1918 - Wilhelm und Wilson

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Oberst Bauer schwenkt mit einem Lächeln um die Lippen sein Kognakglas in die Runde, trinkt und lehnt sich wie in Zeitlupe zurück. Walther Rathenau, unter uns wohl der beste Kenner der Verhältnisse in unserer Industrie, blickt skeptisch drein, hält sich aber mit einem Wortbeitrag zurück. Ich habe mir zuvor vorgenommen, keinesfalls als erster zu sprechen. Albert Ballin, ein Fan des Kaisers wie des Kronprinzen, sieht diesen unverwandt an und erhofft sich eine Aussage. Kommerzienrat Stinnes dagegen lehnt entspannt und zufrieden im Sofa, pafft an seiner Zigarre, schmunzelt und blickt durch den ausgeatmeten Rauch schräg gegen die hohe Decke des Salons, als Wilhelm spricht.

„Phänomenal, mein lieber Oberst Bauer. Wohl der Armee, die Männer wie den Generalfeldmarschall, Generalleutnant Ludendorff und selbstverständlich auch sie an ihrer Spitze weiß! Sie haben eine wahrlich große Strategie. Und sie verfolgen diese Strategie konsequent mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. Da ist das Hilfsdienstgesetz im Inneren, da war der plombierte Wagon für die Revolutionäre um diesen Lenin und da ist zum dritten die Verlegung von vielleicht an die einhundert Divisionen aus dem Osten nach Frankreich, um endlich auf Paris zu marschieren und die Front an der Marne zu zerreißen!

Mein lieber Doktor Stresemann, angesichts dieser Konsequenz und Genialität unserer Truppenführer, meinen sie nicht auch, dass wir da auf keines unserer vitalen Kriegsziele für die Gestaltung Europas verzichten sollten? Vor allem nicht auf Land im Westen, auf Belgien und die Rohstoffbasis der französischen Eisenindustrie? Sie brauchen jetzt gar nichts zu sagen. Ich sehe schon, dass sie sich mit Herrn Stinnes da völlig einig sind.

So, meine Herren, auch wenn es mir heute Abend nicht noch ein zweites Mal gelingen wird, eine so anregende Gesellschaft wie die ihre aufzutun, habe ich doch noch die eine oder andere Pflicht als Quasi-Gastgeber zu erfüllen. Und bevor ich mir einen Rüffel meines wehrten Herrn Papa einhandele, kehre ich nun doch lieber in den Ballsaal zurück und lege nochmals eine beschwingte Sohle aufs Parkett. Bitte entschuldigen sie mich, oder aber noch besser, begleiten sie mich gleich in den Nachbarsalon und stürzen sie sich erneut in die heiteren Gespräche der Ballgesellschaft! Denn nicht ganz Berlin will heute etwas vom Krieg und dem angestrebten Weg zu seinem Ende wissen.”

Wilhelm strahlt uns unbeschwert der Reihe nach an, erhebt sich und lässt mit ausgebreiteten Armen eine weite Geste folgen, um uns allesamt mit in den Ballsaal zurückzugeleiten. Dort bietet sich uns wieder das herrliche Bild eines hell erleuchteten Saales mit fröhlichen Menschen in festlichen Gardeuniformen oder langen Ballkleidern. Ich lasse jeden Gedanken an eine Vertiefung unseres Gespräches mit dem Kronprinzen und Oberst Bauer im weiteren Verlaufe dieses Abends fallen. Mein Blick wandert versonnen durch den Raum bis er an einer Gruppe junger Offiziere und fröhlicher Hofdamen haften bleibt. An deren Rand unterhält sich Oberleutnant Ballin mit einer zierlichen schwarzhaarigen Dame im gelben Kleid. Dann aber wende ich mich Albert und Walther zu mit einer Bemerkung über ein recht belangloses Thema, nämlich wer aus der Berliner Presse womöglich eine Einladung zu diesem Fest erhalten haben mag.

Nachdem sich Helena von Griechenland und Oberleutnant der Artillerie Ballin zu Gesprächen innerhalb der Gruppe junger Leute voneinander entfernt haben, bittet die Prinzessin den Oberleutnant eine halbe Stunde darauf erneut um einen Tanz. Diese Aufforderung der Dame war zur damaligen Zeit in der Berliner Hofgesellschaft - vielleicht im Gegensatz zum zwangloseren Athen und wohl auch noch mehr als heute 1929 - derart außergewöhnlich, dass die umherstehenden jungen Damen des Hofes die Köpfe zusammen steckten und erneut lauthals tuschelten. Helena erkennt erst jetzt, dass sie wohl eine jener Konventionen missachtet hat, die in Berlin eine starre Gültigkeit besitzen. Zu Hause in Griechenland ist es zwar auch nicht unbedingt üblich, dass beim Ball eine Dame einen Herren auffordert. Doch das gilt eigentlich nur dann, wenn sich die Herrschaften noch nicht kennen. Doch so empfindet sie ihre neue Bekanntschaft zum Oberleutnant der Artillerie aus Hamburg nach nicht einmal zwei Stunden schon nicht mehr. Merkwürdig, stellt Helena für sich fest, Thorsten Ballin, dieser etwas schüchterne Großbürger, dem der Krieg und sein kleines Kommando zugleich eine gehörige Portion Selbstbewusstsein verliehen haben mögen, ist ihr nicht nur sympathisch. Er ist ihr sogar nah!

Auch Thorsten Ballin freut sich über diese gar nicht einmal so kleine Bekundung von Sympathie seitens seiner Herzensdame dieses Abends. Erneut stellt er für sich das bemerkenswerte Selbstbewusstsein Helenas fest und ist sich inzwischen sicher, dass diese junge Frau über einen besonderen Charakter, über eine erfrischende Offenheit trotz ihrer höfischen Erziehung verfügt. Thorsten Ballin weiß bei dem soeben aufgerufenen Tanz, wie gerne er sie nach diesem Abend wiedersehen würde. Er nimmt sich vor, ihr eine Einladung nach Hamburg auszusprechen, wenngleich das nun keineswegs üblich ist und wenngleich er natürlich nicht weiß, wann er selbst in der nächsten Zeit überhaupt in seiner Heimatstadt und nicht bei seinem Artillerie-Regiment weilen wird. Doch vorerst sind seine Gedanken abgelenkt. Nach dem Tanz gesellen sich Helena und er erneut zu der kleinen Gruppe junger Leute, der sie eben bereits angehörten. Zwei junge Männer, ebenso wie Oberleutnant Ballin Offiziere in Gardeuniform, beglückwünschen ihn zu seiner guten Tanzpartnerin. Schnell kommt man ins Gespräch über das jeweils eigene Regiment und die Heimatstadt. Thorsten Ballin überlässt Prinzessin Helena erneut und unbeschwert den Damen des Hofes, bis sich die jungen Damen und Herren zu einer größeren, gemeinsamen Gesprächsrunde zusammenfinden.

Als kurz darauf der Kronprinz aus dem Nachbarsalon kommend den Ballsaal betritt, zieht dies Thorsten Ballins Aufmerksamkeit auf sich. Ursache ist die kleine Gruppe von Männern, die ihn begleiten. Sein Vater ist dabei, dessen Freund Stresemann und zwei prominente Herren der deutschen Wirtschaft, der Kohlenindustrielle Stinnes und der Präsident der AEG Rathenau. Haben sie wohl über die weiteren Aussichten des Krieges gesprochen, über die Steigerung der Rüstung oder gar über den neuen Feind Amerika? Thorsten Ballin nimmt sich fest vor, seinen Vater auf der Rückfahrt nach Hamburg danach zu fragen. Jetzt fürs Erste aber will er sich eine Strategie ausdenken, Prinzessin Helena sowohl seinen Wunsch nach einem Wiedersehen als auch eine Kontaktmöglichkeit zu übermitteln, bevor der Abend zu Ende geht. Inzwischen haben sich seine beiden Gesprächspartner aus dem Staub gemacht, um eine neue Tanzpartnerin aufzufordern. Das gibt Thorsten Ballin die Gelegenheit, wieder zu Helena aufzuschließen.

„Ist das nicht faszinierend und ein wenig unwirklich, Herr Oberleutnant. Vor wenigen Tagen noch standen sie im Schlachtengewitter der Westfront. Und heute Abend dürfen sie ein Fest mit der kaiserlichen Familie und mit allen Annehmlichkeiten, wie sie uns sonst nur der Frieden zu bieten vermag, feiern.”

„Tatsächlich, es ist faszinierend. Und auch ich empfinde diesen Ball als etwas unwirklich. Kommt man von der Front zurück in die Heimat, dann bekommt man Schwierigkeiten mit jeder Form der Normalität im Alltag. Für mich jedenfalls ist nicht dieser Ball die Normalität, sondern mit meinen Kameraden in Wind und Wetter an unseren Geschützen zu stehen. Ich habe aber, damit sie das nicht falsch verstehen, jedes Verständnis dafür, wenn eine junge königliche Dame vom Hofe zwar an den Krieg das eine oder andere Mal denkt, aber als ihre Welt dann doch eher solch schöne Bälle der kaiserlichen Familie empfindet.”

Helena lächelt Oberleutnant Ballin bei dessen Worten an, als habe sie auf so etwas nur gewartet.

„Ganz so bin ich aber doch gar nicht, Herr Oberleutnant Ballin. Ich verschließe nicht die Augen vor dem Leiden an der Front, vor der Furcht der Frauen und Kinder daheim, ob die geliebten Männer gesund zurückkehren mögen. Ich sehe sehr wohl auch die harte Wirklichkeit für das normale Volk.”

„Wenn das so ist, Prinzessin, wünsche ich mir von ihnen einen Besuch bei mir in Hamburg. Dann könnten wir uns die sehr unterschiedlichen Wohnviertel meiner Heimatstadt erwandern und ein Gespür dafür entwickeln, wie sich das Leben der einfachen Familien durch den Krieg verändert hat. Sehr gerne würde ich sie in meiner Heimat Hamburg begrüßen und genügend Zeit haben, ihnen die Stadt zu zeigen.”

„Vielen herzlichen Dank für Ihre Einladung, Herr Oberleutnant. Grundsätzlich nehme ich mit Freuden an. Doch ich kann noch nicht absehen, ob meine kaiserliche Herrin es für mich als schicklich erachtet, zu ihnen nach Hamburg zu reisen.”

„Oh, da machen sie sich mal keine zu großen Sorgen. Mein Vater ist mit dem Kronprinzen und sogar mit dem Kaiser persönlich recht gut bekannt, ich sehe daher gute Chancen, sie einmal nur für kurze Zeit der Obhut ihrer kaiserlichen Hoheit zu entziehen.”

Helena lacht und nickt.

„Ja, dann bleibe ich sehr gespannt darauf, wie ihre Einladung ausfällt, mein lieber Herr Oberleutnant Ballin. Falls sie Erfolg haben sollten, dürfen sie mir gerne ihr schönes Hamburg zeigen.”

Diese Antwort ist mehr als Thorsten Ballin für heute zu hoffen gewagt hat. Er ist mit sich und Helena durchaus zufrieden und bringt sogar die Gelassenheit auf, fortan seiner Herzensdame wieder von der Seite zu weichen. Für den weiteren Abend wechseln Helena und Thorsten sowie die übrigen jungen Leute ihrer Gruppe das Thema und wenden sich so banalen Dingen zu wie dem Tanz, dem Essen oder gar so großen Dingen wie dem Studium und der Arbeit oder auch dem Gedanken an eine - stets standesgemäße und großartig gefeierte - Eheschließung samt Familiengründung nach diesem Kriege.

 

Zur gleichen Zeit an jenem Abend, es war bereits eine Stunde vor Mitternacht, geriet Albert Ballin in eine Unterredung zwischen zwei Parteifreunden. Hugo Stinnes und ich tauschten uns gerade über die Leistungen des heute Abend abwesenden Generalquartiermeisters aus. Albert Ballin stellte, wie er mir kurz darauf gestand, fasziniert fest, wie ruhig und selbstbewusst sein beinahe zwanzig Jahre jüngerer, seit der Übernahme des Fraktionsvorsitzes im Juli überaus einflussreicher Freund, wieder einmal agierte. Ihm persönlich war Stinnes arrogantes Auftreten, sein zur Schau getragener Anspruch auf die unbedingte Führungsrolle der Ruhrindustrie innerhalb der deutschen Wirtschaft, suspekt, unsympathisch, ja mehr als das. Ballin mied instinktiv das Gespräch im kleinen Kreise mit einem Mann, dem der Ruf vorauseilte, er kaufe jede Steinkohlenzeche auf, wenn sich nur eine Gelegenheit dazu biete. Ballin nahm Stinnes übrigens als einen Bruder im Geiste von Alfred Hugenberg wahr, der zweiten unbestrittenen Führungsfigur der Ruhrindustrie. Der Vorstandsvorsitzende von Krupp war wichtigster Financier sowohl des Alldeutschen Verbandes als auch der Nationalliberalen Partei. Trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge mit der HAPAG und der AEG konnten er, Ballin, und unser gemeinsamer Freund Walther Rathenau da keinesfalls an Einfluss mithalten. So spürte Albert Ballin seit der Berufung der dritten OHL ein wachsendes Unbehagen. Die Falken von der Ruhr mit ihren manches Mal überhand nehmenden Forderungen nach Land und deutscher Macht im Westen wie im Osten gewannen zuletzt zu viel Einfluss auf das politische Leben, auf Organisationen, die der militärischen wie der zivilen Reichsleitung nahe standen. Hinzu trat offenbar zu allem Überdruss die große Nähe in der Sache zwischen den Ruhrindustriellen und Erich Ludendorff. Angesichts der augenscheinlichen Behäbigkeit des Generalfeldmarschalls war der Quartiermeister bereits damals im September 1917 sicherlich die entscheidende Figur des Heeres. Die Übereinstimmung jener Herren darin, den Arbeitern sowohl im Betrieb als auch in Preußen nicht mehr Mitsprache einzuräumen, der feste Wille, dass der Krieg innenpolitisch nicht als Katalysator für Reformen wirken möge, vollzog Albert Ballin persönlich nicht nach. Seine monarchische Gesinnung, seine vaterländische Haltung hielten ihn nicht davon ab, die Zukunft Deutschlands gerade auch durch Reformen im Inneren zu sichern.

„Wir an der Ruhr sind sehr froh darüber, mit welcher Ernsthaftigkeit seine Exzellenz, der Generalquartiermeister, unsere nationalen Interessen in der Reichsleitung, gegenüber dem Reichskanzler und auch dem Kaiser vertritt. Zum Kronprinzen soll er, wie man so hört, ebenfalls beste Drähte unterhalten. Da können wir Nationalliberalen doch wohl augenblicklich recht zufrieden sein, nicht wahr, verehrter Herr Doktor Stresemann?

„In der Tat, ich bin, was die Kommunikation mit der Reichsleitung anbelangt, derzeit recht gut gestimmt. Ich persönlich stelle ebenso fest, dass die maßgeblichen Herren das Gespräch mit dem Fraktionsvorsitzenden durchaus suchen. Besonders wichtig ist mir aber, dass wir uns als Partei und als gesamte Nation noch mehr als bisher mit der Bestimmung dessen befassen, was denn nun die unverzichtbaren nationalen Interessen sind, die uns in den Frieden führen müssen.”

„Unverzichtbar, das ist, mit Verlaub gesagt, das falsche Wort, das falsche Maß, Herr Doktor Stresemann. Es geht doch nicht um das, was wir als Mindestmaß festlegen. Es geht doch wohl darum, was wir wollen, um Europa in Zukunft zu beherrschen. Der natürliche Vorsprung der deutschen Industrie gegenüber unseren Nachbarn in West und Ost muss durch den Frieden auf unabsehbare Zeit gefestigt werden. Da wollen wir doch nicht zu klein denken!”

„Verehrter Herr Kommerzienrat Stinnes, da haben sie vollkommen Recht und mich womöglich nur ein klein wenig missverstanden. Selbstverständlich wird das Deutsche Reich nur dann einem Friedensschluss zustimmen, wenn dieser die Lebensgrundlagen unserer Nation festigt und ausbaut. Wir sind das größte Volk Europas und unsere Industrie ist nach derjenigen der Vereinigten Staaten die größte und modernste der Welt. Das gibt uns das Recht, für die Zukunft Märkte zu erstreben, die den Wohlstand von 70, 80, irgendwann einmal 100 Millionen Bürgern unseres Reiches sicher stellen. So weit herrscht ganz ohne Frage Einigkeit zwischen allen maßgeblichen Herren der Nationalliberalen Partei, und allen Männen in der Wirtschaft, die uns unterstützen. Worüber wir aber vielleicht noch eindringlicher reden müssen, sind die Gegebenheiten, die abzuwägenden Eventualitäten, verehrter Herr Kommerzienrat, unter denen der Feind sich an den Verhandlungstisch mit uns setzen wird.”

„Mein lieber Doktor Stresemann, ihre Vorsicht und Weitsicht in allen Ehren. Sie sind Politiker und nicht Wirtschaftsführer, deshalb steht es ihnen vielleicht zu, derartige Überlegungen anzustellen. Ich sehe das hingegen - übrigens in völliger Übereinstimmung mit meinen Freunden Alfred Hugenberg und Albert Vögler als den Sprechern der Nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie - dann doch eher so wie Herr Generalleutnant Ludendorff. Bei meinem letzten Besuch im Großen Hauptquartier in Spa eröffnete er uns, Longwy und Briey seien bald, sehr bald deutsch. Das Hilfsdienstgesetz greife und es erhöhe sich die Produktion an Munition und Waffen. Vor allem aber gelte dies nicht für die Franzosen. Und die Engländer litten unter unserer U-Boot-Blockade. In dem Moment, in dem wir zig Divisionen aus dem Osten abziehen könnten, weil Russland zusammenbreche, sei auch im Westen der Krieg entschieden. Sie sehen, lieber Doktor Stresemann, ihre Sorgen um den Frieden sind nun wirklich unbegründet. Wir werden bekommen, was wir verlangen. Mehr als das, wir werden bekommen, was unser Volk für seine große Zukunft so dringend benötigt. Achten sie als unser Fraktionsvorsitzender eher einmal darauf, dass die Reichsregierung Michaelis nicht genau so zaudert wie dieser Bethmann-Hollweg. Es war unentschuldbar, dass der Reichskanzler a.D. ständig auf die restlose Durchsetzung der berechtigten Ansprüche Deutschlands einzig aus falscher Rücksicht auf die sogenannte Stimmung unter den europäischen Völkern gegenüber dem siegreichen Reiche verzichtete.”

Albert Ballin verspürte offenbar wenig Lust, gegen Stinnes Überheblichkeit und zur Schau getragene Zuversicht weiter anzurennen. Ein wenig hilflos sah er mich an. Das war ein Fehler! Denn Kommerzienrat Stinnes nahm dies sogleich als Aufforderung, mich mit der Frage zu überziehen, ob er und Ludendorff denn nicht die fraglos richtigen Schlüsse aus der Weltlage zögen. Inzwischen hatte sich Albert gefasst und setzte zu einem eindrucksvollen Statement an.

„Herr Kommerzienrat, ich schätze seine Exzellenz, Herrn Generalleutnant Ludendorff über alle Maßen. Seitdem der Generalfeldmarschall und er an der Spitze der OHL stehen, gibt es wieder eine Richtung und ein Ziel in diesem Land. Die Männer der Wirtschaft und der Politik und die Millionen Arbeiter und Soldaten wissen nun, wofür wir kämpfen, wofür wir die Zähne zusammenbeißen und jeden Tag hart arbeiten, wofür die Hausfrau den Gürtel enger schnallt und mit Rüben und Kartoffeln den Tisch deckt. Erst steigern wir die Produktion, so dass unsere Landser gefüllte Munitionsdepots haben. Dann greifen wir zum richtigen Zeitpunkt und mit der überlegenen Strategie einen Feind an, der schwächer wird.

Und dann, was passiert aber dann, mein verehrter Herr Stinnes?

Werden unsere glorreichen Truppen dann Paris erobert haben, in der Bretagne und an den Alpen stehen? Mit Verlaub, ich glaube das nicht. Wir können einen Achtungserfolg erringen, vielleicht Verdun nehmen und die Marne überschreiten. Der Feind würde dann einsehen, dass er uns in Frankreich niemals wird besiegen können. Die Entente wird dann wohl bereit sein, Frieden mit uns zu schließen, ohne deutsches Land aus dem Deutschen Reiche herausschneiden zu wollen. Aber die Entente wird uns dann noch lange nicht all das geben, was sie von der Ruhr in Lothringen und Belgien fordern. Sie sehen, ich bin kein Defätist, Herr Kommerzienrat. Ich bin Realist, und stelle mir deshalb fortwährend die Frage, wie wir aus diesem Kriege wieder herauskommen. Ich suche dabei nach neuen Wegen, um Deutschlands unbestrittenen Vorrang, unsere Suprematie in Europa zu wahren und dem Feind den Frieden ebenfalls schmackhaft zu machen. Ich möchte sie herzlich bitten, über meine Ansicht einmal in Ruhe nachzudenken und diese meine Worte einmal mit an die Ruhr zu nehmen und mit ihren Freunden zu erörtern.”

„Nun dann, Herr Ballin, nehmen sie aus dieser Runde nicht den Eindruck mit, ich gäbe ihnen unumwunden Recht. Ich bin sehr wohl davon überzeugt, dass die französische Armee noch zusammenbrechen und von uns bis vor die Alpen getrieben werden wird! Ich nehme indes ihre Worte dennoch mit zu den Herren Hugenberg, Vögler, Reusch und Thyssen. Denn wir an der Ruhr müssen schließlich auch wissen, wie sie vom Handel und von der Exportwirtschaft denken, und anschließend ihre Stimme gegenüber der Reichsleitung erheben. Wir werden uns schon unsere Gedanken darüber machen, welche Schlüsse wir daraus zu ziehen haben.”

Hugo Stinnes verabschiedete sich nun mit einem Lächeln von Albert Ballin und mir, um sich einer Gruppe um den Kronprinzen in einer anderen Region des Ballsaales zuzuwenden. Mir ging spontan der Gedanke durch den Kopf: Hoffentlich lässt sich seine kaiserliche Hoheit von diesen säbelrasselnden Alldeutschen, ob in Uniform in Spa oder im eleganten Anzug und als Herren über zehntausende von Arbeitern in den Zechen und Eisenhütten an der Ruhr, bloß nicht zu sehr einnehmen. Je schwächer der Kaiser wirkt, um so mehr hören die Ludendorffs, die Michaelis oder eben auch die Hugenbergs auf Kronprinz Wilhelm. Ich muss sehr darauf achten, dass mein Kontakt zu seiner kaiserlichen Hoheit nicht abreißt. Das wäre fatal, nicht nur für den Einfluss der Nationalliberalen Fraktion auf die Geschehnisse im Reich. Es wäre vielleicht noch fataler für die Chancen, zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Männern und vor allem mit dem richtigen Programm den Frieden zu gewinnen.

Ich kam nicht umhin, Albert etwas Sorgen beladen anzuschauen.

„War ich zu forsch, Gustav? Habe ich gar etwas Falsches gesagt?”

„Aber nein, lieber Albert! Du hast ja so Recht! Nur geht es mir so, dass ich Stinnes letzte Sätze mehr als Drohung denn als Anerkennung für deine Position verstehe. Er stimmt dir und mir nicht zu. Deshalb wird er mit seinen Freunden in der Ruhrlade darüber sprechen, wie er unseren Einfluss auf Ludendorff, den Kanzler und den Kronprinzen vermindern kann. Ich sage es dir, lieber Albert. Die Zeiten werden nicht einfacher für Leute wie dich, Walther oder mich, für realistisch denkende und zugleich national empfindende Leute eben, die versuchen, den Krieg zu einem guten Ende zu führen.”