1918 - Wilhelm und Wilson

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8 26. Februar 1918 - Herzinfarkt

Ich bin kurz aufgewacht. Es muss am frühen Abend sein, denn vor dem Fenster herrscht Dunkelheit, doch zugleich dringt der Lärm des Verkehrs mit Automobilen und Lastkraftwagen an mein Ohr. Der Schlaf hat mir gut getan. Ich fühle mich besser, ein wenig kräftiger. Doch die Müdigkeit ist nicht gewichen. Ich atme einige Male tief ein und aus. Das wirkt befreiend. Mit dem Spannen des Brustkorbs bei jedem Atemzug und der damit verbundenen Gleichmäßigkeit fallen meine Augenlieder erneut zu. Wie wird es mir morgen wohl gesundheitlich gehen? Werden mein Herz und mein Organismus diesen Schlag tatsächlich noch einmal weitgehend schadlos überstehen?

Am Morgen des 26. Februar nimmt Kronprinz Wilhelm im Hauptquartier seiner Heeresgruppe nördlich der Front an der Somme wie üblich zwischen 7.30 Uhr und 8.30 Uhr sein Frühstück ein. Die Stunde benötigt er jeden Tag, doch nicht wegen der Üppigkeit seiner Mahlzeit, sondern well er die Gelegenheit stets schon dazu nutzt, sich von seinem Adjutanten vortragen zu lassen. Als Erstes sind die Neuigkeiten aus dem Großen Generalstab an der Reihe. Major von Müller hat die Aufgabe, von Montag bis Samstag in der Frühe ab 6 Uhr den Fernschreiber auf Nachrichten aus Spa oder aus dem Kriegsministerium in Berlin oder auch aus dem Zivilkabinett seines Vaters auszuwerten. Hinzu tritt die Lektüre der Morgenzeitungen des Vortages, die sich der Kronprinz in sein Hauptquartier schicken lässt. Nicht nur Berliner und Wiener Blätter, auch Pariser und Londoner Zeitungen interessieren den Kronprinzen.

Gegen 8.30 Uhr macht sich Wilhelm an diesem Morgen wie auch sonst üblich kurz frisch, führt ein fernmündliches Gespräch mit seiner Gattin Cecilie und erscheint Punkt 9 Uhr im Besprechungsraum seines Stabes, um den täglichen Morgenrapport zu den militärischen Bewegungen der zurückliegenden 12 bis 14 Stunden entgegenzunehmen. Der meist einstündige Morgenrapport ist noch nicht beendet, da öffnet ein Stabsfeldwebel nach nur einmaligem Klopfen schwungvoll die Türe, salutiert, blickt den Kronprinzen an und wartet kaum ab bis der soeben Bericht erstattende Stabsoffizier seinen Satz vollendet hat.

„Kaiserliche Hoheit, ich bitte vielmals um Entschuldigung für die Störung. Seine Exzellenz, der Leiter des Zivilkabinetts Seiner Majestät, der Herr leitende Regierungsrat von Berg ist am Fernsprecher in der Leitung und wünscht sie umgehend zu sprechen, kaiserliche Hoheit.“

Über dem Raum liegt plötzlich ein gespenstisches Schweigen. Es liegt in der Luft, dass sich in Berlin etwas Außergewöhnliches ereignet haben könnte. Der Kronprinz zögert einen Moment. Er entscheidet sich dann dafür, dass seine Neugierde viel größer ist als sein Bedürfnis, diesen arroganten Schnösel von Berg ein wenig Zappeln zu lassen, und setzt sich mit gemessenen Schritten in Bewegung. Begleitet wird er vom Stabsfeldwebel, der die Meldung über von Bergs Anruf überbrachte.

Was kann es sein, dass von Berg dazu veranlasst, hier anzurufen. Das hat er noch nie getan. Auf dem kurzen Weg vom Sitzungssaal des Stabes bis in sein Arbeitszimmer gehen Wilhelm wirre Dinge durch den Kopf: Ein neuer Kronrat, vielleicht anlässlich des Friedens von Brest-Litowsk. Hindenburg und Ludendorff haben irgend eine neue Forderung an den Kaiser und die Reichsregierung aufgestellt. Mein Vater bemüht sich nach unserem Gespräch an Weihnachten um eine neue Qualität des Austausches; er bittet mich zum Gespräch nach Berlin. Irgendwelche personellen Veränderungen kündigen sich an. Meiner Mutter geht es schlecht oder einem anderen Mitglied der Familie.

Der Kronprinz bedankt sich beim Feldwebel und schließt hinter sich die Türe seines Arbeitszimmers. Er knöpft die oberen beiden Knöpfe seines Uniformrockes auf und prustet leicht, während er sich auf den Schreibtischsessel plumpsen lässt. Sogleich läutet das Telefon. Wilhelm atmet ein Mal tief aus und nimmt den Hörer ab. Keine Sekretärin, kein Adjutant, nichts! Für einen kurzen Moment ist Stille in der Leitung. Der Kronprinz meldet sich.

„Wilhelm von Preußen.“

Sofort ist von Berg zu vernehmen.

„Guten Morgen, kaiserliche Hoheit, ich bitte die unhöfliche Störung ihrer Stabsbesprechung vielmals zu entschuldigen. Doch der Grund dafür rechtfertigt mein Vorgehen. - Ich habe ihnen eine schwere Mitteilung zu machen. Seine Majestät, Kaiser Wilhelm, König von Preußen, hat in der zurückliegenden Nacht einen Herzinfarkt erlitten.“

Pause.

„Und Seine Majestät, euer Herr Vater, ist in den Morgenstunden des heutigen Tages den Folgen erlegen.“

Erneute Pause

„Ich spreche ihnen hiermit mein tief empfundenes Beileid aus.“

Pause!

„Und ich möchte in dieser schweren Stunde zugleich nicht versäumen, ihnen für die Zukunft, für ihre Regentschaft alles Gute, Fortune und Erfolg, vor allem aber den Sieg in diesem größten Ringen zu wünschen, das die Völker jemals bestehen mussten. Meinen herzlichsten Glückwunsch zu ihrer Regentschaft, euer Majestät.“

Wilhelm schnappt nach Luft. Er ist wie vor die Stirn geschlagen. Leere ist das einzige Empfinden. Er starrt auf das Foto seines Vaters, das neben der Türe vor ihm an der Wand hängt. Das Bild mag von 1913 sein. Der Kaiser trägt darauf die weiße Gardeuniform des Kürassiers, versetzt mit einem versilberten Brustpanzer, dazu die Pickelhaube mit dem preußischen Adler auf dem Haupt. Und Wilhelm II. sieht auf dem Bild so verdammt jung aus! Ein Mann in den besten Jahren, lediglich ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen, eben mehr als man sich das wünschen mag. Jetzt ist er tot. Vater ist tot! Für einen kurzen Moment ist Leere in Wilhelms Kopf.

Und ich bin ab sofort der Kaiser! Mein Gott, stehe mir bei! Anstatt in aller Ruhe verarbeiten zu können, was da gerade passiert ist, was das für mich bedeutet, muss ich jetzt, sofort, handeln! Aber was bedeutet das?

Trauerfeierlichkeiten vorbereiten!

Richtungsgespräche, mit der OHL und auch mit Reichskanzler Hertling!

Eine Rede an das Volk.

Doch zuerst die Familie!

Ich werde gleich zuallererst meiner Mutter fernmündlich kondolieren, ihr Trost zusprechen. Sie ist jetzt der ärmste Mensch, an den keiner denkt! Dann folgen meine Geschwister und Cecilie. Doch vorab soll von Berg, ob ich ihn nun mag oder nicht, die Trauerfeierlichkeiten arrangieren. Das kann er und dafür brauche ich ihn jetzt!

„Herr von Berg, haben sie herzlichen Dank für ihre Kondolenz und für ihre besten Wünsche. Ich werde selbstverständlich noch heute von der Front nach Berlin abreisen. Sie waren jüngst der engste und wertvollste Vertraute meines Vaters und ich brauche sie jetzt! Das Reich braucht sie jetzt! Ich bitte sie, alle, ausnahmslos alle Vorbereitungen zu treffen, die für die Beisetzung und die Trauerfeierlichkeiten Seiner Majestät erforderlich sind. Ich werde jetzt unmittelbar von meinem Hauptquartier aus mit der Familie sprechen, mit meiner Frau Mutter zumal. Ich werde persönlich daraufhin Herrn Generalfeldmarschall von Hindenburg verständigen und persönlich ihn darum bitten, von Spa nach Berlin zu reisen und an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Vermute ich recht, dass sie bereits veranlasst haben, die Oberste Heeresleitung und den Herrn Reichskanzler zu verständigen?“

„Sehr wohl, euer Majestät. Das habe ich durch meinen Stellvertreter veranlasst. Ebenfalls habe ich über das Kriegsministerium veranlasst, dass ihnen in Sedan ein Zug mit einem bequemen Reiseabteil bereitgestellt wird. Im Zug wird ihnen ebenfalls eine stabile fernmündliche Verbindung in die Oberste Heeresleitung sowie zu mir ins Zivilkabinett Seiner Majestät eingerichtet sein. Sind sie einverstanden, die Fahrt dorthin gemeinsam mit ihrem Adjutanten im Automobil zurückzulegen?“

„Selbstverständlich, Herr von Berg, haben sie vielen Dank für ihre Umsicht und Zügigkeit. Sobald ich in Berlin eintreffe, bitte ich sie darum, mir umfassend Bericht über alle bis dahin getroffenen Maßnahmen zu erstatten. - Und dann habe ich noch eine besondere Bitte, die ich schon jetzt, schon zur Vorbereitung der ersten Schritte für die Trauerfeierlichkeiten ihnen auftragen möchte. Sie belangt die Fraktionen des Reichstags sowie die Vertreter der gegnerischen Mächte in Berlin.“

Wilhelm wartet sehr bewusst einige Sekunden. Er möchte die Verblüffung über seine Andeutung bei von Berg reifen lassen. Und der Freiherr ist ein würdiger Vertreter alten preußischen Adels. Selbstverständlich wahrt er die volle Contenance, räuspert sich nicht einmal und wartet geduldig ab bis sein neuer Herr, bis Kaiser Wilhelm III., Deutscher Kaiser und König von Preußen, fortfährt.

„Herr von Berg, mir ist in dieser schweren Stunde für die Monarchie, für das gesamte deutsche Volk sehr daran gelegen, die Einigkeit, die vaterländische Gesinnung und die Stärke der deutschen Nation aller Welt vor Augen zu führen. Dazu zählt es, Größe und Offenherzigkeit zu zeigen. Deshalb werde ich getreu dem Burgfrieden, den mein Vater im August 1914 mit allen Deutschen, die ehrenwerte Männer und Frauen sind, geschlossen hat, alle gewählten Vertreter unserer Nation zu den Feierlichkeiten einladen. Bitte bereiten sie Schreiben an die Vorsitzenden sämtlicher Fraktionen im Deutschen Reichstag und ebenso im Preußischen Abgeordnetenhaus vor, die ich persönlich morgen früh unterzeichnen werde.

Was unsere Feinde in diesem Kriege betrifft, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie allesamt ihre diplomatischen Beziehungen zum Reich abgebrochen haben, so dass die Mächte keine Botschafter mehr in Berlin unterhalten. Das ist bedauerlich, aber vielleicht zugleich eine Chance. Ich bitte sie darum, Scheiben an alle Staats- und Regierungschefs aller Nationen der Entente - und natürlich auch unserer Verbündeten - zu entwerfen, mit welchen wir die Herrschaften persönlich zur Teilnahme an der Beisetzung Seiner Majestät in der Reichshauptstadt einladen. Lassen sie einfließen, dass ich Verständnis dafür aufbrächte, falls unabweisbare Regierungsverpflichtungen eine Vertretung erforderlich machten.“

 

„Aber, euer Majestät, mit Verlaub, was soll das denn für eine Veranstaltung werden? Beabsichtigen sie, die Trauerfeiern zu einer Art inoffiziellem Friedensgespräch zu missbrauchen?“

„Missbrauchen! Missbrauchen? Wovon sprechen sie, Herr von Berg? Die Welt braucht den Frieden. Deutschland braucht den baldigen Sieg. Nichts hätte sich mein Herr Vater mehr gewünscht, als durch seinen unerwarteten Tod selbst einen Beitrag von welthistorischer Größe dazu zu leisten, dass der Weltkrieg in seinem Todesjahr ein für das Reich würdiges und erfolgreiches Ende findet.“

Wohl überlegt meidet Wilhelm den Begriff siegreich.

„Sehr wohl, euer Majestät. An den hehren Zielen ihres Herrn Vaters darf überhaupt nicht der geringste Zweifel bestehen. Ich bin vollends davon überzeugt, dass sie ihre - sagen wir, etwas unkonventionelle - Initiative alsbald mit der zivilen wie der militärischen Reichsleitung erörtern werden.“

„Noch heute im Tagesverlauf vom Zug aus, Herr von Berg. Falls sie es wünschen, werde ich sie höchst persönlich noch vor meinem Eintreffen in Potsdam unterrichten.“

„Sehr gerne, euer Majestät, es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen.“

Mit diesen Worten und sehr versöhnlich endet die Unterredung zweier Männer, die sich jeder für sich selbst noch am Vortag ihre Antipathie füreinander offen eingestanden hätten.

Wilhelm, nicht mehr Kronprinz, fühlt sich leicht. Er fühlt sich gut in seinem Schreibtischsessel. Erneut blickt er das Foto seines Vaters an der Wand an. Anders als sein Vater darauf, lächelt Wilhelm jetzt, ganz allein für sich. Das war doch eine sehr spontane, eine nun wirklich verdammt gute Idee! Die demokratischen Parteien und die Vertreter Amerikas, Englands und Frankreichs sollen im Berliner Dom neben mir, neben Hindenburg, Ludendorff und Hertling stehen. Sie alle sollen meinem Vater die letzte Ehre erweisen. Und anschließend sollen sie dem deutschen Volke und der Welt dokumentieren, dass man miteinander spricht, dass wir für jeden Gegensatz auf dieser Erde eine Lösung finden können, wenn wir erst einmal begonnen haben uns tief, voll gegenseitiger Achtung in die Augen zu blicken!

Stresemann, der alte Fuchs, den brauche ich jetzt, wenn ich zu Hause ankomme! Der wird meine Idee bestimmt ebenso genial, na sagen wir weniger selbstverliebt hilfreich, finden wie ich selbst.

Kaiser Wilhelm III. verlässt sein Arbeitszimmer. Vor der Türe salutiert der Stabsfeldwebel. Schweigend geht Wilhelm an ihm vorbei zurück in den Sitzungssaal des Stabes seiner Heeresgruppe.

„Meine Herren, Seine Majestät, Kaiser Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen, ist heute, am 26. Februar 1918, in der Früh von uns gegangen.“

Die Offiziere und Mannschaftsdienstgrade seines Stabes salutieren, kondolieren einzeln mit Handschlag und tiefer Verbeugung. Anschließend gratuliert der leitende Offizier seines Stabes dem neuen Kaiser zur Regentschaft und stimmt an:

„Ein dreifaches Hoch auf Seine Majestät, Kaiser Wilhelm III.. Er lebe hoch, hoch, hoch!“

Der Kaiser kündigt seine Abreise mit dem PKW nach Sedan in einer Stunde an, bittet seinen Adjutanten um einige Vorbereitungen und entschuldigt sich mit dem Hinweis, nun seiner Frau Mama zu kondolieren. Der leitende Stabsoffizier bittet ihn, der Kaiserin das aufrichtigste Beileid seines Stabes zu übermitteln. Wilhelm sagt dies zu und zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück. Dem Stabsfeldwebel hat er zuvor aufgetragen, zuerst im Berliner Stadtschloss anzurufen und eine Verbindung mit seiner Mutter herzustellen. Als zweites verlangt er umgehend eine fernmündliche Verbindung mit dem Vorsitzenden der Nationalliberalen Partei im Deutschen Reichstag.

Es dauert kaum zehn Minuten, da meldet der Stabsfeldwebel Wilhelm ihre Majestät, Kaiserin Auguste Viktoria. Wilhelm eröffnet das Gespräch beherzt.

„Liebe Frau Mama, der tiefe Schmerz über den plötzlichen Verlust eint uns. Doch ich weiß selbstverständlich, um wie viel schmerzlicher dich der Tode meines lieben Herrn Papas berühren, nein treffen muss als mich. In deiner unendlichen Trauer bin ich bei dir, in Gedanken jetzt und in Taten schon ab morgen. Mein Zug fährt bald und ich werde noch heute Nacht in Potsdam eintreffen.“

Ein Schluchzen in der knisternden Telefonleitung füllt die Stille.

„Ach, mein lieber Willi. Habe herzlichen Dank für deine lieben Worte. So unfassbar plötzlich hat der Tod deinen guten Vater, meinen geliebten Gatten aus unserer Mitte gerissen! Ich kann es noch nicht fassen. Womöglich macht dies den Schmerz sogar vorübergehend noch erträglicher. Bitte besuche mich morgen im Schloss. Wir müssen jetzt über so vieles sprechen. Herr von Berg steht uns bei mit all seinen Fähigkeiten.“

„Ja bitte, Frau Mama. Er soll morgen mit dabei sein. Wir werden alle Vorbereitungen treffen, die für die Trauerfeierlichkeiten von Nöten sind.“

Es folgen noch einige Sätze über Wilhelms Geschwister. Die Kaiserin weiß inzwischen, dass sich alle in der Hauptstadt oder auf der Reise dorthin befinden. Anschließend wünscht Kaiserin Auguste Victoria viel Erfolg als neuer Kaiser. Er solle seine Zeit nun dafür nutzen, die Staatsgeschäfte in die Hand zu nehmen.

„Möge dir gelingen, was deinem guten Vater leider versagt blieb: Den großen Weltkrieg zu vermeiden oder aber, als er dann im Gange war, für unser Reich, für das Königtum Preußen siegreich zu bestehen!“

Wilhelm ist über den letzten Satz, den Wunsch seiner Mutter nachdenklich. Ihm ist jetzt noch viel krasser als im Telefonat mit dem Freiherrn von Berg klar, dass von einer auf die nächste Minute Verantwortung auf ihm lastet. Als Kronprinz wurde er von vielen Mitgliedern der politischen oder militärischen Elite hofiert, weil sie hofften, er nähme Einfluss auf seinen Vater. Der Grund für die Wertschätzung, die er genoss, bestand weit weniger darin, dass der eine oder andere an den Tag in ferner Zukunft denken mochte, an dem er die Krone des Reiches aufgesetzt bekommen würde. Und wie ging er selbst damit um? Wilhelm war immer für einen flotten oder besser noch markigen Spruch zu haben. Gerne warf er im kleinen Kreis dem Kaiser - natürlich nur in dessen Abwesenheit, wenn man von der einmaligen Ausnahme Weihnachten absieht - unterschwellig und süffisant vor, zu zögerlich zu sein, Kanzler oder Generalstab nicht auch einmal einen klaren Befehl zu erteilen. So hätte sich der große Friedrich niemals von seinen leitenden Staatsbeamten oder Armeeführern gängeln lassen! So hatte Wilhelm eigentlich ja auch gedacht, als er Weihnachten das reinigende Gewitter mit dem Kaiser suchte. Seines Vaters Aufgeschlossenheit für Kritik war der Kronprinz wiederum schnell geneigt als Unentschlossenheit zu deuten.

Aber heute empfindet der neue, junge Kaiser anders. Tat er seinem Herrn Papa Unrecht vor zwei Monaten? Bewirkte die Last ungeheurer Verantwortung für das Schicksal der größten Nation Europas, der größten militärischen Landmacht der Welt nicht beinahe zwangsläufig eine immense Vorsicht? War es nicht oftmals richtig, auf die Stimme seiner Ratgeber zu hören, die naturgemäß auf ihren Fachgebieten Experten und ihm an Sachkenntnis und vielleicht gar auch an Urteilskraft überlegen waren?

Wilhelm III. hört sein Herz laut schlagen. Eine merkwürdige innere Unruhe bemächtigt sich seiner. Wie vollkommen verändert nimmt er die Welt, die Politik, den Krieg wahr, jetzt, da alles, die Zukunft in letzter Instanz von seinen ganz persönlichen Entscheidungen abhängen werden! Wilhelm mahnt sich, zwar niemals die Größe jener Verantwortung außer acht zu lassen, die es bedeutet, der mächtigste Monarch Europas zu sein. Er fordert von sich selbst in dieser Stunde jedoch, sich zugleich niemals so sehr von einem wahren Heer an Beratern, Mächtigen in Staat und Armee abhängig zu machen, dass er vor der großen Vielzahl an unterschiedlichen Stimmen, die auf ihn eindringen, die Orientierung, den Mut und die innere Sicherheit verliert, Entscheidungen treffen zu können. Wenn es etwas gibt, von dem er fest überzeugt ist, dass es Wilhelm II. unglücklich gemacht hat, dann war es die allmähliche Erkenntnis, viel zu wenige Entscheidungen selber getroffen zu haben, immer öfter zu einem Spielball der Kanzler, der Presse, der Heerführer oder auch von Bergs beziehungsweise seines bis Januar 1918 amtierenden Vorgängers von Valentini geworden zu sein. Und immerhin ist Erkenntnis der erste Schritt zur Besserung. Wilhelms Laune bessert sich wieder. In dieser Stimmung fragt er beim Stabsfeldwebel nach, was es denn mit dem Gespräch mit Doktor Stresemann auf sich habe. Wilhelm erfährt, dass Gustav Stresemann über Reichskanzler Graf von Hertling schon vom Tod Seiner Majestät erfahren habe und sich wohl gerade deshalb auf dem Wege von einem abgebrochenen Gespräch mit Industrievertretern in den Reichstag befinde. Von dort werde er umgehend zurückrufen, wie seine Sekretärin in der Nationalliberalen Fraktion zugesichert habe. Der Kaiser freut sich darauf, mit seinem Vertrauten gleich erstmals als Monarch sprechen zu können. Die Zeit bis dahin nutzt der junge Kaiser für Anweisungen an seinen Adjutanten: Koffer und Arbeitstasche packen, Vorbereitungen auf Schloss Cecilienhof für seine Ankunft treffen. Plötzlich fällt Wilhelm ein, dass er seine Gattin vollkommen vergessen hat. Sie ist zwar sicherlich nicht emotionale Hauptbetroffene des Todes seines Vaters, aber Wilhelm empfindet sich sofort als unhöflich, sogar als ignorant, in dieser außergewöhnlichen, schweren Stunde nicht den Kontakt zu dem Menschen zu suchen, der ihm am nächsten steht. Deshalb erhält Major von Müller den eilfertig nachgeschobenen Auftrag, seiner Gemahlin die allerherzlichsten Grüße auszurichten und anzukündigen, sobald er im Zuge von Sedan nach Potsdam sitze, als erstes mit Cecilie zu telefonieren, Kaiserin Cecilie, wie es von nun an heißen werde. Da meldet der Stabsfeldwebel das Gespräch aus dem Reichstag. Ohne dass Wilhelm Zeit findet, sich am Hörer des Fernsprechers zu melden, vernimmt er schon sein Gegenüber.

„Mein aufrichtiges, allerherzlichstes Beileid, kaiserliche Hoheit, Euer Majestät. Es muss ein schrecklicher Verlust sein, den geliebten und geachteten Vater so urplötzlich in der schwersten Stunde unseres Vaterlandes zu verlieren. Mein volles Mitgefühl gilt ihnen, auch wenn ich mir nicht anmaße, mich heute in ihre Lage, ihre Empfindungen und in die schlagartige Last der Verantwortung hineinversetzen zu können. Weil das aber so ist, und weil ich mich ihnen sehr nahe fühle, gerade nach unserem letzten Gespräch auf Cecilienhof, Euer Majestät, bitte ich sie aufrichtig, jede Bitte um Unterstützung, die ich ihnen zu leisten vermag, ganz freimütig, ohne Bedenken oder Zweifel unmittelbar zu äußern. Es ist mir eine Ehre und eine Freude, Euer Majestät gegebenenfalls im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten eine kleine Unterstützung angedeihen lassen zu können.“

„Mein lieber Doktor Stresemann, haben sie den herzlichsten Dank für ihre mitfühlenden Worte. An deren Aufrichtigkeit hege ich nicht den Hauch eines Zweifels. Das wird für viele Kondolenzen der folgenden Tage und Stunden nicht gelten! Mich treibt tatsächlich eine gewisse innere Unruhe um, und zwar nicht wegen der vielen Dinge, an die man und ich jetzt für die Beisetzung des Kaisers denken muss, sondern genau wegen der eben von ihnen so klar benannten Verantwortung, die der Kronprinz gerade nicht trug. Doch ich sage ihnen: Das Grübeln bringt uns jetzt nicht weiter! Ich will durch Taten auf neue Gedanken und neue Handlungsweisen kommen. Und ich setze auf ihre Hilfe, auf ihr Urteil, auf ihre politische Unterstützung in der Reichshauptstadt. Aber jetzt sei es genug mit der allgemeinen Vorrede, ich will benennen, worum es geht. Freiherr von Berg, der Chef des Zivilkabinetts Seiner Majestät, teilte mir vor nur einer halben Stunde mit, dass mein Vater verstorben sei. Ohne groß nachzudenken, erteilte ich ihm einige Aufträge für die Vorbereitung der Trauerfeierlichkeiten. Und im Sprechen kommt mir der Einfall, den ich ohne zu Zögern in eine Anweisung münze: Laden sie alle Mitglieder des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses ein! Warum tue ich das? Ohne es von Berg zu offenbaren, sollen alle gewählten Volksvertreter Preußens und Deutschlands in die trauernde Volksgemeinschaft ausdrücklich aufgenommen sein. Dann folgt der zweite Auftrag: Laden sie die Staats- und Regierungschefs aller Mittelmächte, aber ebenso aller großen Staaten der Entente ein und bekräftigen sie gleich vorsorglich, dass der Kaiser - also ich - in Anbetracht der besonderen Umstände des Krieges eine persönliche Vertretung selbstverständlich akzeptieren werde.“

 

„Das ist ja großartig!“

Ich falle Seiner Majestät unhöflich ins Wort, vor freudiger Überraschung, die seine kreative Initiative für mich bedeutet. Als sei es erst heute gewesen, erinnere ich mich der tiefen Erkenntnis und der Freude, die mich erfasste: Der Mann ist noch nicht seit einer Stunde Kaiser Wilhelm III. des Deutschen Reiches und schon tritt er eine Initiative zur symbolischen und Signal gebenden Kommunikation der widerstreitenden Kräfte im Inneren wie in der Welt los. Das lässt hoffen! Dafür musst du dich reinhängen, Gustav, alter Schwede!

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, euer Majestät, für meine unflätige Unterbrechung ihrer Schilderung, doch die freudige Überraschung ob ihres guten Einfalls war einfach zu groß!“

„Das liebe ich an ihnen, Doktor Stresemann. So freimütig, aufrichtig und immer vaterländisch gesinnt auch im Gespräch mir gegenüber aufzutreten, das macht unser Verhältnis zueinander zu etwas ganz Besonderem. Ich möchte es, gerade in dieser Stunde, in der sie eine gewisse Scheu befallen mag, dass sie mit mir - wie sagt man so schön - auf Augenhöhe kommunizieren, ganz unbefangen formulieren. Für mich ist unser Umgang miteinander seit den Weihnachtstagen nicht mehr nur ein geschäftsmäßiger, lieber Doktor Stresemann, er ist ein freundschaftlicher geworden. Es würde mich sehr erfreuen, falls sie meine Bewertung teilen möchten.“

Mir bleibt der Atem weg! Kronprinz Wilhelm ist jetzt Kaiser Wilhelm III. und er bezeichnet mich auf seine unnachahmlich charmante, in Anbetracht seiner gesellschaftlichen Stellung durchaus zurückhaltende Art ausgerechnet an diesem Tag als seinen Freund. Dafür bin ich selbst viel zu sehr glühender preußischer Monarchist, um nicht gerührt und begeistert zu sein. Doch hinzu tritt die eigentlich persönliche Komponente dieser Erklärung: Wilhelm und ich haben nach Neujahr ein sehr vertrauliches, offenes, sogar ein wenig konspiratives Gespräch geführt, das uns einander näher gebracht hat. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, unser beider politische Zukunft hinge nun aneinander. Und dennoch empfinde ich Folgendes: Wir haben uns auf gemeinsame Ziele und auf Kompromisse verständigt, die wir wahrscheinlich nur gemeinsam erreichen können. Ohne ihn wird Ludendorff kaum zu einem Frieden ohne völligen militärischen Sieg zu bewegen sein. Ohne ihn aber wird die amtierende dritte OHL unter gar keinen Umständen zu entlassen sein, falls Hindenburg und Ludendorff einem Verhandlungsfrieden weiterhin kategorisch ablehnend gegenüberstehen sollten; und dies wieder ist alles andere als gänzlich unwahrscheinlich. Ohne mich dagegen wird es schwer werden, die demokratische Reichstagsmehrheit schon heute und erst recht für die Nachkriegszeit innerlich mit der Monarchie zu versöhnen und Teile der alten Eliten für die Parlamentarisierung Preußens zu gewinnen. - Das verbindet! Und es wird uns noch zusammenschweißen! Das spüre ich heute deutlicher denn je.

„Euer Majestät, ich weiß kaum, was ich darauf sagen soll. Es beschämt mich, wenn sie mir die Hand der Freundschaft reichen. Schließlich möchte ich mir niemals anmaßen, in unserer preußisch-deutschen Ordnung mit ihnen auf einer Stufe zu stehen, nicht was unseren Rang in der deutschen Gesellschaft betrifft und auch was unser Wirken anlangt. Sehr gerne allerdings möchte ich den Geist unserer Unterredung auf Schloss Cecilienhof als sehr angenehmen Auftakt zu Vertrauen und freundschaftlicher Zusammenarbeit verstehen. Dass sie dies ähnlich sehen und auf mich zugehen, um mir diese Freundschaft anzubieten, erfüllt mich mit einer sehr tiefen und wahrlich großen Freude.“

Nur zehn Minuten später, es ist 10.05 Uhr, sitzt Kaiser Wilhelm III. mit seinem Adjutanten Major von Müller und seinem Fahrer im PKW auf dem Weg nach Sedan. Dort besteigt er um 10.45 Uhr den Zug mit seinem Sonderabteil in Richtung der Reichshauptstadt. Nun setzt Wilhelm seinen guten Vorsatz in die Tat um und lässt ohne Aufschub eine fernmündliche Verbindung zum Schloss Cecilienhof, zu seiner hoch geschätzten und geliebten Gattin Cecilie herstellen. Wilhelm ist erleichtert und fröhlich darüber, dass ihm seine Gattin nicht vorhält erst jetzt, über eine Stunde nach Freiherrn von Berg, mit ihr zu telefonieren. Ganz im Gegenteil zeigt sich Cecilie sehr mitfühlend und vorsichtig tastend, um die persönliche Betroffenheit, den Schmerz in der Trauer ihres Mannes herauszufinden. Wilhelm stellt im Gespräch fest, dass seine Gedanken seit gut einer Stunde bereits nicht mehr um das Andenken seines Vaters und auch kaum noch um den standesgemäßen Rahmen der Trauerfeierlichkeiten kreisen, sondern vielmehr in die Zukunft gerichtet sind. Ist er herzlos? Wilhelm verdrängt den Gedanken mit einem Hauch der Selbstberuhigung sogleich wieder. Nein! Es ist der Lauf der Geschichte in der größten Monarchie Europas, dass im Augenblick des Todes zugleich der Augenblick der Thronfolge eintritt. Und dies wiederum legt jenen besagten Felsbrocken an Last der Verantwortung auf Wilhelms schmale Schultern. So ist er überzeugt davon: Er tut gut daran, die Kraft all seiner Gedanken und Gefühle, die in diesem Sinne glücklicherweise nicht nur voll Trauer erfüllt sind, ohne Umschweife auf die Gestaltung der Zukunft zu richten!

Sodann konzentriert sich der Kaiser wieder auf das Gespräch mit seiner Frau, erkundigt sich danach, wie die Kinder den Tod ihres geliebten und verehrten Großvaters aufgenommen hätten, berichtet von seinem ersten Austausch mit Herrn von Berg über die Ausrichtung der Feierlichkeiten, bittet seine Frau schließlich darum, ihn bei der Planung dieser weltweit beachteten Veranstaltungsfolge tatkräftig und umsichtig zu unterstützen. Cecilie reagiert erfreut, so als hätte sie eine offene Bitte solcher Art, die zugleich sehr viel Wertschätzung für ihren Rat und Beistand ausdrückt, heute am allerwenigsten erwartet. Und dann geschieht das, was Wilhelm niemals als Gedankengang bei seiner Gattin vermutet hätte. Sie fragt ihn danach, ob er nun die Zeit fände, nach dem Telefonat mit ihr sich erstmals den großen Staatsgeschäften zu widmen. So sei es doch wohl höchste Zeit, daran zu gehen, Gespräche mit dem Kanzler und der OHL zu führen, gegebenenfalls auch den Kronrat einzuberufen. Wilhelm frohlockt innerlich über die Worte seiner Frau, aus denen mehr an Verständnis für seine wahren, seine wahrlich bedeutsamen Gedanken, Sorgen und Gefühle spricht als aus all den vorherigen Erörterungen der Trauerfeierlichkeiten oder dem Austausch über den Schmerz der Familienmitglieder. Er spricht sich selbst einen Glückwunsch aus, was für eine herrliche Frau seine Cecilie ist.

„Du errätst meine innersten Gedanken, liebe Cecilie. Wie froh ich darüber bin, dass du nun ausgesprochen hast, worin ich in den kommenden Stunden meine vordringlichste Aufgabe erblicke. Selbst benannt hätte ich die große Politik heute keineswegs. Ich wäre mir dir gegenüber kalt und gefühllos vorgekommen. So aber will ich dir kurz erzählen, was ich mir vorgenommen habe.

Ich werde gleich mit meinem Freund Gustav Stresemann sprechen.“

Das ich dies bereits ausgeführt habe, tut nun nichts zur Sache.

„Wir werden erörtern, wie die innere Einheit, der Zusammenhalt unseres Vaterlandes in dieser Stunde der Bewährung am besten gewahrt werden könnte. Wir werden über die demokratischen Fraktionen des Reichstags reden. Wir werden auch darüber sprechen, ob die Beisetzung meines Herrn Papas nicht sogar eine Gelegenheit sein könne, führende Vertreter der großen Länder und Mächte beider Krieg führenden Bündnisse in der Reichshauptstadt zu versammeln und das zu einem Auftakt für eine ernsthafte Friedenssondierung zu nutzen.

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