die volle und letzte Verantwortung für unser Volk trüge. Doch unbeschadet dessen wählte ich den Parforceritt!”

Der Kronprinz wirkt zwar äußerlich ruhig, doch nicht wirklich innerlich ausgeglichen und auch nicht restlos davon überzeugt, dass die Welt so klar und vermeintlich einfach sei, wie es seiner anschließenden Rede zu entnehmen sein wird. Ich fühle mich ihm in all seinen Zweifeln nahe. In meiner Fraktion gibt es nicht wenige Stimmen, die ähnlich denken und dem Kaiser eine Mitschuld am bisherigen Kriegsverlauf geben, die ihn überdies für schwach halten in personellen Dingen, also bei der Auswahl von Reichskanzlern und Heeresführern sowie bei der Entscheidung über den Zeitpunkt von Wechseln. Vor allem aber stimme ich mit dem Kronprinzen in einer zentralen Beurteilung überein: Seine Majestät ließe sich seit jeher von seinen Beratern, von seinem Hofstab und seinem Zivilkabinett viel zu sehr treiben oder bevormunden! Die Führungsschichten des Reiches haben anders als bis 1913 die Gewissheit verloren, dass ihr Kaiser Herr der Lage sei, um das Reich mit einem klaren und zielstrebigen Plan zum Sieg zu führen. Somit verstehe ich den Ansatz für die Kritik des Kronprinzen nur zu gut. Und ebenfalls empfinde ich seine innere Zerrissenheit mit: Dem eigenen, geschätzten und vielleicht gar geliebten Vater aus Staatsräson persönliche Vorwürfe machen zu müssen, und dann auch noch ausgerechnet am Fest des Friedens und der Familie, zu Weihnachten, kann natürlich keine Freude und innere Zufriedenheit geben! Doch sogleich muss ich mich erneut auf die Worte Wilhelms konzentrieren.

“Ich fing beinahe bei Adam und Eva an, lieber Doktor Stresemann, also im Jahr 1913: ˊLieber Papa, in der Generalität gab es anlässlich des Begräbnisses des großen Schlieffen laute und warnende Stimmen, dass die fortlaufende Veränderung des Planes für den doppelten Krieg gegen Frankreich und Russland Risiken mit sich bringe. Weißt du noch, was Feldmarschall Schlieffen aus seinem Ruhestand immer wieder mahnend forderte: Macht mir den rechten Flügel stark! - Warum wohl? Er kannte die Gefahr, dass mit der russischen Heeresaufstockung immer mehr deutsche Divisionen nach Osten geschickt würden und uns dann fehlen würden, um im Westen Paris einzukreisen und zu nehmen, und gleichzeitig noch eine irgend geartete Front bis zur Kanalküste aufrecht zu erhalten. Schlieffens Plan sah zu Beginn ein Kräfteverhältnis von sieben zu eins vor. Und was machte dieser Moltke daraus? Drei zu eins! Das war doch schon Wahnsinn, als unser Aufmarsch begann!

Du, lieber Papa, hast den jüngeren Moltke gemocht. Ich will gerne zubilligen: Auf mich traf dies anfangs ebenfalls zu. Aber du hast dir das kühle Urteil von der Sympathie verstellen lassen und alle Mahner überhört, die 1913 und 1914 dem Generalstabschef die Fähigkeit absprachen, den großen Krieg so erfolgreich zu gewinnen wie sein Großonkel unser Heer 1866 und 1870 geführt hatte.ˋ

Daraufhin wiegelte der Kaiser mit einer laschen Handbewegung ab und fragte resigniert: “Was sollen denn die ollen Kamellen, mein lieber Willi?” Auf solch eine Antwort hatte ich nur gewartet. Sie signalisierte mir, dass ich in der Vorwärtsbewegung, er aber hoffnungslos in der Defensive war. Also setzte ich nach:

“Moltke hat den fatalen Fehler begangen, ausgerechnet Anfang September, als im Westen die Entscheidung über die Einnahme von Paris fiel, ein ganzes Armeekorps zu Hindenburg nach Ostpreußen zu entsenden. Der Fall liegt doch wohl klar: Moltke verlor die Nerven, genau zu dem Zeitpunkt, als es darauf ankam, ein kaltes Hinterteil zu beweisen. Und was hast du unternommen? Nichts, wenn ich das richtig sehe. Der Kaiser blieb bis auf eine kurze Stippvisite im Hauptquartier in Spa in Berlin und überließ seinem Heeresführer alle Entscheidungen. Papa, ein Friedrich der Große wäre im August nach Spa gereist und hätte seinen Generalstab nicht mehr eine Minute aus den Augen gelassen! Das hätte die Verantwortung vor der Geschichte von dir verlangt!”

Seine Majestät sah mich bei meinem Vortag zuweilen entgeistert, zuweilen auch zu innerem Widerspruch gereizt an. Lieber Stresemann, mir ging es nun darum, in das Jahr 1917 zu springen. Eigentlich wollte ich damit die Welt der Vorhaltungen hinter mir lassen und zur Welt der Zukunft hinüberwechseln. Zu Falkenhayn und der zweiten OHL verlor ich nur einen Satz, nämlich dass der Generalstabschef kein Mittel ersonnen habe, die Front im Westen zu knacken. Immerhin wusste er, wie er sich 1915 an der Somme der gegnerischen Übermacht zu erwehren hatte. Die Einsetzung der dritten OHL bezeichnete ich dann ausdrücklich als richtig, wobei ja eigentlich nicht der alte Hindenburg, sondern der frische Ludendorff der starke Mann sei. Der habe auch den nötigen Machtinstinkt, um sich mit den Größen der Schwerindustrie zu verbünden. Ich sagte dann ein wenig versöhnlich:

ˊPapa, ich werfe dir doch nicht vor, dass du die zweite und die dritte OHL berufen hast. Es hätte vielleicht besser, es hätte indes auch viel schlechter kommen können. Was ich aber für die Aufgabe des Monarchen in der Krise erachte, ist Folgendes: wie der Kapitän ganz oben auf der Brücke zu stehen, damit die gesamte Mannschaft die Ruhe spürt, die vom Chef ausgeht, wenn es augenscheinlich eng wird. Der Juli 17 brachte die schwerste innere Krise seit Kriegsbeginn mit sich. Du aber hast dich seit der Osterbotschaft nicht mehr an dein Volk gewandt. Die Ereignisse nahmen mit Erzbergers Resolutionsentwurf Fahrt auf. Du und ich, Ludendorff und Stresemannˋ- jawohl, ihren Namen, lieber Herr Doktor, wollte ich einführen - ˊjedenfalls die intimen Kenner des Reiches wussten doch schon im Juni, dass Bethmann zum Frieden auf der Basis des Status quo ante tendierte. Hättest du ihn zum Rücktritt gezwungen, bevor Erzberger seine Resolution einbrachte, und einen starken Reichskanzler mit unverbrüchlicher vaterländischer Gesinnung ernannt, dann wären der ganze Spuk, die Aufregung im Inneren, das unglückliche Signal an unsere Feinde, dass die deutsche Reichsregierung unter den weltweit gültigen Bedingungen des Sommers 1917 auf einen Gestaltungsfrieden verzichten wolle, zerplatzt, bevor sie überhaupt wie ein böser Geist die Flasche verließen! Sie hören, Stressemann, ich war mächtig in Fahrt.

Kronprinz Wilhelm macht eine Pause, legt die Zigarre bei Seite und fordert mich auf, von der hervorragenden Herrentorte zu probieren. Er lächelt auf ein Mal. Die beherzte Erzählung hat seinen Geist befreit. Je energischer er von seinen Forderungen an den Regenten berichtet, um so selbstsicherer ist er geworden, in dem Schlagabtausch das Richtige, das Unvermeidbare verlangt zu haben. Doch bisher ging es ausschließlich um die Vergangenheit. Und ich war mir sicher, dass der Kronprinz mich nicht heute Nachmittag zu sich gebeten hatte, um sich in vaterländischem Pathos oder in zwischen uns konsensualen Wahrheiten über die Vergangenheit zu ergehen. Doch eine andere Frage brannte mir zusehends unter den Nägeln:

„Und Seine Majestät der Kaiser hat das alles, ihre ausführlichen Erläuterungen, kaiserliche Hoheit, mehr oder minder widerspruchslos über sich ergehen lassen?”

„Aber selbstverständlich nicht, lieber Doktor Stresemann. Mein Vater schien mir zuerst überrascht, dann entsetzt, dann einfach nur still auf meine Vorhaltungen zu reagieren. Doch als ich mit der Entlassung Bethmanns fertig wurde, kehrte ein Leuchten in seine bis dahin traurigen, müden Augen zurück. Und dann zuckte ich tatsächlich zusammen und blieb ganz still, um der urplötzlich zurückgekehrten Autorität des Kaisers, des mächtigsten Monarchen Europas zu lauschen:

`Willi, was erlaubst du dir gegenüber deinem Vater und deinem Kaiser! Zügele deine Zunge und bedenke, dass du heute noch ein niemand bist. Solange ich lebe, hat der Kronprinz in bedingungsloser Treue zum Monarchen zu stehen. Du selbst wähltest eben den Vergleich mit Friedrich dem Großen. Doch ich sage dir, zu seiner Zeit war Friedrich seinem Vater auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Worte wie deine hätten ihn ins Zuchthaus, in die Verbannung oder gar zur Exekution gebracht!

 

Wohl sei dir, dass wir im 20. Jahrhundert leben und nicht mehr im 18.! Jetzt aber schweige und höre mir zu. Ich verlange von dir Respekt und Treue. So wie ich deine Leistung an der Spitze deiner Heeresgruppe schätze, obgleich dein Stab dir etwas mehr abnehmen mag als dies bei den übrigen Armeen der Fall sein wird.ˋ

Diese Spitze tat mir weh, Herr Doktor Stresemann. Der Kaiser fuhr fort:

`verlange ich von dir absolute, bedingungslose Treue und Loyalität gegenüber deinem Herrscher. Das verlange ich nicht deshalb, weil ich dein gealterter Vater bin. Allein der Umstand, dass du ein reifer Mann geworden bist und glauben magst, du wüsstest es jetzt besser als die Generation der Alten, gibt dir nicht das Recht, mich zu belehren, mir Vorwürfe zu machen, mich zu verurteilen! Deshalb warne ich dich mit brutaler Klarheit, mein Sohn Wilhelm. Höre ich noch ein einziges Mal in diesem Tone von dir, so entziehe ich dir dein Kommando und verurteile dich zur Untätigkeit auf deinem Landsitz Oels in Schlesien, solange, bis der Krieg beendet und die Gefahr für die innere und äußere Einigkeit unseres Vaterlandes gebannt sein wird.´

Die Drohung, lieber Doktor Stresemann, verschlug mir für kurze Zeit den Atem. Von meinem zaudernden Vater hatte ich viel erwartet, etwa Vorwürfe, Mahnungen, eine Verteidigungsrede. Nicht aber, dass er mich im Alter von 35 Jahren wie einen Buben behandelte und androhte, mich gleichsam unter Hausarrest zu stellen, mich, seinen im Volk beliebten Nachfolger und den anerkannten Heerführer der Truppen bei Verdun und nun an der Somme! Ich blieb still. Und tatsächlich schlug die Stimme des Kaisers in Sanftheit um:

`Was ich dir, mein lieber Sohn, hingegen zugute halte, ist der Takt, mich zwar zur Rede zu stellen, dafür aber einzig und allein eine Situation zu suchen, die unter vier Augen stattfindet. Ich wünsche von dir, dass die deutsche Öffentlichkeit und ebenso die Oberste Heeresleitung von deinen Ansichten ebenso wenig erfährt wie davon, dass diese Unterredung jemals stattgefunden hat.`”

Mein sich anschließender Augenaufschlag scheint Bände zu sprechen. Der Kronprinz schmunzelt. Er zündet sich genussvoll erneut die noch zur Hälfte ungerauchte Zigarre an und blickt mir lange in die Augen.

„Der einzige Mensch, dem ich bisher und vor ihnen von meinem Streitgespräch mit meinem Vater erzählte, ist meine liebe Gattin Cecilie. Betrachten sie es als Ausdruck unseres persönlichen Umgangs miteinander, dass ich ihnen auch davon kurz berichte. Es ist mir ein Bedürfnis, nicht zuletzt wegen der Anerkennung, die ich meiner Frau damit zollen möchte. Ich musste gestern Abend schlichtweg los werden, was mich beschäftigte. Nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren, fragte ich recht unverbindlich nach, ob meine Frau noch die Frische aufbrächte, mir mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Cecilie zeigte sich hoch erfreut über die ihr damit zu Teil werdende Anerkennung und lauschte äußerst geduldig meinem Bericht. Als ich geendet hatte, wartete ich einen Moment ab, ob meine Frau eine Bemerkung machen wollte. Das war nicht der Fall. Also begann ich selbst mit der Bewertung. Ich rügte mich als zu forsch, zuweilen beleidigend im Ton des Vortrags. Zugleich rechtfertigte ich mein Handeln, indem ich zu jedem sachlichen Argument stünde, das ich vorgebracht hätte.

Jetzt unterbrach mich meine Gattin. Cecilie billigte mir ohne Zweifel das Recht zu, ein kritisches und offenes Gespräch mit Seiner Majestät zu suchen. Hingegen verlangte sie mir mehr Respekt vor dem Alter und der Lebenserfahrung meines Vaters ab. Es fiel der Satz:

`Es mag Wilhelm selbstgerecht erschienen sein, dass du seine Regentschaft seit 1913 so durchgehend negativ beurteiltest. Es ist doch stets einfacher, aus der Rückschau die Dinge einzuordnen als in der akuten Entscheidungssituation des welthistorischen Augenblicks, den zum Beispiel die Kriegserklärungen der Mächte Anfang August 1914 bildeten. Prüfe dich bitte selbst, lieber Willi. Ist dir nicht ebenfalls seitdem das eine oder andere Fehlurteil unterlaufen?´

Selten hatte meine Gattin bisher in diesen Worten mit mir gesprochen. Es war ein schönes Gefühl, in ihr diese Nachdenklichkeit, diesen Geist anzutreffen. So versetzte mich meine Cecilie in die Stimmung, durchaus ein wenig Selbstkritik zu üben. Plötzlich hörte ich mich selbst sagen, ich sei zwar ein großer Freund der dritten OHL, doch die beiden Herren Hindenburg und Ludendorff machten leider auch nicht alles richtig. Ebenso wie sie und viele andere in Deutschland hätte ich auf die Wirkung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges gegen England vertraut und fatalerweise die Gefahr unterschätzt, die von der Provokation ausging, die wir damit gegenüber den Vereinigten Staaten wagten. Aus heutiger Sicht billigte ich meiner Gattin zu, es sei ein Fehler gewesen, den U-Boot-Krieg als totalen Krieg wieder aufzunehmen. Wir stünden heute besser da, falls die USA weiter neutral wären.“

Mit den letzten Sätzen des Kronprinzen gewinnt das Bild, das ich mir bislang von ihm gemacht habe, weitere wichtige und facettenreiche Züge hinzu. Dieser Mann ist für mich von nun an viel mehr als ein Vertreter der alten preußischen Elite. Wilhelms Fähigkeit und Offenheit zur Selbstkritik sowie seine sehr sympathische Äußerung zur Persönlichkeit seiner Gattin Cecilie hinterlassen bei mir den gesicherten Eindruck eines Mannes, der mit beiden Beinen fest in der Moderne des 20. Jahrhunderts stehe und von daher auch die Fähigkeit mitbringen werde, zu gegebener Zeit die Zukunft unseres großen Volkes zu gestalten.

Der Kronprinz blinzelt mich aufmerksam an. Er scheint zu erraten, dass ich in meinen Gedanken ein wenig abgeschweift bin. Ebenso scheint er mir bewusst und gerne die Zeit dazu einzuräumen. Erst als ich ihm wieder mit voller Aufmerksamkeit ins Gesicht schaue, spricht Wilhelm weiter.

„Sie fragen sich jetzt natürlich, wie ich es nur wagen kann, trotz der deutlichen Warnung Seiner Majestät vor jeder Indiskretion über meine Unterredung mit ihm dennoch heute dieses Gespräch mit ihnen zu führen. Die Verwunderung ist berechtigt. Sie vermag ich jedoch gleich aufzulösen, wenn ich ihnen die Ereignisse bis zum gestrigen Tage berichte. Denn gestern hat - als Ausfluss des Streitgespräches mit meinem Vater - auf Veranlassung des Kaisers der Kronrat getagt und bedeutsame Weichenstellungen vorgenommen. Diese sind der letzte Grund dafür, warum ich so viel Wert darauf legte, heute mit ihnen zusammen zu kommen. Aber greifen wir den Ereignissen bitte nicht vor. Zur Sache selbst, lieber Doktor Stresemann, nur Folgendes: Durch unsere tief schürfende Unterredung im Mai 1917 und die seitdem von uns allseits darüber gewahrte Verschwiegenheit sind sie nicht mehr ein Teil der deutschen Öffentlichkeit, sondern mein Vertrauter, mit dem ich mich berate und von dem keinerlei Gefahr ausgeht, dass die Berliner Neuesten Nachrichten oder sonst wer in der Presse davon erfährt.”