1918 - Wilhelm und Wilson

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„Lieber Stresemann, wie kann man an dem aufrichtigen Willen meines Vaters, des Kaisers und seiner Regierung zweifeln? Ich nenne da das Hilfsdienstgesetz aus dem vorherigen Jahre. Ich betone da die ganz frische Osterbotschaft mit der Zusicherung, das Wahlrecht in Preußen werde nach dem Kriege geändert. Die Monarchie ist modern und sie ist ihren Arbeitermassen dankbar für den aufopferungsvollen Einsatz an der Heimatfront wie an der heißen Front. In meiner Eigenschaft als Befehlshaber der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz habe ich die Leistung des deutschen Landsers nicht nur einschätzen, vor allem habe ich sie schätzen gelernt. Ich kenne inzwischen auch seine tiefe Sorge um die gesunde Ernährung der Lieben daheim. Das Königreich Preußen, der Staat nach dem Vorbilde Kants, Hegels und Friedrichs des Großen, mein lieber Stresemann, sorgt sich um seine Untertanen!”

„Aber sicher doch, kaiserliche Hoheit, das wissen nicht nur sie und ich. Das weiß auch die Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Doch die Arbeitszeiten werden immer länger, das Leben entbehrungsreicher, die Versorgung immer knapper. Das wirkungsvollste Zeichen für die Bildung der solidarischen Volksgemeinschaft, die keines Sozialismus mehr bedürfe, wäre nach wie vor die Reform des preußischen Wahlrechtes schon jetzt, im Kriege. Auch das ist Gegenstand meiner Gespräche mit den Herren Erzberger, Haußmann und Scheidemann.

Und eben an dieser Stelle laufe ich Gefahr, in einen Loyalitätskonflikt zwischen der Krone und dem Reich hier, den besagten drei Herren dort zu geraten. So gut ich es vertreten konnte, ihnen alles bisher Gesagte zu berichten, so sehr ist es meine Pflicht gegenüber den Herren, nichts weiter zum preußischen Wahlrecht verlauten zu lassen. Ich setze auf ihr Verständnis.”

„Zuverlässigkeit ist eine hohe Tugend. Ich möchte gar nicht weiter in sie dringen, sofern sie mir versichern können, dass ihre Erörterungen in keinster Weise einen Akt des Hoch- und Landesverrats zum Ergebnis haben könnten.”

Die Bemerkung des Kronprinzen lässt die Spannung bei den beiden Militärs am Tisch schlagartig steigen. Ich jedoch lächele.

„Da dürfen sie ganz beruhigt sein, kaiserliche Hoheit. Keiner meiner drei Gesprächspartner aus dem hohen Hause des Reichstages verfolgt ein staatsfeindliches Ziel oder auch ein anderes Ziel, dies dann aber mit staatsfeindlichen Mitteln. Und sollte sich dies ändern, empfände ich es als meine vornehmste Pflicht gegenüber der Monarchie, sie ins Vertrauen zu ziehen.”

Kronprinz Wilhelm lehnt sich gemächlich zurück. Er bietet seinen drei Gästen Zigarre oder Zigarette an. Selbst wählt er eine leichte kubanische Zigarre und zündet diese genussvoll an.

„Stresemann, sie sind ein Mann von Ehre und Format! Ich danke ihnen für die klaren Worte, noch mehr für die tadellose Gesinnung, die dahinter steht. In Angelegenheiten des Wahlrechtes zum Abgeordnetenhaus der preußischen Monarchie gibt es nunmehr von meiner Seite nichts mehr zu sagen. Doch etwas anders fällt mein Bedürfnis aus, die Sicherheit des Reiches auf der Ebene seiner auswärtigen Politik zu beurteilen. Ich bin davon unterrichtet, dass der Herr Abgeordnete Erzberger und mit ihm die gesamte Fraktion des Zentrums einen Coup vorbereitet. Dieser soll dem Vernehmen nach darin bestehen, dem Deutschen Reichstag den Entwurf einer Resolution vorzulegen, mit der der Reichskanzler und die OHL auf womöglich unerträgliche Art und Weise unter Druck gesetzt werden könnten, offiziell die Mächte der Entente um Verhandlungen über einen Verständigungsfrieden anzugehen. War davon so ganz am Rande ihrer Erörterungen mit den Herren Haußmann, Scheidemann und eben auch Erzberger einmal die Rede?”

Die Höflichkeit im Vortrag seiner kaiserlichen Hoheit erstaunt mich. Er spricht beinahe wie ein Diplomat. Dabei will er sehr klar von mir wissen, ob auf dem Gebiete der Kriegsziele eine Lage eintreten könnte, die die Reichsleitung sehr viel eher als im Falle des Wahlrechts als einen Akt des Hochverrats bewerten dürfte. Hier muss ich ansetzen.

„Am Rande wohl, kaiserliche Hoheit, ist das eine oder andere Wort bezüglich der deutschen Kriegsziele gefallen, auch über die stets lauter werdenden Forderungen aus Petersburg, einen Frieden ohne Sieger und Besiegte ins Auge zu fassen. Noch seltener folgte eine Andeutung dazu, wie die Herren Vertreter der demokratischen Parteien gedächten, ihrer unverhohlenen Sympathie für jene Forderung in der deutschen Öffentlichkeit wirkungsvoll Gehör zu verschaffen.

Wenngleich ich wenig Handfestes aus jenen vereinzelten Anmerkungen entnehmen kann, so entwickelt sich vor meinem geistigen Auge dennoch ein klares Bild. Kein mir näher bekanntes Mitglied des Reichstages beabsichtigt, Geheimnisse aus den jeweiligen Kriegszielerörterungen mit der Reichsregierung Preis zu geben. Alle drei Teilnehmer an meinem Austausch über das Wahlrecht hingegen könnten sich sehr wohl als probates Instrument vorstellen, den Deutschen Reichstag einmal öffentlich mit dieser Frage der Verhandelbarkeit eines Verständigungsfriedens zu befassen. Ein Fall von Hochverrat droht also nicht!”

Oberst Bauer klopft sich auf den rechten Schenkel und lacht. Das nötigt den Kronprinzen und Ludendorff gleichfalls dazu, Gelassenheit zu demonstrieren. Sie schmunzeln und der Generalquartiermeister entgegnet:

„Sie haben Humor, mein lieber Doktor Stresemann!”

„In der Tat”, unterbricht ihn gleich Wilhelm, „rein formal betrachtet stellt eine Befassung des Reichstags keinen Hochverrat dar. De facto würde eine solche Initiative mit sämtlichem, dazugehörigem Presseecho unsere Feinde so massiv in die Hände spielen, dass ich vom Ergebnis her gesehen durchaus einige Züge von Hochverrat zu erkennen glaube. Das gilt um so mehr, als dass eine denkbare Friedensresolution des Reichstages ja genau diese Absicht des oder der Verfasser verfolgte. Ich meine damit, nämlich die militärische wie die zivile Reichsleitung erheblich unter Druck zu setzen durch die Mobilisierung der zunehmend kriegsmüden deutschen Öffentlichkeit.

Doch ich sitze hier nicht mit dem zukünftigen starken Mann der Nationalliberalen Fraktion, um mich in kleingeistigen Formalia zu ergehen. Stattdessen und ganz im Gegenteil möchte ich mit Ihnen erörtern, was die voraussichtlichen Effekte einer derartigen öffentlichen Debatte sein könnten, und ich möchte dabei nicht aus dem Blick verlieren, welche wahren Absichten die demokratischen Parteien dabei im Schilde führten.”

Der Kronprinz sieht mich geradezu provozierend auffordernd an. Doch ich schweige, und behalte die Ruhe. Ich bin mir fast sicher, dass er für diesen Fall schon eine eigene Interpretation der politischen Wirklichkeit im Reich parat hält. Und tatsächlich, Wilhelm lässt sich gar nicht lange bitten. Nach einem ganz schnellen Abaschen seiner Zigarre setzt er seine Rede fort.

„Es dürfte sich doch wohl so verhalten:

Herr Erzberger entwirft als Initiator einen oder gleich mehrere Texte für eine Resolution, die eine Aufforderung an die Reichsregierung enthält, anlässlich der Revolution in Russland an einen oder mehrere Gegner das Angebot zum Frieden auf der Grundlage des Status Quo ante Bellum, oder ohne Annexionen und Kontributionen zu unterbreiten. Herr Scheidemann, der dies vollinhaltlich unterstützt, kündigt das Wohlwollen, nein vermutlich gleich die Zustimmung seiner Fraktion an. Herr Haußmann wird da eher von Gewissenbissen geplagt, ob es selbst bei gleichen Zielen - dem baldigen Frieden unter beinahe jeder Bedingung - für eine liberale, bürgerliche Partei mit einer großen Tradition wie die Fortschrittliche opportun und ziemlich sei, mit Zentrum und Sozialdemokratie politische Händel zu veranstalten. Am Ende findet er es dann wohl zu verlockend, als dritte Kraft zu einer stabilen Reichstagsmehrheit beizutragen, die dieses Mal und in Zukunft immer aufs Neue in der Lage wäre, die Regierung mit öffentlichkeitswirksamen Forderungen vor sich her zu treiben. - Und so einer Dreier-Bande wollen Sie, lieber Stresemann, im Reich und in Preußen die Macht über das Budget anvertrauen?”

„Kaiserliche Hoheit, wir hatten uns doch eben noch darüber geeinigt, dass wir die Wahlrechtserörterung für heute hinten anstellen wollten.”

In den Augen des Kronprinzen blitzt eine Mischung aus Amüsement über und Anerkennung für den Gesprächspartner auf.

„Ja sicher, selbstverständlich lieber Stresemann. Da sind gerade nur die Pferde mit mir durchgegangen, so beunruhigend wie ich die Perspektive eines stabilen Bündnisses der drei so genannten demokratischen Parteien persönlich empfinde. Nur verstehen sie vielleicht jetzt, warum ich meinem verehrten Herrn Vater derzeit völlig beipflichte, dass wir der Arbeiterklasse vor Kriegsende nicht bereits den Lohn des noch nicht errungenen Sieges zugestehen sollten. Was wäre vielleicht die Folge? Dass die Herrschaften Arbeiterführer im Reichstag gleich zum Generalstreik aufforderten, um im nächsten Schritt ihre Vorstellung von Friedensverhandlungen zu erzwingen?”

Das war schlagfertig und dabei messerscharf analysiert und argumentiert. Meine Hochachtung vor dem politischen Esprit des Kronprinzen stieg bei seinen Worten merklich.

Insgeheim beschlichen mich seit Wochen ähnliche Sorgen um die unbedingte Erhaltung der Wehrkraft unserer Nation, falls die Resolution Erzbergers käme. Und allein schon wegen dieser Resolution mochte ich mir erst gar nicht weiter ausmalen, welche weiteren Folgen das gleiche Wahlrecht in Preußen zeitigen könnte. Für mich war es damals noch unglaublich und unvorstellbar mir auszumalen, dass wir auf Erwerbungen im Westen verzichten sollten. Denn es war für mich ebenso unvorstellbar, dass es eine andere Möglichkeit zur Beendigung dieses größten Krieges aller Zeiten geben könne als den vollständigen Sieg der deutschen Waffen - mit der unabdingbaren direkten Konsequenz einer starken Vorherrschaft Deutschlands über Kontinentaleuropa. Ich dachte damals selbstverständlich an das gesamte Kontinentaleuropa wohl gemerkt, so dass den Engländern nur noch ihre Insel und das Empire bliebe, nicht mehr aber das alte Spielchen der Balance of Power, um die jeweils größte Macht auf dem Kontinent in Schach zu halten. An diesem Punkt war ich nun wirklich einige preußische Landmeilen von den Herren Erzberger, Scheidemann und Haußmann entfernt. Diese hatten längst begriffen, dass sie durch unsere Gespräche niemals würden erreichen können, dass ich für die Nationalliberale Reichstagsfraktion auf Erwerbungen und den mitteleuropäischen Zollverein verzichten würde. Sie hofften indes weiterhin stark darauf, dass ich die Nationalliberalen in eine kultivierte Opposition gegen die Friedensresolution hineinführen möge. Das brachte mich plötzlich auf eine Idee für die Argumentation gegenüber den Herren von der militärischen Reichsleitung.

 

„Es gibt einen offenkundigen und unverrückbaren Hintergrund dafür, warum die Herren vom Fortschritt, vom Zentrum und von der SPD mit mir weitaus lieber über das Wahlrecht in Preußen sprechen als über die Modalitäten eines Friedens für Europa. Alle drei wissen inzwischen sicher, dass es einen Grundton der Einigkeit in der Frage gibt, ob ein neues Wahlrecht die Heimatfront beruhigen, die Arbeitsmotivation in den Fabriken heben und das Reich vor einer Revolution würde schützen können. Hier bin ich zuversichtlicher als sie, kaiserliche Hoheit oder sie, Herr Generalquartiermeister, als führender Vertreter der OHL, was die patriotische Gesinnung der Millionen von einfachen Leuten in der Wählerschaft von Zentrum und SPD angeht. Deshalb bin ich in dieser Frage womöglich auch näher bei den Herren der demokratischen Fraktionen als bei der Reichsleitung.

In Angelegenheiten des Friedens dagegen fällt mein Urteil anders aus: Ich bin kein Phantast, der unseren Feinden auch nur einen Funken von Zurückhaltung zutraut, falls es darum gehen sollte, eine Schwäche des Reiches brutal und schonungslos auskosten zu können. Daher neige ich am Ende in dieser Frage sehr viel mehr zu Ihnen und dem Herrn Reichskanzler, die sie allesamt keinen Fuß breit deutscher Interessen auf dem Altar der Einigung mit der Reichstagsmehrheit zu opfern bereit sein werden.” Ludendorff wirkt erfreut über den von mir mit der OHL und der Reichsregierung geübten Schulterschluss.

„Bravo, mein lieber Doktor Stresemann. Auch wenn ich es als Vertreter des Militärs nicht so sehr mit Herrn von Bethmann-Hollweg halte. Der ist mir gelinde gesagt schnurz! Sagen sie uns doch bitte gleich auch noch, welche Gedankenkette Sie in unser Lager treibt.”

Ich fühle mich gut. Es ist eine vertrauensbildende Maßnahme gelungen. Ich hoffe sehr, dass das Gespräch von nun an noch offener und zielorientierter verlaufen möge. Aber ich weiß auch, dass ich dazu etwas Wichtiges beizutragen hätte. Wie nämlich würde sich meine Fraktion im Deutschen Reichstag verhalten, falls Erzberger und Kollegen so geschickt sein sollten, eine Resolution für einen Verhandlungsfrieden nicht mit zu vielen inhaltlichen Aussagen, gleichsam Bindungen für spätere Verhandlungen zu belasten?

„Kaiserliche Hoheit, Exzellenz Generalquartiermeister, Herr Oberst Bauer, was eint mich mit Ihnen? Das ist eine der Schlüsselfragen. Aber es ist bei Gott nicht die Einzige. Welche Chancen geben die verschiedenen politischen Kräfte und auch die Träger von Entscheidungen in der OHL einer Friedensinitiative? Jeder im Reichstag macht sich über diese Frage sicher so seine eigenen Gedanken. Und ich, das wissen sie drei bereits, bin nicht zufällig Mitglied der Nationalliberalen Partei. Mein persönliches Verständnis von vaterländischer Politik basiert auf einigen unverrückbaren, für mich immens wichtigen Grundsätzen:

Ich möchte die Regierung des Deutschen Reiches stets unterstützen, wenn ich eine Politik erkenne, die an der Zukunft, am Wohle und an der Größe unserer Nation ausgerichtet ist. Soweit erklärt sich national und vaterländisch wie von selbst.

Liberal hingegen bezeichnen sich längst nicht alle Vertreter jener gesellschaftlichen Schichten unseres Landes, die den Rückhalt der Monarchie und zugleich die maßgeblichen Entscheidungsträger bilden. Anders als zahlreiche Junker leitet mich die Überzeugung vom Vorzug der Modernität, wenn wir die Zukunft gewinnen wollen. Modernität indes verbürgen die Wissenschaften und vor allem die Industrie mit jenen ihrer Zweige, die für den Endkunden fertigen und die Investitionsgüter herstellen, welche ebenso für den Weltmarkt wie für den Bedarf unseres Vaterlandes produzieren. Deshalb bedeutet für mich liberal, frei nach innen wie nach außen die Verhältnisse zu gestalten.”

Generalleutnant Ludendorff rümpft bei meinem letzten Satz die Nase, während der Kronprinz lediglich wohlwollend lächelt, Oberst Bauer dagegen die Stirn in Falten legt. Das wundert mich natürlich nicht. Zu viel weiß ich von seinen Kontakten zu den maßgeblichen Herren der Schwerindustrie an der Ruhr.

„Nun sind indes die Herren Stinnes und Hugenberg ebenso Mitglieder der Nationalliberalen Partei wie die Herren Duisberg und Ballin oder auch Stresemann. Als stellvertretender Vorsitzender unserer Reichstagsfraktion ist es meine Aufgabe, mir mehr als nur eine persönliche Meinung über eine gute Politik für Deutschland zu bilden. Gerade in Zeiten, in denen mein Freund Ernst Bassermann leider von schwerer Krankheit geplagt ist und sein Amt nur bedingt ausüben kann, spüre ich die große Verpflichtung und, ja das will ich zugeben, auch die besondere Verantwortung. Diese ist schließlich von der schweren historischen Stunde geprägt, die die große Prüfung dieses Weltkrieges in sich birgt.

All das führt mich dahin, für unser Reich als Nationalliberale Reichstagsfraktion Kriegsziele zu fordern, die eine Wiederholung jener unsäglichen Einkreisung unmöglich machen, mit derer unsere Gegner ihr Netz über uns geworfen haben und uns 1914 keine andere Wahl ließen, als für die Zukunft der Weltmacht Deutschland ins Feld der Ehre zu ziehen. Somit lehne ich den Status quo ante kategorisch ab, meine Herren. Und genau daran, kaiserliche Hoheit, werden auch viele Sitzungen, womöglich unzählige Gespräche mit den Herren des Zentrums, der Fortschrittlichen oder der SPD nichts und niemals etwas ändern!”

„Bravo, bravo, mein lieber, lieber Stresemann! Wohl dem deutschen Manne, der so klare Worte findet und wählt wie sie.”

Kronprinz Wilhelm hat sich kerzengerade im Sessel aufgerichtet und bei seinen Worten mit der flachen Hand mehrmals anerkennend auf die holzvertäfelte Platte des Tisches vor sich geschlagen. Die Lautstärke des davon ausgehenden Geräusches erschreckt mich. Doch das hat auch sein Gutes, es führt zu einer schnellen Assoziation. Der Lärm erscheint mir wie Kanonendonner, Kanonen aus dem Hause Krupp - ach ja, Hugenberg und Stinnes, diese verfluchte Bande! Das erinnert mich sofort wieder daran, dass ich eine wahrlich wichtige Abgrenzung noch vorzunehmen habe.

„Eure Zustimmung ehrt mich und sie freut mich um so mehr, kaiserliche Hoheit, als dass ich ja die bedenkliche Einkreisung des Reiches durch gegnerische Weltmächte für alle Zeiten auszuschließen trachte. Wir sind hier im vertraulichen Kreise, daher äußere ich mich frei heraus: Meine Vorstellung von einem von Deutschland beherrschten Europa, von einem zum Nutz und Frommen, zum Wohlstande aller Nationen starken und einigen Kontinent habe ich mit wichtigen Männern des Reiches erörtert, und diese Vorstellungen sind nicht deckungsgleich mit den vielfach erhobenen Forderungen der führenden Vertreter der nordwestdeutschen Schwerindustrien und des Steinkohlenbergbaus. Ich verlange zwar eine unerschütterliche Stellung des Reiches gegenüber Frankreich für alle Zeit. Ich verlange jedoch nicht Gebietsabtretungen, die es dem Ehrgefühl der Grande Nation auf alle Zeit versagen würden, einmal wieder ein entspanntes, gar freundschaftliches Verhältnis zum Reich aufzubauen. Ich werde Ihnen gleich sogar noch erläutern, warum ich es gar nicht für erforderlich halte, größere Teile Ost- oder Nord-Frankreichs zu annektieren, lediglich um die Erzversorgung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie sicher zu stellen. Aber vorab nenne ich Ihnen, was ich mir wünsche und zugleich hoffe, mit Ihnen gemeinsam für die Zukunft erstreben zu können.”

Ludendorff streckt seine Beine aus und ruft:

„Na, na, mein lieber Doktor Stresemann. Wir sind doch heute zu Ihnen gekommen, um etwas zu erfahren und unseren Nutzen aus dieser Unterredung zu ziehen.”

Dabei lächelt er sehr verschmitzt und ist sichtlich stolz auf den gelungenen humoristischen Einwurf.

„Wir wollen doch am Ende des Tages nicht von diesem Tische aufstehen und feststellen, dass sie uns auf ihre Seite gezogen haben, wir indes nichts vorzuweisen hätten. - Aber, Spaß beiseite. Sollten wir uns hier auf ein handfesteres Programm an Kriegszielen einigen, die wir unverbrüchlich gemeinsam fordern wollen, als es Herr von Bethmann-Hollweg bis heute zustande gebracht hat, so würden wir für die Diskussionen der Zukunft alle gestärkt und als Sieger von diesem Tische aufstehen dürfen.”

„Sehr erfreulich, dass es uns allen hier nicht um Gewinnen und Verlieren geht. Denn wir können alle gemeinsam gewinnen. Sofern wir mit der gleichen Zielrichtung gegen eine Friedensresolution des Deutschen Reichstages streiten werden, die unsere fundamentalen nationalen Interessen auf das Gefährlichste zu verscherbeln droht, zu verramschen regelrecht, erfüllen wir eine heilige nationale Pflicht! So schaffen wir nämlich die Voraussetzung dafür, dass unser Reich die Chance auf eine echte diplomatische Initiative erhält.”

Meine Worte lösen eine unmittelbare Reaktion aus.

„Oder auf eine militärische! Initiative meine ich.“

Der Zwischenruf des Kronprinzen überrascht mich nicht. Soll ich ihm jetzt zaghaft widersprechen? Nein, ich will es nicht tun. Denn sollte unser Heer einen großartigen Erfolg erzielen können, so würde es meinem Selbstverständnis eklatant widersprechen, einen solchen Erfolg durch unprofessionelle diplomatische Manöver oder eine von Zerwürfnissen geprägte deutsche Innenpolitik zu gefährden.

„Eben, oder auf eine militärische Initiative, die uns aber einen sichtbaren Vorteil gegenüber dem Feinde einbringen müsste, um in Friedensverhandlungen gewichtig in die Wagschale geworfen werden zu können. Doch, welchen Frieden meine ich?”

Ohne Worte nickt mir Ludendorff auffordernd zu und sitzt erwartungsvoll in seinem Sessel.

„Aus dem Septemberprogramm der Reichsregierung unterscheide ich zwischen den territorialen Forderungen, quasi als klassische Kriegsziele, wie wir sie schon seit Jahrhunderten kennen, und den ordnungspolitischen Vorstellungen für Europa. Was Landerwerb betrifft, so meine ich, die Möglichkeiten dazu hängen einzig und allein von der Machtposition ab, die eine Nation zum Zeitpunkt der Friedensverhandlungen erworben hat. Und diese Macht wiederum korrespondiert recht unmittelbar mit dem Erfolge auf dem Schlachtfeld. - Nun meine Herren Militärs, was soll ich darüber spekulieren? Nebenbei gelten sie in dieser Frage für mich als die größeren Experten als ich selbst oder auch der Reichskanzler. Wir müssen also abwarten. Wir müssen uns jedoch auch ganz ehrlich eingestehen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkte gar keine Friedensverhandlungen erreichen können. Warum ist das aber so?”

„Da bin ich aber sehr gespannt, ob wir nun auch noch übereinstimmen werden, lieber Stresemann.”

Wilhelm scheint sich zu amüsieren. Er hat sich neuen Kaffee einschenken lassen von einem Bediensteten, der stumm den Raum betreten hat. Mit einem Lächeln um die Lippen flüstert Wilhelm dem jungen Mann „Kognak” zu und sieht gleich darauf wieder mich an.

„Aber bitte, lassen sie sich doch von mir nicht stören.”

„Also, ich plädiere dafür, dass wir uns nichts vormachen:

Erstens, unsere Forderungen sind so weit reichend, dass sie die Machtverhältnisse auf dem Kontinent grundlegend und auf Dauer verschieben müssten. Darüber werden Franzosen und Briten nicht verhandeln.

Zweitens, die Forderungen unserer Feinde gehen gar so weit, dass sie Deutschlands Stellung als Großmacht unterminieren. Wir verlören die Autonomie der Entscheidungen über die Größe von Heer und Flotte. Unser Verbündeter in Wien würde zerstückelt, so dass Deutschlands Grenzen niemals wieder zu verteidigen wären. Im Westen und im Osten würden Teile unseres Reiches abgetrennt, vielleicht sogar ein Teilstaat unter Pariser Kontrolle am Rhein gebildet. Logisch also, dass wir unsererseits darüber niemals verhandeln werden, solange die Truppen der Entente nicht vor den Toren Berlins stehen.”

Oberst Bauer lacht lauthals auf.

 

„Die Franzosen an der Elbe und der Spree, das ich nicht lache. Wie sollen sie das denn schaffen?”

„Ich glaube ja nun gar nicht, dass der Feind in Deutschland einrücken könnte, sehr verehrter Herr Oberst. Doch zeigt das Beispiel im Umkehrschluss, wie unvereinbar die Positionen sind.

Jetzt aber drittens, sollten wir uns einmal in die Lage unserer Feinde versetzen. Was für uns als unakzeptabel gilt, empfindet der Feind umgekehrt ebenso. Also werden Clemenceau und Lloyd George niemals Verhandlungen zustimmen, es sei denn, sie wären militärisch praktisch erledigt, vollständig besiegt. Das träte aber erst ein, wenn wir die Front durchbrächen und Paris einnähmen. Zwar liegt Paris näher an der Front als Berlin, aber der Widerstandswille des Feindes wächst um so mehr, je stärker die Hoffnung wird, Amerika mit seinem ungeheuerlichen Industrie- und Rüstungspotenzial werde dem Westen doch noch zu Hilfe eilen.

Und zum guten Schluss, viertens: Was für die Franzosen Amerika ist, sind für uns die Revolutionäre in Russland. Unsere Hoffnungen auf den Zusammenbruch der politischen Ordnung im Osten nährt die Hoffnung auf die schleichende Auflösung der Front, dann auf das unweigerliche Ersuchen um Friedensverhandlungen seitens der Regierung des Fürsten Kerenski sowie der ihn unterstützenden Liberalen und Sozialrevolutionäre, oder auch ihrer weiter links stehenden möglichen Nachfolger. Wenn wir aber im Osten gesiegt hätten, wären sie drei, meine Herren, im Bunde mit Generalfeldmarschall von Hindenburg die allerletzten, die über Frieden mit Frankreich verhandeln würden. Sie würden vermutlich ihre Divisionen aus dem Osten in den Westen werfen und auf Sieg setzen.”

„Was wiederum fünftens bedeuten würde, verehrter Doktor Stresemann, beide Seiten sind von der Aufnahme von Friedensverhandlungen meilenweit entfernt. Das ist rein politisch-strategisch betrachtet, allen lärmenden Forderungen der linken Demokraten in allen Heimatländern der Kriegführenden zum Trotz.”

„Verehrter Herr Generalquartiermeister, sie sagen es. Mit meinen Überlegungen wollte ich nur auf eines hinaus: Es droht ein Patt, das dazu führen könnte, dass der bald drei Jahre währende Krieg noch über Jahre fortdauert. Und das, obgleich die Völker zusehends ausbluten. Wenn aber die Völker ausbluten, die Arbeiter kriegsmüde geworden sind, in Petersburg der revolutionäre Mob regiert, ist die Welt, ist unser altes Europa dann noch sicher? Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Das eine um das andere Mal zermartere ich mir den Kopf darüber, ob es uns im Reich nicht gelingen könnte, diese gegenseitige Blockade der Krieg führenden Mächte zu durchbrechen. Wie? Mit neuartigen Kriegszielen, die, wie die Amerikaner seit neuestem immer so Mode beflissen sagen, für beide Seiten eine Win-win-Situation schaffen?”

„Und was soll das sein? Wie soll das denn funktionieren, lieber Stresemann?”

„Kaiserliche Hoheit. Ich glaube, dass wir nur Erfolg haben können, wenn wir die Sicherheitsordnung im Europa der Nachkriegszeit neu aufstellen. Deutschland ist mit Abstand die mächtigste und fortschrittlichste Wirtschaftsnation des Festlandes. Gelänge uns die Zollunion, gelänge uns die Schaffung eines lockeren Staatenbundes, in dem sich niemand wieder gegen seinen Nachbarn verbünden dürfte, dann setzte sich das Reich langsam aber sicher, so ganz allmählich als natürlicher Hegemon durch. Um so sicherer bin ich mir da, falls es uns gelänge, eine Dominanz über Österreich-Ungarn und das bald geschlagene ehemalige Zarenreich zu erlangen.”

„Und für solche Ziele hoffen sie sogar die Scheidemänner, die Eberts und Erzbergers dieser Welt gewinnen zu können?”

Oberst Bauers scharfe Frage erstaunt mich für einen Moment. Und doch muss ich anerkennend feststellen, dass es natürlich genau darum ging, als ich mich vor Monaten dafür entschied, mit den Demokraten in vertrauliche Konsultationen einzutreten.

„Meine Herren, die vier Herren, die sich seit etlichen Wochen als führende Vertreter ihrer jeweiligen Reichstagsfraktionen zu Gesprächen zusammen gefunden haben, verfolgen allesamt nuanciert unterschiedliche Interessen. Den einen, wie Herrn Scheidemann und auch Herrn Haußmann, ist der innere Friede am wichtigsten. Sie sind davon überzeugt, dass wir für die Zeit im Kriege und gerade auch danach diesem Ziel dann am besten dienen, falls es uns gelänge, jetzt schon das allgemeine Wahrecht in Preußen zu etablieren. Den anderen, wie Herrn Erzberger und mir, ist der äußere Friede zum mindesten ebenso bedeutsam. Doch ich verrate ihnen selbstverständlich nichts Neues, wenn ich ihnen sage, dass Herr Erzberger vornehmlich den Frieden als Selbstzweck anstrebt, während ich auf einen Frieden abziele, der Deutschland in der Welt von morgen auf jeden Fall sicherer macht, und auch ein wenig mächtiger als 1914.

Mit dem Streben nach Macht brauche ich den Herren Demokraten gar nicht zu kommen. Anders fällt die Nachdenklichkeit aus, wenn ich meine Position zum Mitteleuropäischen Zollverband erläutere. Denn der würde mehr Wohlstand schaffen für die Arbeiter. Dessen Grundkonstrukt könnte bei entsprechendem deutschen Einsatz dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einer erheblichen Geltung verhelfen. Und er würde die Chance bieten, dass die Nationen Europas in Zukunft zur Partnerschaft fänden statt zur Gegnerschaft in immer neuen Bündniskonstellationen.”

„Das mit dem Selbstbestimmungsrecht meinen sie wohl nicht so recht ernst, lieber Stresemann. Ich möchte ihnen nicht kategorisch widersprechen. Doch ich beabsichtige sehr wohl, in einer fernen Zukunft einmal König von Preußen und Deutscher Kaiser zu sein, dann aber nach Möglichkeit auch noch König von Polen und Regent in Kurland, Livland und Estland. Ganz nebenbei, über Belgien haben wir da noch nicht gesprochen.”

„Kaiserliche Hoheit, sie wissen ohne Zweifel, ich bin ein unbedingter Verfechter der preußisch-deutschen Monarchie. Und ich wünsche mir selbst, dass Euer Hoheit als deutscher Kaiser einmal König von Polen sein werden. Denn wie sollten wir jemals eine verteidigungsfähige Grenze zu Russland erhalten, wenn nicht Polen in unseren Machtbereich aufgenommen würde?

Aber - und da bitte ich um eine vorurteilslose Betrachtung der folgenden Vergleichbarkeit: So wie der König von Preußen seinen Untertanen das gleiche Wahlrecht gewähren wird, so wird es der König von Polen ihm doch gleich tun können. Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes beginnt zuallererst im Inneren. Und da hat die Monarchie der Hohenzollern den polnischen Bürgern und Adeligen unendlich mehr zu bieten als diejenige der Romanows in der Vergangenheit. Was die Selbstbestimmung nach außen anbelangt, ist das Königreich Polen seit dem letzten Jahr durch einen völkerrechtlichen Akt der Mittelmächte schließlich wieder erstanden. Auch das ist eine eklatante Verbesserung. Jetzt wird es noch darauf ankommen, die Nachkriegsgrenzen Polens und Deutschlands so abzustecken, dass sich die Polen nicht als die Verlierer des Krieges empfinden. Dazu gibt es aber Chancen.”

„Aha, und welche sind das? Gerade ich als Militär werde darauf bestehen müssen, dass unsere Ostgrenze unter strategischen Gesichtspunkte so einige Arrondierungen erfährt.”

Ludendorffs Einwand habe ich ganz sicher erwartet, zu bekannt ist seine Haltung, die er gleich beim Eintritt in die OHL im Vorjahr lauthals verkündete. Für diplomatisch klug hielt ich das schon damals nicht!