1918 - Wilhelm und Wilson

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„Sehr verehrter Herr Generalquartiermeister, mir ist eines nicht verborgen geblieben. Sie und Generalmajor Hoffmann von der Ostfront haben eine solche Forderung erhoben. Auch die Konservativen mit ihrer lautstark vernehmbaren Junker-Fraktion unterstützen das natürlich aus gänzlich anderen, aus siedlungspolitischen Gründen. Hier gelangen wir indes an einen Punkt, der für die Grundfesten Europas, für die Philosophie der deutschen Außenpolitik in den Friedensverhandlungen alles entscheidend werden wird:

Eine neue Ordnung statt Land, aber das gegen einen echten, stabilen Frieden! Das ist mein Schlagwort. Dabei bitte ich sie, mich nicht misszuverstehen. Ich gedenke nicht, für Deutschland auf territoriale Erwerbungen zu verzichten. Doch sie sollen anders ausfallen als der Erwerb neuer Provinzen.”

„Haben sie das von Duisberg und Ballin oder auch von Rathenau?”

„Nein, nein, kaiserliche Hoheit. Ich tausche mich zwar des Öfteren mit allen drei von ihnen genannten Herren der deutschen Exportwirtschaft aus. Auf die eben von mir genannte Konklusion bin ich jedoch von selbst gekommen. Ich greife gerne die berechtigten Überlegungen von Herrn Generalleutnant Ludendorff auf: Das Heer verlangt nach strategisch sicheren Grenzen. Ob die Grenze zu Polen allerdings 50 Kilometer weiter westlich oder östlich verläuft, wird in dem Moment geradezu irrelevant, indem die Königreiche Polen und Preußen in Personalunion von der Dynastie der Hohenzollern regiert werden, indem Polen und Deutschland in einen Staatenbund unter deutscher Leitung eintreten, der eine gemeinsame Außenpolitik sicherstellt. Unser Grenzverlauf zu Polen hat dann gar keine strategische Bedeutung mehr, wenn Polen und Deutschland ein unauflösliches Militärbündnis eingehen, welches es dem deutschen Heere erlaubt, Garnisonen am Bug und in Galizien zu errichten, um von Osten her niemals wieder bedroht werden zu können.”

Es herrscht sekundenlanges Schweigen. Der Kronprinz greift zum eben servierten Kognak, schwenkt diesen im dickbauchigen Glas und sieht versonnen aus dem Fenster in eine unbestimmbare Ferne. Ludendorff scheint das Argument nicht zu gefallen, doch auch er schweigt. Oberst Bauer indes lässt die Körpersprache für sich selbst reden. Er lehnt sich entspannt zurück, spitzt den Mund zu einem zustimmenden Lächeln und blickt mich mit glänzenden Augen an. Ich bin mir trotzdem nicht sicher, was ich gerade davon zu halten habe. Schließlich gilt Bauer nicht nur als der Vertraute des Generalquartiermeisters. Er ist zugleich sein Verbindungsmann in die Stahl- und Rüstungsindustrie an der Ruhr. Und deren führende Männer fordern ja bekanntlich lieber und lautstark Land. Denn als Alternative dazu lehnen sie, wie sie es abfällig nennen „diplomatische Kinkerlitzchen und handelspolitische Blütenträume allein” rundweg ab. Mir kommt ein etwas verwegener Gedanke, der nach sofortiger Verwirklichung verlangt:

„Verehrter Oberst Bauer, ihnen eilt der Ruf voraus, über glänzende Verbindungen in die höchsten Kreise der Ruhrkonzerne zu verfügen. Das ist ja schließlich auch dringend nötig, um die Ausstattung unserer Truppen mit dem besten Kriegsgerät zu gewährleisten. Erscheint es ihnen verantwortbar, mir einen Eindruck davon zu verschaffen, welche Positionen die dortigen Herren zur Kriegszielstrategie ihnen gegenüber vertreten. Womöglich ist das ja nicht dasselbe, ob sie mit der Nationalliberalen Reichstagsfraktion sprechen oder aber mit der Obersten Heeresleitung.”

„Ja wirklich, ein guter Gedanke, Bauer. Doktor Stresemann hat völlig recht. Das würde mich als Vertreter der Krone auch sehr interessieren, ob Hugenbergs und Stinnes Forderungen im vertrauten Kreise mit ihnen gar keine Grenzen mehr kennen.”

Oberst Bauer sieht seinen Chef Ludendorff fragend, aber auch ein wenig auffordernd an. Der zuckt die Schultern und hebt dabei mit der Geste der Hilflosigkeit beide Arme. „Wenn der zukünftige Kaiser sie auffordert. aus vertraulichen Unterredungen zu berichten, Bauer, dann ist das für einen deutschen Offizier ein Befehl!”

Der Oberst schmunzelt und nickt. Unangenehm scheint ihm das nun nicht gerade zu sein, aus Sicht der OHL gegenüber einem Fremden vertrauliche bis brisante Inhalte offen zu legen. Ich habe bisher immer gedacht, Oberst Bauer sei eigentlich ein Mann der Schwerindustrie. Doch womöglich ist er einzig und allein ein Mann des Militärs, der vor allem anderen gewinnen will. Und wenn er das vielleicht nicht vollständig kann, der dann zumindest einen so glänzenden Friedensschluss befördern möchte, dass niemand in Deutschland der dritten Obersten Heeresleitung jemals einen fundierten Vorwurf würde machen können, das Ergebnis des Krieges sei nicht mit einem vollständigen Sieg gleichzusetzen. Falls man also den Verzicht auf Maximalforderungen fürderhin werde so darstellen können, dass sie der langfristigen Eintracht der Nationen Europas dienten, so werde es ein leichtes sein zu betonen, dass jener Friede in der Zukunft selbstverständlich und hauptsächlich einer bestimmten Macht, nämlich jener Kraft ihrer Ressourcen natürlichen Vormacht des Kontinents zugute kommen müsse. -Zumindest hoffe ich, dass Bauer ein wenig so denkt und wertet wie ich selbst. Es dürfte für die kommenden Monate nur von Vorteil sein, einen solch exzellenten Netzwerker an der Seite Hindenburgs und Ludendorffs, und eben auch des Kronprinzen, zu den eigenen Vertrauten und am besten sogar Verbündeten zählen zu dürfen. - Und sofort rufe ich mich innerlich selbst zur Ordnung. Gegenüber einem so gewieften Taktiker wie dem Obristen bleibt für mich stets Vorsicht das oberste Gebot, keineswegs aber Anbiederung!

„Kaiserliche Hoheit, meine Herren, seit Investitur der dritten Heeresleitung ist es meine Aufgabe, in regelmäßigen Gesprächen mit den großen Stahlproduzenten und Metallverarbeitern des Reiches die Versorgung der Truppe mit Waffen und Munition sowie mit logistischem Gerät sicher zu stellen. Dabei reise ich mindestens einmal im Monat in das rheinisch-westfälische Industrierevier. Die Vorsitzenden der Vorstände der großen Aktiengesellschaften, ob Hugenberg, Thyssen, Vögler, Stinnes oder Reusch, sie alle suchen häufig die Gelegenheit, um sich mit mir auszutauschen. Man könnte meinen, sie hofften darauf, mich als ihr Sprachrohr bei den Herren Exzellenzen Hindenburg und Ludendorff einsetzen zu können. Weit gefehlt, schließlich bin ich doch vornehmlich das Sprachrohr der OHL gegenüber den Ruhrbaronen!”

Oberst Bauer lacht mit blitzenden Zähnen und hellwachen Augen kurz auf. Seine Aufgabe als wichtiger Kurier der militärischen Reichsleitung macht ihm offenkundig richtiggehend Freude. Somit darf ich davon ausgehen, dass er seinen Auftrag mehr als nur gewissenhaft, dass er ihn mit Hingabe erfüllt und dabei zugleich noch mit politischen Überzeugungen versieht. Ohne Zweifel, Bauer gehört zu jenen Strippenziehern hinter den Kulissen, die ganz vorne in der zweiten Reihe der Machtgeflechte des Deutschen Reiches stehen!

„Lassen sie mich kurz von meinem letzten Besuch in Essen, bei Herrn Hugenberg erzählen, zumal Herr Hugo Stinnes gegen Ende des Gespräches sogar vom Krupp-Chef noch hinzugezogen wurde.”

Bei Nennung dieser beiden Namen - neben Albert Vögler und August Thyssen unbestritten die maßgeblichen Sprecher der Ruhrindustrie - steigt mein Aufmerksamkeitspegel ungemein. Wie oft sind sie in den letzten drei Jahren bei Ernst Bassermann und mir aufmarschiert, um ihre Forderungen nach der Annexion Belgiens mitsamt der französischen Kanalküste, aber vor allem des lothringischen Erzbeckens von Longwy und Briey, das direkt an Deutsch-Lothringen grenzt, zu untermauern. Sicher, die Herren von der Ruhr wollen auch den Mitteleuropäischen Zollbund. Aber primär streben sie die Beherrschung ihrer europäischen Konkurrenten über die direkte Kontrolle der hochwertigen französischen Minette-Erze an. Nun denn, da habe ich dank der von Walther Rathenau beauftragten Recherchen noch einen Pfeil im Köcher. Walther hat nämlich ausgerechnet beim Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, vis-a-vis zur Villa von Hugo Stinnes am dortigen Auberg, eine Untersuchung durchführen lassen zur Eignung chilenischer und schwedischer Erze. Und das Ergebnis kann sich wahrlich sehen lassen.

„Also, ich besuchte die Krupp-Zentrale in Essen-Altendorf zu Gesprächen über die Lieferung von Geschützen. Generaldirektor Alfred Hugenberg empfing mich nach den Verhandlungen mit seiner zweiten Konzernebene dann entre nous zum Abendessen. Er war bester Stimmung und sehr vertraut im Umgang. Sehr bald kam unser Gespräch auf seine Auffassung, die dritte OHL packe endlich den Stier bei den Hörnern und sei zur Mobilisierung aller nationalen Kräfte bereit, um bald den Sieg zu erringen. Von der Industrie seien mit dem Hilfsdienstgesetz schwere Opfer verlangt worden. Doch er sehe ein, dass wir die Arbeiterschaft bei Laune halten müssten. Für die Bereitschaft der Industrie, über die Grenze des Zumutbaren hinaus zu gehen, was die Einschränkung des Direktionsrechtes im Betrieb betreffe, habe die deutsche Industrie für die direkten Regelungen des Friedensschlusses ein weitreichendes Entgegenkommen verdient. Er meinte damit die Sicherstellung der Dominanz der deutschen Eisenindustrie über diejenige Frankreichs, und damit letztlich über ganz Kontinentaleuropa. Schließlich sei das Eisen die Grundlage aller übrigen industriellen Leistungsfähigkeit. Jene Vorherrschaft der deutschen Schwerindustrie sei leicht zu erreichen, indem wir den Franzosen zwar ihre Kohle beließen, ihnen aber die wichtigsten Minette nähmen durch die Eingliederung der entsprechenden Teile Französisch-Lothringens in das Reich. Auch Lille wollte er gemeinsam mit Belgien in das Reich eingliedern. Jede Form der direkten Herrschaft, des Landerwerbs durch das Reich, sei indirekter wirtschaftlicher Einflussnahme vorzuziehen. Lediglich dann, wenn die besagten Regionen nun überhaupt nicht mehr grenznah seien, müsse der französische Staat dem deutschen Kapital durch den Friedensvertrag ein Investitionsprivileg einräumen. Höchstens Franzosen selbst dürften dem gleichgestellt werden, aber auf keinen Fall ausländische Kapitalgeber. Hier meinte er explizit die Erzgruben der Normandie.

 

Als sodann Herr Hugo Stinnes in unserer Zweierrunde erschien, wechselten die Herren das Thema und wollten von mir wissen, ob ihr Eindruck ein richtiger sei, zwischen der zweiköpfigen Führungsspitze der Heeresleitung und dem Herrn Reichskanzler tue sich ein wachsender Gegensatz auf. Sie bezweifelten, dass Bethmann-Hollweg überhaupt mit Überzeugung hinter dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg stehe, weil er Angst vor Amerika habe. Sie deuteten recht unverhohlen an, die Exzellenzen Hindenburg und Ludendorff in jeder nur denkbaren Art und Weise zu unterstützen, um die Mobilisierung der Kriegswirtschaft zu beschleunigen, offensive Operationen des Heeres durchzuführen und einen Wechsel in der Kanzlerschaft zu erzwingen.”

Es ist doch nicht wahr! Das denke ich. Diese Falken von der Ruhr geben sich immer blumigeren Illusionen hin, was die materielle Fähigkeit unseres Heeres zu Offensiven anbelangt. Und das angesichts der größeren Mannschaftsstärke unserer Gegner. Und das angesichts des Zurückbleibens unserer Industrieproduktion hinter dem Vorkriegsstand. Und dann auch noch angesichts der wachsenden sozialen Unruhe im Land, auf die der letzte Hungerwinter und die Revolution in Russland erheblich verschärfend wirken. Was sollte da erst werden, falls die Vereinigten Staaten wirksam in den Krieg eintreten wollten? Ich bin sauer auf Hugenberg und seine Bande. Diese Ignoranz, immer nur in einem Korridor zu denken, der zwei Leitplanken hat. Die eine heißt: Was nicht sein kann, das nicht sein darf. Die andere lautet: Sieg und vorwärts! Da wir ja zu Hause an der Ruhr mit der Arbeiterschaft auch keine Kompromisse schließen, braucht es das Reich in der Welt erst recht nicht! Meinen stillen Ärger unterbricht der Kronprinz mit einer sehr offenherzigen Aussage.

„Dass Hugenberg Bethmann loswerden will, dass pfeifen die Spatzen in Berlin ja seit Monaten von den Dächern. Aber was will er denn anders haben? Ich bin ja nun bekanntermaßen auch kein Freund des Reichskanzlers. Doch mein Herr Papa hält schließlich an ihm fest. Wenn ich etwas unternehmen wollte, dann würde ich mir Herrn Ludendorff bei der Hand nehmen und beim Kaiser vorsprechen. Schließlich kann nur er ihn entlassen. Und dennoch weiß ich nicht, ob Hugenberg den geraden Weg, unverhohlen seine Forderung vortragend, in den letzten Wochen gegangen wäre.”

„Ich ebenfalls nicht, kaiserliche Hoheit. Doch die Idee finde ich gut, dass wir beide um eine Audienz bei ihrem Herrn Vater nachsuchen und sagen: Bethmann ist gegen die totale Mobilisierung der deutschen Wirtschaft für den Krieg. Bethmann hat überhaupt keine Idee mehr, wie er den Krieg gewinnen und beenden will, weder politisch noch militärisch. Das Land versinkt allmählich in Trostlosigkeit, schlimmer als dass, in Lethargie und Trott. So kann man doch nicht alle Kräfte zusammen bündeln für das große Finale! Wenn ich Bethmann etwas Entscheidendes vorwerfe, dann ist es das: Er ist einfach nicht in der Lage dazu, dass ein Ruck durch Deutschland geht, vom Stahlarbeiter bis zum Junker. Ich meine einen kräftigen Ruck, der alle zusammenschweißt für die große letzte Anstrengung zum Sieg.”

„Sehr verehrter Herr Generalquartiermeister, ich bitte sie darum, nicht all zu leichtfertig den Parolen aus Essen zu folgen, die letzte große Offensive sei möglich und werde den Feind bis an die Pyrenäen treiben.”

„Aber, aber, mein lieber Doktor Stresemann, ich bin verantwortliches Mitglied der OHL. Ich will und ich muss an die Kraft der deutschen Waffen, an unsere Fähigkeit glauben, eine den Krieg zu unseren Gunsten entscheidende Offensive auszuführen. Das gebieten mir mein Amt und mein Ethos als deutscher Offizier. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, das Reich könne sich nur noch verteidigen, es könne aber nicht mehr vorrücken.”

„Nein, nein, verehrter Herr Generalleutnant, ich meine das anders. Wir haben noch viele Chancen und Optionen. Nur schwindet unsere Kraft, im Westen den vollständigen Sieg zu erringen. Davon, ob wir hier in diesem Raum diese Beurteilung teilen, davon, ob wir uns das eingestehen, hängt so viel ab! Davon wird unsere Bereitschaft geprägt, unsere objektiven Sicherheitsbedürfnisse und Interessen mehr nüchtern zu analysieren und dann festzustellen: Das Reich kann auch dann die erste Macht Europas bleiben und an Gewicht gewinnen, wenn wir uns nicht vollumfänglich durchzusetzen vermögen sollten.”

„Das geht in Ordnung, lieber Stresemann. - Ich muss ein wenig auf die Uhr achten, meine Herren. Sie sind mir als Gäste lieb und teuer. Selten habe ich ein so anregendes und vielfältiges Gespräch geführt. Doch meine liebe Gattin wartet an diesem Abend noch auf mich, da ich endlich wieder einmal für mehrere Tage in Berlin weile. Private Pflichten, ein Dinné mit meinem Herrn Papa, sie verstehen. - Und doch, bevor wir auseinander gehen: Lieber Herr Doctor Stresemann, sie haben da eben etwas angedeutet. Wie sieht ihre Vorstellung von einem Frieden im Westen aus, der unsere Position in Europa und der Welt verbessert, ohne dass der Feind restlos geschlagen ist, ohne dass die Ziele von Herrn Hugenberg allesamt auf dem gedruckten Papier des Friedensvertrages stehen werden?”

Kronprinz Wilhelm hat recht. Im Westen wird der Krieg entschieden. Jetzt allemal, da die Russen im Zuge ihrer Revolution die Kampfmoral allmählich einbüßen und wir darauf spekulieren dürfen, mit ihnen einen Sonderfrieden zu schließen. Das kann schon dann eintreten, sobald die neue Regierung von der Sorge umgetrieben wird, die Front könnte zusammenbrechen und wir uns anschließend die Gebiete holen, die wir besetzen können. Vielleicht sogar die Ukraine einschließlich! Im Westen werden wir aber, davon bin ich seit dem letzten Hungerwinter und auch nach den nur marginalen Erfolgen der Produktionssteigerung durch das Hilfsdienstgesetz zutiefst überzeugt, den vollständigen Sieg nicht mehr erreichen. Auf dem Boden dieser Erkenntnis sollte unser Reich fortan Politik treiben. Wie wichtig wäre es, Wilhelm und Ludendorff für meine Position einstimmen, besser noch einnehmen zu können!

„Kaiserliche Hoheit, verehrter Herr Generalquartiermeister, Oberst Bauer, sie alle drei sind erfahrene und kompetente Militärs. Das bin ich nicht! Und doch muss ich mir als führendes Mitglied einer bedeutenden vaterländisch gesinnten Reichstagsfraktion meine Gedanken über den zukünftigen Kriegsverlauf im Westen machen. Bitte, hören sie mir zunächst einfach zu und wir erörtern anschließend, wo sie mir meine Sorgen nehmen können:

Zahlenmäßig sind uns Briten und Franzosen leicht überlegen. Was Disziplin und Kampfkraft betrifft, ist der deutsche Landser dagegen nicht zu schlagen. Doch fast drei Jahre Krieg haben uns eines gelehrt: Der moderne Krieg ist ein Abnutzungs- und Materialkrieg. Durch einen kühnen strategischen Erfolg lassen sich wenige Kilometer Gelände gewinnen, aber den Zusammenbruch des Gegners erreichen wir dadurch nicht. Warum aber ist dies so? Der moderne Massenkrieg kennt erstmals die geschlossene Front über hunderte von Kilometern. Da gelingt es nicht mehr, durch eine Entscheidungsschlacht die militärische Macht des Feindes vollständig zu schwächen. Und das technische oder strategische Instrument, die Front zu durchbrechen und anschließend regelrecht aufzurollen, das ist leider noch nicht erfunden.”

„Na, wer weiß? Ich möchte nicht ausschließen, dass die englischen Tanks so weit verbessert werden könnten, dass sie den Krieg revolutionieren würden.”

„Aber mein lieber Bauer, machen sie mir bloß keine Angst. Ich möchte die Zeit noch erleben, dass ich als Kaiser in einem glorreichen Frieden herrschen darf.”

Ludendorff und ich müssen lachen. - Ich werde mich etwa ein Jahr später an Oberst Bauers denkwürdige Worte erinnern und sie werden mich im Ringen um den Frieden einmal mehr zum Handeln bewegen. Doch zurück zur Frage des Kronprinzen. Wie steht es im Westen?

„Hinzu kommt, dass wir, um vom Kanal bis zu den Alpen anzugreifen, Millionen mehr an Soldaten bräuchten. Die Front ist heute schon etwa 900 Kilometer lang. Bei einem Durchbruch über die Marne und einem Vorstoß auf Paris würde sie sehr bald über 1.000 Kilometer lang. Vielleicht kämpfen auf der Seite der Entente bald auch noch Amerikaner mit. Auf jeden Fall ist die Rüstungswirtschaft des Gegners dazu fähig, mehr Geschütze und Flugzeuge herzustellen als unsere eigene. So kommt es, dass der Zivilist Stresemann, der große Stücke auf unsere Landser hält, für den Fall eines Friedens im Osten partielle Erfolge im Westen für möglich, die vollständige Niederwerfung der Feinde und die vollständige Besetzung Frankreichs aber für einen nicht mehr wahrscheinlichen Ausgang dieses fürchterlichen Ringens der Völker hält.“

Ich schweige und lasse das Ungeheuerliche meiner Worte im Raum stehen, auf meine Zuhörer wirken. Schließlich wären die Konsequenzen aus dieser Einsicht von fundamentaler Tragweite.

„Was aber, wenn wir im Westen unsere letzten großen Reserven ohne durchgreifenden Erfolg opfern? Wie kommen wir dann noch aus diesem Kriege heraus?

Meine Herren, aller spätestens hier kommt der Zivilist Stresemann wieder ins Spiel. Denn meine doch recht maßgebliche Reichstagsfraktion wird die erste sein, von der die zivile Reichsleitung und Seine Majestät, der Kaiser, einen regelrechten Spagat erwarten dürfen. Es wird darum gehen, Kriegsziele mit zu formulieren, die das kleine Wunder vollbrächten, sowohl dem Feind nicht unzumutbar für Verhandlungen zu erscheinen als auch unserem eigenen Volk nicht zu enttäuschend nach langen Jahren eines unvorstellbar entbehrungsreichen Krieges. Wollen sie nun meine Ideen hören?”

„Viel lieber würde ich ihnen ja zuerst einmal vehement und im Brustton tiefster Überzeugung widersprechen. Am liebsten würde ich selbstverständlich ein Szenario aufbauen, das uns zugleich Paris einnehmen als auch in einem weiten Bogen nach Südost die östliche Front von Verdun bis zu den Alpen umfassen ließe. Allein meine Zuversicht genügen dafür, lieber Doktor Stresemann. Jedoch mein kühler Verstand lässt mich immer wieder rätseln, wie angesichts der tatsächlichen Kräfteverhältnisse die Strategie für einen solchen Erfolg wohl aussehen möge. Und dennoch: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir im Falle eines Obsiegens in Russland gegenüber unserem Vaterland die heilige Pflicht als Heeresleitung erfüllen und den Angriff wagen müssen.”

Ludendorffs Worte überraschen mich in einem wichtigen Punkt: Eingedenk der so oft durchaus diplomatischen Winkelzüge in den Äußerungen des Generalquartiermeisters gibt er heute beinahe schonungslos offen zu erkennen, welche Zweifel ihm daran gekommen sind, wie der Sieg der deutschen Waffen gegen eine Welt starker Feinde auf den Schlachtfeldern Frankreichs wohl errungen werden möge.

„Ihre Pflichterfüllung ehrt sie vor dem Kaiser und der öffentlichen Meinung, Exzellenz Ludendorff. Vor der Geschichte indes meine ich, müsse die oberste Verantwortung zum Erhalt der Zukunft unseres Volkes im Vordergrund stehen. Und besagte Zukunft sehe ich am besten gewahrt, falls Deutschland auch ohne die Pyrenäen zu erreichen einen glanzvollen Frieden zu verhandeln im Stande sein sollte. Dafür aber bedarf es eines Zielkataloges, der von den Plänen der Herren Hugenberg und Stinnes abweichen darf.

Wir sollten auf Annexionen am Kanal oder von Lille gänzlich verzichten.

Wir sollten für Belgien eine Lösung finden, die das Land in den mitteleuropäischen Zollbund bringt und seine Außenpolitik unter die Führung des Reiches. Staatliche Selbstständigkeit wird ihm wohl erhalten bleiben müssen.

Wir sollten schließlich unsere territorialen Forderungen an Frankreich auf das Nötigste beschränken. Und das ist für mich das Erzbecken von Longwy / Briey. Zu erreichen sein dürfte selbst dies nur unter günstigsten Bedingungen: einem militärischen Erfolg und zugleich einem politischen Entgegenkommen gegenüber Frankreich in anderen Fragen. Da fallen mir vor allem zwei ein: maßvolle Forderungen in kolonialen Angelegenheiten sowie die weitgehende Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker bei der Gestaltung der deutschen Westgrenze.”

„Aber das kann doch nicht sein, lieber Stresemann. Dann wäre Metz verloren!“

Dieser Ausruf des Kronprinzen verlangt mir eine überzeugende Antwort, gleichsam eine kongeniale politisch-diplomatische Lösung ab. Die jedoch habe ich bis heute noch nicht gefunden. Lediglich grobe Züge schweben mir vor.

„Was halten sie denn davon, wir gäben Frankreich eine Hand voll Dörfer im Oberelsass vor der burgundischen Pforte zurück, die tatsächlich französischsprachig sind? Im Gegenzug handeln wir uns große Vorteile ein. Ich meine, wir müssen unseren Teil von Lothringen behalten und das Erzbecken hinzugewinnen. Aber auf dieser Grundlage könnten wir den Franzosen vieles anbieten: die Meistbegünstigung im Handel, vollen Zugang für französisches Kapital in Deutsch-Lothringen und meinetwegen sogar auch noch im Elsass, und ja, darüber grübele ich derweil: Vielleicht sogar die regionale Selbstverwaltung der französischsprachigen Gemeinden in Deutsch-Lothringen.”

 

„Nein!”

Das ruft Ludendorff voller Entrüstung aus.

„Exzellenz Ludendorff, ich sage doch, mein Vorschlag könnte einen Ausweg weisen. Er würde sogar den Briten und Amerikanern den Wind aus den Segeln nehmen, die inständig das Selbstbestimmungsrecht der Völker einfordern. Warum sollten wir ihnen nicht den Köder hinhalten und für Lothringen das bieten, das wir auch für Polen beabsichtigen: eine fast vollständige innere Autonomie, allerdings im wirtschaftlichen und staatlichen - für Polen auch im dynastischen - Bunde mit uns?”

Es waren eben diese, meine letzten Worte, die wie ein Sakrileg, und dennoch zugleich wie ein Fels in der Brandung, wie ein machtvoller Appell an eine vaterländische Realpolitik im Raume widerhallten. Widerspruchslos im Raume stehen blieben sie an jenem spät gewordenen Nachmittag im Berliner Stadtschloss allerdings nicht. Mit meiner Variation zu einem Frieden im Westen hatte ich eine Grenze überschritten, die der Generalquartiermeister nicht bereit war in Frage zu stellen.

„Sehr verehrter Doktor Stresemann, ich hege erhebliche Zweifel, ob ihre kühnen Pläne für unsere Kriegsziele im Westen von den maßgeblichen Herren ihrer Partei gestützt werden. Ob wohl Herr Bassermann bereit ist, deutsche Dörfer im Elsass aufzugeben? Ob wohl die Herren Hugenberg und Stinnes, Thyssen, Vögler und Reusch - so wie ich vernehme bedeutende Financiers ihrer Wahlkampagnen - daran interessiert sein mögen, ihre Erzminen zukünftig in einer Region zu betreiben, die unter der Selbstverwaltung der dortigen französischsprachigen Bevölkerung steht? Ich kann hier und heute nur für die OHL sprechen. Und ich erkläre hier im Beisein seiner kaiserlichen Hoheit: Die dritte Oberste Heeresleitung wird keinem Frieden zustimmen, in dem Territorium, das heute der uneingeschränkten Souveränität der zivilen Reichsleitung unterliegt, entweder abgetreten oder dem unkontrollierten Einfluss welfscher Separatisten überlassen bliebe. Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg und meine Wenigkeit werden kämpfen, solange es nötig ist, um einen solchen Frieden zu verhüten!”

Zum ersten Mal an diesem sehr diskussionsfreudigen und lang gewordenen Nachmittag zieht eine, ja ich möchte sagen ein wenig eisige Stimmung in unsere Runde ein. Offenbar ist die alte militärische Elite noch nicht so weit wie ich. Offenbar bedeutet die Metapher vom Verhandlungsfrieden, wenn sie dem Munde des Generalquartiermeisters entweicht, mehr eine Beruhigungspille für die demokratischen Reichstagsfraktionen als dass sie eine gewisse Flexibilität in den Anschauungen, als dass sie Wendigkeit beim Erzielen von Kompromissen einschließen würde. Ich bin ernüchtert, sogar etwas enttäuscht, weil die letzten zwei Stunden in mir die Hoffnung auf größere Gemeinsamkeiten geweckt hatten. Erwidern möchte ich eigentlich nichts. Ich möchte keine Gefahr laufen, die Stimmung weiter zu belasten. Und dennoch, Ludendorff hat mir widersprochen. Ergo ist es an mir, zu antworten.

„Sehr geehrter Herr Generalquartiermeister, ich schätze ihren unermüdlichen Einsatz für die Wehrhaftigkeit unseres Reiches in diesen schweren Zeiten. Ich habe großes Verständnis dafür, dass ein Mann, der solche enorme Verantwortung für eine der größten Nationen der Erde trägt, mit äußerster Wachsamkeit jeder Gefahr begegnet, hier könnten die Interessen des Vaterlandes zu Markte getragen werden. Ich stelle an diesem Punkte fest, dass wir beide keine völlige Übereinstimmung unserer Haltungen zu den möglichen Erfordernissen eines Friedensschlusses erzielen. Ich stelle aber zugleich mit größter Freude fest, in wie vielen unumstößlich bedeutsamen Fragen der Zukunft wir in den zurückliegenden Stunden gemeinsame Anschauungen austauschen konnten. Daher würde ich mich sehr freuen, wenn wir unsere Unterredung zur Frage Frankreichs einmal fortsetzen dürften, nachdem die eben geäußerten Gedankengänge sich bei jedem von uns haben setzen können.”

Der Kronprinz blickte ein weiteres Mal sorgenvoll auf die Uhr, erinnerte an seine bereits wartende Gemahlin und an das in nur gut einer Stunde terminierte Dinné mit dem Kaiser. Auf mich wirkte es sogar befreiend, nicht weiter argumentieren zu brauchen. Ludendorff, Bauer und ich erhoben sich unverzüglich. Wilhelm verabschiedete uns nun endgültig. Wir verließen das Stadtschloss nach einer tiefen Verbeugung vor dem Mann, der in ferner Zukunft nach diesem Kriege wohl unser kaiserlicher Herr werden sollte. Uns vieren war klar, dass dies nicht das letzte Gespräch in diesem Kreise bleiben würde. Doch keines der nachfolgenden Gespräche, die bis in das Frühjahr 1918 folgen sollten, erreichte die Tiefe und Breite des ersten. Kein weiteres Gespräch lockte meine Partner von der Obersten Heeresleitung zumindest zeitweise so weit weg von ihren gewohnten Wegen, Zielen und sogar von ihren Partnern im Bündnis von Junkertum und Industriebaronen.