1918 - Wilhelm und Wilson

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Nachdenklich sitzt Albert Ballin in seinem Sessel.

„Wäre das wohl das Ende der Hohenzollern-Monarchie? Oder aber wäre es ganz im Gegenteil die Grundlage dafür, die Russen zum Frieden zu zwingen und die Westmächte daraufhin zu überzeugen, dass sie gegen uns nicht mehr zu gewinnen vermögen? Ich weiß es nicht! Aber ich gebe euch natürlich recht, dass wir uns diese Frage schonungslos stellen müssen. Und Walther hat deshalb sicher auch recht, wenn er auf die Sozialdemokraten zugeht und sie einfach mal fragt: Wie geht es denn jetzt weiter?”

„Da sind wir am springenden Punkt angelangt, lieber Albert. Dürfte ich darauf vertrauen, dass Gustav oder sein Parteifreund Bassermann für die Nationalliberalen und dann am besten auch ebenso das Zentrum auf die SPD zugingen und dort meine Frage anbrächten, ja dann hätte ich nicht gefragt. Dass der Reichskanzler selbstverständlich eine solche Sondierung nicht durchführen darf, ohne sein Amt zu verspielen, versteht sich von selbst. Habe ich nicht recht, Gustav?”

Ich fühle mich von Walther Rathenaus Erwartung, dass auch ich auf die SPD zugehen müsse, einigermaßen überrollt. Ich brauche einige Sekunden, um mich zu fassen. Das gelingt am besten mit einem genüsslichen Schluck Bohnenkaffee, der mir eine kleine Verschnaufpause verschafft.

„Die Ereignisse in Petersburg sind auch für mich noch all zu frisch, um schon heute mittels spontaner, vielleicht nicht ganz zu Ende gedachter politischer Aktionen tätig zu werden. Ich bin sicher, dass unser Freund Walther zunächst einmal der Schnellste war, im Denken wie im Entschluss zum Handeln. Halt ein wahrer Mensch der Tat! Es könnte sich tatsächlich als richtig erweisen, dass wir neue Wege beschreiten müssen, um die Stabilität des Reiches im Inneren durch ganz neuartige Maßnahmen zu bewahren. Wenn die russischen Arbeiter den Zaren davonjagen und nach Frieden verlangen, dann dürften nicht wenige deutsche Arbeiter rufen: Tun wir es ihnen gleich! Das ist internationale Solidarität der Arbeiterklasse und zugleich wird dann an einer unserer Fronten schon nicht mehr gekämpft und gestorben. Das müssen wir natürlich verhindern! In einem solchen Fall wären nicht allein all unsere großen Kriegsziele im Osten verloren. Ebenfalls stünden wir dem Westen gegenüber einigermaßen hilf- und machtlos dar, sobald auch nur die Möglichkeit bestünde, dass die ruhmreiche preußische Armee nicht mehr ohne Zweifel hinter Seiner Majestät, dem Kaiser, stehe.”

„Wenn die von Walther soeben herauf beschworene Gefahr jedoch einen wahren Gehalt hat, lieber junger Freund Gustav, dann hätte Walther selbstverständlich auch mit seiner Schlussfolgerung vollständig Recht: Dann müssten wir Arbeitgeber und mit uns die Regierung den Sozialdemokraten und ihren Gewerkschaften erklären: Wir stellen die deutsche Gesellschaft zukünftig auf eine neue Grundlage. Adel, Bürger und Arbeiter sind gleicher maßen die Stützen. Adel, Bürger und Arbeiter dürfen daher in Zukunft auch als gleichberechtigte Staatsbürger wählen und Gerechtigkeit erwarten.” Trotz aller messerscharfen Nüchternheit und Konsequenz seiner Worte blickt Albert Ballin dabei ungläubig drein. Zu unfassbar erscheint ihm wohl weiterhin die Vorstellung, aus den „Staatsfeinden” der Sozialdemokratie zukünftig ehrbare Partner und Verbündete der etablierten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten des Deutschen Reiches zu machen. Ich spüre die Spannung, die im Raum liegt, eine Spannung, die aus der ungeheuerlichen Tragweite der eben gesprochenen Worte entspringt. Ich möchte diese Betroffenheit bei Albert überwinden und weiß, dass dies nur gelingen kann mit Walthers Hilfe, der die Lage weniger emotional betrachtet. An Nüchternheit indes scheint es meinen beiden Gesprächspartnern und Freunden nicht zu mangeln.

„Na, was hat der tolle Reichstagsabgeordneter Philipp Scheidemann denn nun genau gesagt, als du mit ihm gestern telefoniert hast, Walther?”

Meine Frage reißt Albert aus der Melancholie und Walther aus einem kurzen Tagtraum, denn er schüttelt leicht sein Haupt und entgegnet:

„Entschuldige Gustav. Ich war mit meinen Gedanken gerade ganz woanders. Natürlich, ihr wollt erst einmal wissen, wie die sozialdemokratische Reichstagsfraktion denn nun Position einnimmt. Scheidemann hat eigentlich gar nicht viel gesagt: Der deutsche Arbeiter, der preußische Arbeiter dürfe nicht mehr länger abgespeist werden. Er dürfe nicht mehr länger in dem Bewusstsein kämpfen, dass der Wert seines Lebens für den Staat abhängig sei von seiner Lohntüte, statt von seinem Mut und seiner Pflichterfüllung im Felde. Und dann sagte er etwas höchst bemerkenswertes:

ˏSehr geehrter Herr Doktor Rathenau, es ist ja sehr schön, dass sie sich bei mir erkundigen, welche Auswirkungen die Ereignisse im jüngst umbenannten Petrograd auf das Leben in Deutschland wohl haben mögen. Und immerhin ist ihr Unternehmen ein wahrlich wichtiger Arbeitgeber. Doch sie sind seit bald zwei Jahren nicht mehr Inhaber eines öffentlichen Regierungsamtes. Für meine Partei wird alles darauf ankommen, ob die Herren der Regierung das Gespräch mit mir suchen werden. Und falls die Reichsleitung selbst über diesen Schatten nicht zu springen vermag, so bin ich doch sehr gespannt, wie sich die bürgerlichen Parteien vom Zentrum über die Fortschrittlichen bis zu den Säbel rasselnden Nationalliberalen des feinen Herrn Stresemann zu verhalten gedenken. Sie dürfen ihren Freunden auf der Wilhelmstraße oder im Reichstag getrost einen herzlichen Gruß von mir bestellen. Die deutsche Sozialdemokratie ist zu Gesprächen über die Zukunft des Reiches bereit, wenn es dabei auch und gerade um die Zukunft Preußens gehen darf.ˋ

So war das. Dann war unser Telefonat auch bereits beendet. Ich blieb wie benommen zurück, beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, von der Geradlinigkeit, die aus Scheidemanns Worten sprach. Und ich war beim zweiten Gedanken natürlich froh und glücklich darüber, dass wir drei unsere heutige Verabredung bereits unter Dach und Fach hatten. Denn mit wem auf der ganzen Welt könnte ich besser, vorausschauender und unabhängiger über Scheidemanns Offerte reden als mit euch, meine lieben Freunde?” Walther Rathenau lächelt Albert und mich dann so herzlich an, dass wir von seiner Zuversicht über die neuen Möglichkeiten einer Kooperation mit den „Vaterlandslosen Gesellen” inspiriert bis tief in den Abend Plan- und Gedankenspiele anstellen. Als Ergebnis halten wir schließlich fest: Bethmann-Hollweg dürfe es sich niemals erlauben, einen Emissär zu Scheidemann zu schicken, um über das preußische Wahlrecht zu verhandeln. Aber die staatstragenden Parteien der politischen Mitte in Deutschland könnten es wohl riskieren, zu einem informellen Austausch einzuladen. Ich selbst bleibe indes gespalten in meiner Abwägung der Vorzüge und Nachteile eines solchen Vorgehens. Würde uns die nationale Presse nicht zerfleischen, falls sie von einem solchen Austausch Wind bekäme?

„Du hast völlig recht, lieber Gustav. Deine Nationalliberalen mit den Hugenbergs und Thyssens dieser Welt würden es dir nie verzeihen, der Initiator einer solchen Gesprächsrunde zu sein. Ich könnte Erzberger von den Ultramontanen bitten, aktiv zu werden. Er sollte sich im ersten Schritt vielleicht auf ein Treffen mit Scheidemann und einem ihm geeigneten, vertrauten Vertreter der Fortschrittlichen verständigen. Falls das gut liefe, kämst du, lieber Gustav dazu. Dann käme keiner mehr auf den Gedanken, dass wir hier die ganze Geschichte ausgeheckt und eingefädelt hätten. Dann könnte dich auch kein Stahlbaron von der Ruhr mehr zu Fall bringen wegen so einiger weniger, gänzlich zu nichts verpflichtender Gespräche unter Reichstagskollegen.”

Und so machten wir es tatsächlich. Eine wichtige Weichenstellung der deutschen Innenpolitik war an jenem Nachmittag des 18. März 1918 bei Walther Rathenau im Wintergarten seiner Grunewalder Villa bei Kaffee und Kuchen, später am Abend dann bei einer hervorragenden Zigarre und einem milden Portwein auf die Reise gebracht worden.

Ich schrecke auf. Was für ein Geräusch hat mich da aus meiner Erinnerung gerissen? Die schwere Türe meines Krankenhauszimmers fällt mit einem satten Klicken ins Schloss. Jemand von der Ärzteschaft oder vom Pflegepersonal muss eben im Zimmer gewesen sein. Ja tatsächlich. Ich bemerke, neu gebettet zu sein. Das Bettzeug duftet noch eine Spur frischer als bei meinem letzten Wachen. Ich fühle mich beinahe wohl, wäre da nicht jene vollständige Mattigkeit, die mir jede Kraft raubt. Mit Mühe gelingt es mir, meinen linken Arm über den Oberkörper zu beugen und ein Wasserglas auf meinem Nachtschrank zu erreichen. Der Durst lässt mich die Distanz überwinden und ich trinke mit Genuss und zittriger Hand. Ich bin froh, als ich das geleerte Glas ohne Schaden erneut auf dem Nachtschrank abstelle. Mein Oberkörper sinkt erschlafft noch tiefer in das frisch aufgeschlagene Kopfkissen. Ich schließe wieder meine Augen und es dauert nicht lange, bis der Schlaf mich erneut übermannt.

Ich erinnere mich genau: Am 2. April muss es gewesen sein, dass die Herren Reistagsabgeordneten Scheidemann von der SPD, Erzberger vom Zentrum und Haußmann von der Fortschrittlichen Volkspartei zu einem vertraulichen Gespräch zusammenkamen. Inzwischen hatte meine Initiative im Reichstag zur Gründung des Verfassungsausschusses einiges Aufsehen erregt. Vor allem aber sicherte mir der Vorstoß einen kräftigen Vertrauensvorschuss bei all jenen Vertretern der drei demokratischen Parteien, die in mir bislang einen glasklaren Verfechter imperialer, ausgreifender Kriegsziele erblickt hatten. Erst meine jüngste Initiative ebnete den Weg zu jenen vertrauensvollen Gesprächen, die fortan jenseits offizieller Parlamentsgremien folgen sollten.

Walther Rathenau hatte Matthias Erzberger gegenüber unter vier Augen von der Möglichkeit eines Austausches zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie zur Sicherung der Zukunft unseres Reiches gesprochen. Ungläubig verlangte Erzberger nach Belegen für die Bereitschaft der SPD, gerade jetzt, nach den „revolutionären Ereignissen“ im ehemaligen Zarenreich. Walther führte mich daraufhin als Zeugen für die ehrlichen Absichten Scheidemanns an. Also traf ich Erzberger zwei Tage später im Reichstag. Mir gelang es, seine Neugierde zu wecken. Schwerer fiel es mir allerdings, ihn davon zu überzeugen, dass ein erstes Treffen ohne mich, nur mit Conrad Haußmann von den Fortschrittlichen stattfinden müsse. „Warum?”, hatte Erzberger wissen wollen.

 

„Weil Scheidemann Rücksicht nehmen muss auf diejenigen in seiner Fraktion, die mich als Ausgeburt der Expansionisten verachten. Aber ebenso, weil ich auf jene in meiner Partei Rücksicht nehmen muss, die ein Gespräch mit der SPD per se als Hochverrat bezeichnen würden.”

Da hatte Erzberger gelacht. Er stimmte dem Treffen mit Scheidemann und Haußmann unter zwei Bedingungen zu:

„Sie müssen an einem Folgetermin, sagen wir noch im April, unbedingt teilnehmen. Und zweitens müssen Sie Herrn Hugenberg und Herrn Stinnes bei Ihrem nächsten Parteitreffen mit der Schwerindustrie so ganz beiläufig einen schönen Gruß von mir ausrichten. Nichts weiter. Sollen Sie doch rätseln, weshalb ich so etwas mache.”

Und wieder hatte Erzberger gelacht.

Meine Abstimmung mit Conrad Haußmann dagegen war ein Kinderspiel. Wir trafen uns zum Mittagessen im Adlon. Ich hatte eingeladen. Dann bat ich ihn um das besagte Treffen zu dritt und sagte gleich zu, am Folgetermin teilzunehmen.

„Und Sie sind sich dessen absolut gewiss, lieber Doktor Stresemann, dass Scheidemann unser Treffen nicht propagandistisch ausnutzen wird?”

„Auf keinen Fall, Herr Scheidemann wird die Ziele des inneren und äußeren Friedens über sämtliche parteilichen Erwägungen stellen, dessen bin ich mir sicher.” So antwortete ich aus dem Brustton tiefster Überzeugung. Und schon war es abgemacht.

So wunderte es mich nicht, dass es Haußmann war, der mich noch am Abend des 2. April zu Hause per Fernsprecher davon unterrichtete, wie das Gespräch zu dritt verlaufen war. Das Ergebnis ist kurz erzählt: Scheidemann verlangte nach der Unterstützung des Bürgertums für die Wahlrechtsreform in Preußen, anderen Falls werde die Sozialdemokratie die Arbeiterschaft nicht mehr daran hindern können, vom um sich greifenden Schlendrian allmählich zu spontanen Arbeitsniederlegungen überzugehen. Conrad Haußmann entgegnete darauf scharf und emotional, das sei Erpressung, und dieser werde sich die Fortschrittliche Volkspartei niemals beugen. Erzberger dagegen bat die Herren um Mäßigung und sinnierte nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Dreierrunde. Er vermutete diesen in einer möglichst zeitnahen Beendigung des Krieges. Dies sei nur zu erreichen, indem die Summe der politischen Kräfte auf Junker und Stahlbarone, auf OHL und Reichsregierung einwirkten. Man müsse den alten Eliten endlich klar machen, dass wir mit unseren deutschen Maximalforderungen niemals einen Frieden erreichten, es sei denn es gelänge uns, die Engländer und Franzosen bei Calais ins Meer und über die Pyrenäen nach Spanien zu treiben.

Plötzlich musste auch der bis dahin recht ernsthafte Scheidemann lachen. Er stimmte zu, dass die Fraktionen der Gesprächsteilnehmer bitte sehr beide Zielsetzungen zu verfolgen hätten: über den Reichstag auf die Wahlrechtsreform wie auf einen Verhandlungsfrieden zu drängen. Erzberger brachte das Ergebnis dann gleich unter Dach und Fach, indem er erklärte, das wolle er umgehend dem Herrn Stresemann mitteilen. Die drei waren sich nämlich nun auch noch darin einig, dass ihre Initiative nur dann Aussicht auf Erfolg haben werde, falls es ihnen gelänge, die Nationalliberale Partei auch noch für eine Kooperation zu gewinnen. Als Haußmann mir das berichtete, sprudelte es gleich aus mir heraus:

„Recht haben Sie da! Nur wenn Konservative und Bayernpartei an dem einen Rand des politischen Spektrums, die Unabhängigen Sozialdemokraten an dem gegenüberliegenden Rande erkennen, dass sie als die einzigen Gegner einer neuen Reformpolitik verbleiben, können Ludendorff und Bethmann begreifen, gar nicht mehr an der Einsicht vorbei sehen, dass sie sich bewegen müssen!”

„Das sind ja ganz ungewohnte Töne aus Ihrem Munde, lieber Doktor Stresemann. Ich war bislang immer davon überzeugt, die Nationalliberalen seien in solchem Maße eine staats- und regierungstragende Partei, dass sie niemals ein politisches Bündnis zur Beeinflussung der Reichsleitung eingehen würden. Das gibt mir die Hoffnung, dass dieses maßlose Schlachten im Westen ein Ende finden möge, bevor im Felde Millionen gefallen und zu Hause Millionen verhungert oder erfroren sein werden.”

So kam es, dass wir vier uns fast vier Wochen später, am 29. April, in meinem Privathaus trafen. Denn wir waren zuvor übereingekommen, ein Gespräch in der Öffentlichkeit einer gastronomischen Restauration käme ebenso wenig in Frage wie in den manchmal papierdünn anmutenden Wänden des so wuchtigen Reichstagsgebäudes.

„Die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts im Königreich Preußen ist die Basis für alles, vor allem dafür, dass Preußen auch noch länger ein Königreich bleibt. Vor unserem heutigen Treffen hat mir mein Parteivorsitzender Friedrich Ebert mit auf den Weg gegeben, dass er gerade angesichts der Agitation von Lenin in Petersburg mittlerweile von einem überzeugt sei: Besser eine Monarchie bleiben und die Anarchie auf der Straße damit vermeiden, als sich die volle politische Freiheit mit Elend und Chaos zu erkaufen.”

„Lieber Herr Scheidemann, falls es mir jemals gelingen sollte, meine Fraktion und meinen Vorsitzenden Ernst Bassermann von der Unvermeidbarkeit der Kooperation mit Ihren Sozialdemokraten zu überzeugen, dann wird es mittels dieser Überzeugung von Herrn Ebert sein.”

Ich war durchaus euphorisch in Anbetracht der Scheidemannschen Wortwahl. Und so wurde ich vom nüchternen Erzberger gleich wieder auf den harten Boden der tristen Tatsachen zurückgeworfen.

„Ob Sie da nicht übertreiben, lieber Stresemann? Ich habe Ihre nationalen Blätter stets so gelesen, dass die großen Fabrikherren aus dem Westen zwar die Erzgruben von Longwy und Briey von Frankreich verlangen, aber dafür noch lange nicht bereit sein werden, mit der Arbeiterschaft einen Frieden zu schließen für mehr Mitwirkung im Betrieb. Das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst haben die Hugenbergs dieser Welt doch nicht wirklich aus innerer Überzeugung akzeptiert. Sie versuchen doch weiter die Bildung von Arbeiterausschüssen zu verhindern oder diese, sobald vorhanden, zu schikanieren, wo es nur geht.”

Natürlich hatte Erzberger Recht. Aber das wollte und konnte ich doch hier gegenüber der Sozialdemokratie nicht so unumwunden zugeben. Scheidemann hätte mich sogleich für einen Hanswurst gehalten, mit dem keine weiteren Konsultationen zu halten sein würden, und vor allem hätte er seiner Fraktion genau so berichtet. Also musste ich mir etwas Überzeugendes einfallen lassen.

„Meine Herren, denken Sie denn tatsächlich, Herr Bassermann und ich hätten daran nicht zuvor gedacht, bevor wir uns zu meiner Teilnahme an diesem Gespräch entschlossen? Wir wissen um die stark divergierenden Flügel und Interessen gerade unter den Wirtschaftsvertretern meiner Partei. Die Vertreter der nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie und der Steinkohle sind noch weit davon entfernt, die Sozialdemokratie als Verhandlungs-, geschweige denn als Kooperationspartner anzuerkennen. Doch wenn es einer gesellschaftlich-politischen Kraft in Deutschland gelingt, die Stahlbarone aus dem Bündnis mit den konservativen Junkern zu locken, dann wird dies einzig und allein die nationalliberale Heimat jener Industriellen sein. Ich habe die Chance, Hugenberg und Stinnes das hier zu vermitteln: Sobald ihr nur noch die Konservativen als Bündnispartner habt, aber SPD, Zentrum, Fortschrittler, und die Mehrheit der Nationalliberalen gemeinsam für Reformen streiten, um das Reich zu erhalten, werdet ihr unwiederbringlich an Macht verlieren! Sie aber, Herr Scheidemann, werden politisch auf sich allein gestellt diese Chance auf die Einleitung eines Gesinnungswandels bei jenen Herren von der Ruhr niemals erhalten! Deshalb würden sie mir und Deutschland einen großen Gefallen tun, falls Sie bereit wären zu akzeptieren, dass wir vier hier ein gemeinsames Ziel verfolgen. Und voraussichtlich wird es uns auch lediglich gemeinsam mit vereinten Kräften glücken, unsere übereinstimmenden Vorstellungen zu verwirklichen. Sollten Sie versuchen, mich in meiner eigenen Partei zu schwächen, dann können Sie vielleicht meinen Abstieg besiegeln. Das gleiche Wahlrecht in Preußen aber oder gar einen Verständigungsfrieden, die bekommen Sie dafür aber nicht!”

Stille herrschte in der Runde. Conrad Haußmann atmete tief ein und aus, blickte mich an und lächelte fast unmerklich, dennoch ein wenig verschmitzt. Matthias Erzberger dagegen starrte gerade aus in die Leere. Er traute sich wohl nicht, einem von uns beiden vermeintlichen Kontrahenten, Scheidemann oder mir, sofort ins Gesicht zu blicken, und damit dem anderen zu signalisieren, wem er gerade eben die größeren Sympathien entgegen bringe. Weil er wohl die Befürchtung hegte, der jeweils andere könnte das zum Anlass nehmen, sich als isoliert zu betrachten und die Runde womöglich für immer als gefühlter Verlierer zu verlassen. Da stand etwas auf Messers Schneide, das spürte ich wohl. War ich vielleicht zu weit gegangen, mit meiner forschen Sprache, die Scheidemann als ein wenig arrogante Zurechtweisung würde begreifen können? Ich wartete einfach ab und konzentrierte mich scheinbar darauf, meinen Kaffee genussvoll zu trinken.

„Ja, ja, so ist das mit den großbürgerlichen Nationalliberalen. Da glauben sie, uns kleinen Sozialdemokraten Vorhaltungen machen zu dürfen, weil wir vielleicht nicht das große Ganze der deutschen Politik im Auge hätten. Lieber Stresemann, wäre das hier gerade in einer Debatte des Reichstags geschehen, so erlebten wir jetzt sogleich einen heftigen Schlagabtausch, der das Klima zwischen unseren Parteien kaum würde zum Besseren wenden helfen.”

Scheidemann machte eine Pause und wartete ein wenig ab. Er genoss die Spannung in Erzbergers Gesichtszügen. Ich war indes um ein Pokerface bemüht. Ob es mir restlos gelang, mag ich im Nachhinein bezweifeln, so wie es in jenem Moment damals in meinem Innersten aussah.

„Doch meine Herren, wir sind ja hier nicht im Deutschen Reichstag, glücklicherweise. Denn weil dies anders ist, ist es uns gestattet, einfach als ehrliche deutsche Männer weiter miteinander um den Austausch der besten Argumente zu ringen. Weil das so ist, verspüre ich keineswegs eine Neigung, polemisch oder auch nur heftig zu reagieren. Mein Wunsch ist statt dessen, das Gespräch mit Ihnen, Herr Doktor Stresemann, einfach und ernsthaft fortzusetzen. Weil wir hier hinter verschlossenen Türen sprechen, weil wir uns versichert, ja sogar geschworen haben, dass kein Wort aus diesem Raume draußen über unsere Lippen kommt, es sei denn, es ist einvernehmlich so vereinbart, ja deshalb hat unserer Runde zu viert eine echte Aussicht auf Fortschritte. Meine Herren, möge es uns gelingen, einen Beitrag zur Gerechtigkeit in Preußen und Deutschland, einen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten!”

Mit diesen durchaus theatralisch über Scheidemanns Lippen kommenden Worten endete unser erstes Treffen. Viele weitere sollten bis Ende Juni folgen, das Vertrauen zwischen uns stärken, das Verständnis füreinander schaffen, welche ernst zu nehmenden Motive jeder einzelne für seine Haltung hatte. Am Ende musste ich lernen, dass meine eigene Partei noch nicht bereit war, die Macht in Preußen zu teilen. Somit behielt Erzberger Recht mit seiner nüchternen Kritik vom ersten Tage. Und auch Matthias Erzberger war es, der den Schlüssel zum Erfolg unserer Gesprächsrunde schmiedete, indem er immer aufs Neue Vorschläge für einen Frieden ohne großes deutsches Kriegszielprogramm formulierte. Wir rieben uns daran, arbeiteten uns daran ab. Ab Pfingsten 1917 schließlich zeichnete sich ab: Wir würden für unsere vier Parteien die Chance sehen, eine Resolution des Abgeordneten Erzberger mit der Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen mit der Entente zur Erzielung eines Verständigungsfriedens zu unterstützen. Ein herrliches Gefühl! Ich empfand es als einen wichtigen Anfang, auf den hoffentlich weitere handfeste Ergebnisse aus der Zusammenarbeit von Fortschrittlern, Nationalliberalen und Zentrum mit der Sozialdemokratie folgen würden. Ich wusste indes Ende Juni genau: Vor einer tatsächlichen Friedensinitiative, oder gar vor einer echten Wahlrechtsreform in Preußen, standen nicht allein Reichskanzler Bethmann-Hollweg, Generalleutnant Ludendorff, sondern ebenfalls der Kaiser und sein leider all zu oft Säbel rasselnder Sohn. So sehr ich Kronprinz Wilhelm persönlich mochte und in zahlreichen persönlichen Begegnungen zu schätzen gelernt hatte, so tief beunruhigte mich, wie inbrünstig es Wilhelm danach verlangte, seinen vermeintlich so zahmen und überlegten Vater an vaterländischer Gesinnung und vor allem an nationalen Taten zu übertrumpfen.