1918 - Wilhelm und Wilson

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Ich hatte den Namen schon einmal gehört, konnte mich indes nicht erinnern, in welchen Zusammenhang ich ihn stellen sollte. Albert Ballin, der auch nach unserer gemeinsamen Amerikareise von 1909 noch zwei weitere Male die Staaten besucht hatte, setzte ein überlegenes Lächeln auf und antwortete gönnerhaft:

„Der wichtigste wirtschafts- und handelspolitische Berater von Wilson, das ist Louis Brandeis. Ein Spross ausgerechnet aus einer deutschen Einwandererfamilie, heute oberster Bundesrichter in Washington, ein wenig öffentlichkeitsscheu, ein großer Verfechter nicht nur der Open door, sondern auch des freien Welthandels unter den großen Industriemächten.“

Ich sehe Albert verstohlen an.

„Was traut Brandeis der deutschen Kriegswirtschaft im vierten vollen Kriegsjahr noch zu? Hält er uns ähnlich wie Lord Melroy noch dazu für fähig, die Westfront ins Wanken zu bringen, selbst mit bis zu zwei Millionen Mann amerikanischer Verstärkungen? Davon dürfte abhängig sein, ob er Woodrow Wilson empfehlen wird, auf seinen 14 Punkten recht strikt zu beharren. Oder aber ob er dem Präsidenten dazu raten dürfte, deutsche Kriegsziele, die mehr sind als Annexionsforderungen, als gleichberechtigte Basistexte für die Aufnahme von Verhandlungen zu akzeptieren.“

„Das wäre hervorragend,“ merkt Walther Rathenau an.

„Und es würde dennoch nicht genügen. Denn zu unserem Glück würde uns dann immer noch fehlen, dass Wilson Briten und Franzosen dazu veranlassen müsste, in einen Friedensprozess auf der Grundlage seiner und unserer Vorstellungen einzutreten, nicht aber der abstrusen Ziele von Clemenceau und dessen Freunden.“

Ich gebe Walther innerlich natürlich Recht. Zugleich möchte ich an diesem Punkt keine Skepsis verbreiten.

„Für eine fernere Zukunft schon in einigen Monaten wird deine Anmerkung von welthistorischer Bedeutung sein, lieber Walther. Für heute aber bin ich Optimist und wäre deshalb allein schon damit zufrieden, dass Brandeis Wilson in dem von uns gewünschten Sinne berät.“

Diese Zaghaftigkeit möchte Albert Ballin offenbar keinesfalls für sich akzeptieren und auch nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen.

„Nun gut, Gustav. Beraten ist das eine, zur Vorsicht mahnen wäre das andere. Ich kenne die Amerikaner vielleicht besser als ihr beiden. Sie sind sehr von sich eingenommen. Sie betrachten ihre demokratische Sendung als selbstverständlich und berechtigt. Sie haben gelernt, dass kein Land der Welt es wirtschaftlich mit ihrem aufnehmen kann – mit einer kleinen Ausnahme vielleicht. Amerika hat nämlich durchaus Sorge, dass Deutschland in Chemie und Elektro die Nummer eins ist und bleibt. Was den Stahl und die Autoindustrie betrifft, machen sich die Amerikaner sicherlich keine Sorgen.“ Ballin gibt sich restlos überzeugt von der guten landeskundlichen Kenntnis, die ihm seine USA-Reisen beschert haben. Seine Vision fällt demgegenüber eher bescheiden aus.

„Wegen dieses beeindruckenden Selbstbewusstseins der amerikanischen Industriellen und ihrer politischen Vertreter würde es mir vollauf genügen, falls beim Präsidenten zukünftig ein kleiner Zweifel eingepflanzt werden könnte ob der eigenen unverbrüchlichen Siegesgewissheit. Das würde uns Deutschen dann zum richtigen Zeitpunkt in die Hände spielen, sobald die weltpolitische Großwetterlage es zuließe Verhandlungen anzustreben.“

Walther Rathenau, Albert Ballin und ich verbrachten den Rest des Abends nun bei einem weichen, Barrik gereiften roten Burgunder damit, die 14 Punkte Wilsons im Einzelnen durchzusprechen, nein eher fein säuberlich zu sezieren, und anschließend aufgrund meines Berichtes über das Treffen mit Kronprinz Wilhelm ein durchaus widersprüchliches Persönlichkeitsprofil des Präsidenten anzufertigen. Meine beiden Freunde neigten zuerst wenig dazu, zwischen den Zeilen des Wilsonsschen Textes zu lesen. So verwarfen sie in Bausch und Bogen die Forderungen zu Elsass-Lothringen und Polen. Darin dürfte sich ihre Einschätzung mit derjenigen von 98 Prozent aller Deutschen gedeckt haben – mindestens. Ich warb vorsichtig dafür, an die Aufnahme dieser Aspekte in London, Paris und Warschau zu denken. Wilson und sein außenpolitischer Chefberater Oberst House sähen sich schließlich gezwungen, eine Gratwanderung zu bestehen. Ihre Formulierungen müssten dazu geeignet sein, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu ziehen. Und sie müssten erst in der Zukunft sich als so flexibel erweisen, je nach militärischer Lage mehr dem einen oder dem anderen entsprechen zu können. Walther Rathenau kommentierte dies nur lakonisch mit dem Hinweis: „Diplomatisch hast du mir immer noch einiges voraus, lieber Gustav.“

Was Kronprinz Wilhelm angeht, so war es zunächst meine Aufgabe, ausführlich über unsere Unterredung zu berichten und meine Meinung dazu abzugeben, wie verlässlich der Kronprinz in Zukunft denn wohl sein werde, sobald es zur Nagelprobe käme und er seine mir gegenüber gemachten Zusagen einhalten solle. Albert Ballin äußerte sogleich die Befürchtung, Wilhelm werde sich wie schon manches Mal als Parteigänger von Ludendorff und Stinnes erweisen. Ich solle nicht allzu enttäuscht sein, falls er sich in der Zukunft – nachdem ich meine Pflicht und Schuldigkeit erfüllt haben würde – an seine Zusagen nicht mehr Wort für Wort gebunden fühlte.

„Eintreten kann selbstverständlich beinahe alles. Und naiv zu sein hat sich im politischen Geschäft schon viel zu oft gerächt. Trotzdem lasst mir meinen Funken an Glauben daran, dass in meinem persönlichen Verhältnis zu seiner kaiserlichen Hoheit mit dem Gespräch zum Jahresbeginn eine Veränderung eingetreten ist. Unser Vertrauen zueinander ist gewachsen. Es hat eine Tiefe, eine Qualität, eine Ehrlichkeit erreicht, dass wir uns trauen einander fest in die Augen zu sehen und dann auch über ungemütliche Wahrheiten zu sprechen. Wenn ich ihm nicht abkaufen würde, dass er mit seinem hohen Namen für die Wahlrechtsreform einstünde, fehlte mir ein wichtiger innerer Kompass für die großen Ereignisse, die noch vor uns liegen.“

Meine etwas theatralische Erklärung rief kurzzeitig betretenes Schweigen hervor. Doch dann öffnete sich das Abendgespräch plötzlich zu privaten Themen. Mich interessierte sehr, wie es Alberts Sohn Thorsten an der Westfront ergehe. Der stolze Vater stellte seine Gedanken über die Lebensgefahr zurück und schilderte begeistert, was unser Reich für eine phantastische Jugend habe. Für sie lohne es sich zu kämpfen und dann Frieden zu schließen. Ich erinnerte mich der hübschen schwarzhaarigen jungen Dame, die Thorsten beim Ball am Tag von Sedan im Berliner Schloss zum Tanz aufgefordert hatte und wünschte ihm, sie wiederzusehen, insbesondere aber nach dem Kriege noch ein langes, erfülltes Leben führen zu dürfen.

Am 16. Februar trat das von Oberst Bauer mir bereits zuvor enthusiastisch angekündigte Ereignis in Brest-Litowsk ein, von dem eine Beschleunigung der Ereignisse ausgehen musste: Das Deutsche Reich kündigte den Waffenstillstand vom Dezember für den 17. Februar 1918 auf. Tatsächlich begann an jenem Tag sogleich der erneute deutsche Vormarsch. Im Baltikum wurde innerhalb weniger Tage die Grenze zwischen den Provinzen Estland und Livland einerseits, Russland andererseits erreicht. Dann ließ General Hoffmann den Vormarsch stoppen. Das signalisierte allen politischen Kräften Russlands, aber insbesondere Lenin: Das Deutsche Reich beabsichtigt nicht die Einnahme von Petrograd, als derjenigen der beiden Hauptstädte in Frontnähe. Der Revolutionsführer der Bolschewiki durfte und sollte das sehr wohl in dem Sinne auffassen, dass unser mächtiges Reich eben nicht den Sturz der Regierung oder ein unmittelbares Eingreifen in die inneren Verhältnisse Russlands plane. Ganz nebenbei kamen wir damit sogar gleichzeitig den Anforderungen aus Wilsons 14 Punkten Russlands innere Verhältnisse betreffend nach.

Im Süden der Front dagegen drangen die deutschen Truppen tief in die völlig von russischen Truppen entblößte Ukraine vor. Der Vormarsch benötigte nur wenige Tage. Bereits am 20. Februar erreichten die deutschen Angriffsspitzen die am 9. Februar im Separatfrieden mit der Volksrepublik Ukraine von Deutschland garantierte Ostgrenze zu Russland. Diese verlief durch den Osten des steinkohlereichen Donezkbeckens und schloss auf westlicher Seite durchaus Gebiete mit ein, die hohe ethnisch russische Bevölkerungsteile enthielten. Das war einerseits im Interesse der deutschen Schwerindustrie, die Wünsche nach Investitionen in die Donbaz genannte Region anmeldete. Andererseits fiel es der Reichsregierung leicht, eine antibolschewistische ukrainische Regierung gegen die neuen Machthaber in Moskau und Petrograd zu unterstützen. Schon am 18. Februar berieten sich die Revolutionsführer Lenin und Trotzki in Petrograd. Sie müssen wehmütig konstatiert haben, dass Leo Trotzki einer folgenschweren Fehleinschätzung unterlegen war, als er im Januar und Anfang Februar nicht mit dem erneuten Vorrücken der deutschen Truppen gerechnet hatte. Sie müssen ebenso erschüttert konstatiert haben, dass ihre bisherige Taktik der Verzögerung endgültig gescheitert war und von nun an sich zur akuten Gefährdung des Revolutionserfolges auswuchs: Die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen würde zur weiteren massiven Destabilisierung der inneren Verhältnisse in Russland entscheidend beitragen. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Entscheidung Lenins, sofort auf die deutschen Waffenstillstandsbedingungen einzugehen, an den Verhandlungstisch in Brest-Litowsk zurückzukehren und den Vertrag dann ohne weiteren Aufschub abzuschließen. Dem setzte sich in der Führung der Bolschewiki zwar Bucharin entgegen, doch Lenin räumte jeden Widerstand mit der Androhung seines eigenen Rücktritts von allen Ämtern aus. Lenin wurde in seiner Auffassung von der Richtigkeit seines Handelns auch dadurch bestärkt, dass die Deutschen augenscheinlich weiterhin keine Anstalten unternahmen, in die inneren Angelegenheiten Rest-Russlands einzugreifen und die bolschewistische Regierung abzulösen. Am 19. Februar erbat Russland bei den Mittelmächten Frieden. Diese setzten allerdings zunächst ihren Vormarsch fort, antworteten erst am 23. Februar und konfrontierten den wehrlosen Gegner mit folgender eindrucksvollen Forderung:

 

Räumung Finnlands, Estlands, Livlands und der Ukraine; Demobilisierung der russischen Armee; Verzicht auf jeden Einfluss in den genannten Gebieten sowie in den bereits seit 1914 von den Mittelmächten besetzen Territorien Polen, Litauen und Kurland, schließlich auch Georgien. – Die Bedingungen wurden von General Hoffmann kategorisch vorgetragen: Zwei Tage erhielt die russische Regierung Frist für eine Antwort. Nur drei Tage sollten in Brest anschließend für Verhandlungen zur Verfügung stehen. Die deutschen Forderungen wurden akzeptiert. Am 3. März 1918 war es schließlich so weit. Die Delegationen Russlands und der Mittelmächte, bestehend aus dem deutschen Verhandlungsführer und seinen Kollegen aus Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich, unterzeichneten den Friedensvertrag. Dieser hielt nunmehr die staatliche Selbstständigkeit Finnlands und der Ukraine fest, die militärische Oberhoheit Deutschlands über Polen, das Baltikum und Weißrussland bis zum Dnjepr. Die staatlichen Verhältnisse dieser Gebiete sollten – recht salomonisch formuliert – in Übereinstimmung sowohl mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker als auch mit den Interessen der Mittelmächte eingerichtet werden. Ich persönlich empfand diese Formulierung nicht allein als zynisch, so wie meine Reichstagskollegen Haußmann, Erzberger und Scheidemann das bezeichneten, sondern durchaus eher als geschickt gewählt, um Handlungsspielräume in späteren Verhandlungen mit dem Westen zu erhalten. Insbesondere würde das Deutsche Reich in die Lage versetzt, Teile der 14 Punkte Wilsons, so das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Vorschläge Russland betreffend, im Sinne einer eigenen Auslegung aufzugreifen und zur Maxime der eigenen, neuen Friedensordnung in Osteuropa zu erheben.

Unter der Bezeichnung „Friede von Brest-Litowsk“ ging derselbe in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Er beendete die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs in Osteuropa und schuf die Voraussetzung dafür, auch den Krieg im Westen auf die eine oder andere Art und Weise zu beenden.

Nachdem die russische Regierung unter Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, am 19. Februar bei den Mittelmächten um Frieden nachgesucht und dies noch am selben Tag der Öffentlichkeit mitgeteilt hatte, trafen am Morgen des 20. Februar auf der anderen Seite des Globus im Oval Office des Weißen Hauses in Washington die Präsidentenberater Edward House und Louis Brandeis mit Woodrow Wilson zusammen. Zufällig weilte auch der New Yorker Journalist und Verleger Walter Lippmann in der Hauptstadt. Wilson lud auch ihn für 11 Uhr zum zweiten Frühstück und zur Erörterung der neuen Lage in Europa ein. Das Sekretariat des Präsidenten hatte die Herren am Vortag kontaktiert und den Wunsch übermittelt, nach Möglichkeit jeden konfligierenden Termin hinten anzustellen. Derjenige, dem die Notwendigkeit dazu in Folge einer plötzlich dramatisch veränderten weltpolitischen Lage ohne jeden Zweifel einleuchtete, war der junge und etwas ungestüme Walter Lippmann.

„Mister President, haben sie herzlichen Dank für ihre freundliche und spontane Einladung zu diesem Gedankenaustausch im kleinsten und vertraulichsten Kreise. Ich war bereits entsetzt, als ich vor drei Tagen von der Schwungkraft des deutschen Vorrückens bis kurz vor Petrograd und in die gesamte Ukraine hörte. Lenin und Trotzki hatten keine andere Wahl als zu kapitulieren. Ein weiterer deutscher Vormarsch hätte sie sofort die Macht im gesamten Land gekostet, wenn der Feind vor den Toren Petrograds erschienen wäre. Für uns ist die Konsequenz daraus brutal: Die mächtigste Militärmaschinerie, über die ein einziges Land auf dieser Erde verfügt, wird jetzt vollständig im Norden Frankreichs zusammen gezogen, um uns, um die Entente bald anzugreifen.“

Der Präsident wiegt bedächtig nickend den Kopf.

„Die schwerste Bewährungsprobe steht der Entente in diesem Krieg tatsächlich noch bevor. Es wird mindestens so haarig wie im September 1914 werden. Brauchen wir vielleicht gar ein zweites Wunder an der Marne? Oder sind im Gegensatz zu damals die Armeen der Entente 1918 in der stärkeren Position, weil unsere amerikanischen Truppen längst in Millionenstärke auf dem europäischen Kriegsschauplatz erschienen sind? Von der Beantwortung dieser Fragen wird abhängen müssen, welche Optionen Amerika, England und Frankreich in den kommenden Wochen und Monaten ziehen werden.“

Edward House wirft ein:

„Aber auch, über welche Alternativen die zivile und die militärische Reichsleitung in Berlin nachdenken werden.“

„Die Briten und die Franzosen werden die Devise ausgeben: Nur weiter so! Mit der Hilfe der US-Boys wird die Front schon halten! Und dann bluten sich die Deutschen hoffentlich aus!“

Louis Brandeis rümpft die Nase und streicht sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand darüber. Er blickt erst Wilson und dann House an. Beide erwarten von ihm, dass er fortfährt.

„Mit anderen Worten: Unsere Verbündeten legen ihre Priorität auf die militärische Option. Das tun sie jetzt schon seit fast dreieinhalb Jahren. Wirklich gebracht hat es bis heute nichts. Und das ist ja nicht wirklich einfallsreicher als die Großstrategie von Hindenburg, Ludendorff und Hötzendorff auf der gegnerischen Seite. Und ich meine: Wir Amerikaner sind nicht in diesen Krieg eingetreten, um einfach so weiter zu machen. Auch glaube ich, dass es die Frauen und Mütter unserer Jungs an der Front nicht ganz so stoisch ertragen können wie die Frauen in Europa, dass ihre Liebsten millionenfach verheizt werden. Meine Empfehlung lautet daher: Woodrow hat sich im Januar entschlossen, seine 14 Punkte vorzulegen. Also werden wir im Februar oder März nicht darauf verzichten, weiter die diplomatische Karte zu wägen, zu prüfen und auch tatsächlich zu spielen, sobald sich die Chance bietet, einen Frieden zu schließen, den wir tragen wollen. Das heißt jetzt vielleicht anders als am 8. Januar nicht mehr unbedingt, nur zu unseren Bedingungen abzuschließen. Denn diese Militaristen mit der Pickelhaube sind leider Gottes durch Lenin schon heute, nur sechs Wochen später, erheblich mächtiger geworden. Wir sollten mit Bedacht handeln, also vor allem nichts ausschließen und sehr wachsam dafür sein, ob vernünftige Friedenssignale aus Berlin ausgesandt werden.“

Oberst House hat Brandeis den Vortritt gelassen, obwohl doch er Wilsons erster Berater in außenpolitischen Fragen ist. Er hat richtig gehandelt, denn Louis Statement kommt House sehr zu Pass. Auch Oberst House ist wichtig, die diplomatische Option in jeder neuen Lage zu behalten. Etwas anders als Brandeis ist er allerdings nicht so pessimistisch anzunehmen, dass die Deutschen auf dem Schlachtfeld jetzt die Überhand gewinnen müssten.

„Ludendorff hat in der deutschen Presse getönt, er werde 80 Divisionen mit 1,5 Millionen Mann aus Russland abziehen. So viele US-Boys stehen inzwischen in Frankreich ebenfalls unter Waffen. Freunde, lasst uns nicht kleinmütig werden.“

Walter Lippmann zieht an seiner Pfeife und schlägt die Beine übereinander.

„Das stimmt, Edward, aber die Deutschen sind kampferprobt, haben in Russland an allen Frontabschnitten gesiegt und fügen sich bald voller Zuversicht in die Westfront ein.“

„Dafür sind unsere Truppen und vielleicht sogar auch die Briten besser mit Waffen und Munition ausgestattet und unsere Versorgung funktioniert besser. Damit steht es wahrscheinlich unentschieden, bevor die Offensive der Deutschen beginnt.“

Das Gesicht des Präsidenten spricht Bände. So sehr er den Ausführungen seiner engsten Berater in den einzelnen Aussagen beipflichten muss, ebenso sträubt er sich mit aller Kraft dagegen, vom Gestalter der 14 Punkte sehr flott zum Getriebenen der deutschen Obersten Heeresleitung zu werden.

„Unentschieden ist nicht unbedingt meine Wunschvorstellung davon, im neuen Jahr mit unseren Truppen erstmals so richtig in die Kampfhandlungen einzugreifen. Die Vereinigten Staaten sind nach Europa gefahren um zu gewinnen. Deshalb werde ich eines auf keinen Fall einleiten, nämlich mit meinem Punkteplan 14 kleine Negerlein zu spielen: Im Februar waren es nur noch 13, im März werden es dann nur noch 12 sein, und so weiter!“

„Aber Woody! Das verlangt doch hier überhaupt keiner von dir.“

Louis Brandeis springt seinem Freund Edward House zur Seite, als er spürt, dass es eng werden könnte, sollte der Präsident nach seinem Bauchgefühl handeln.

„Ich denke mit viel Vergnügen daran, wie wir drei, Eddy, du und ich hier in diesem Raum saßen kurz nach Neujahr und uns tief schürfend, freundschaftlich, vertrauensvoll über die Weltlage unterhielten und über das diplomatische Umfeld für eine erfolgreiche Friedensinitiative. Wir haben dabei natürlich gehofft, dass die Briten Recht behalten würden mit ihrer Vermutung, dass der Krieg in Russland weitergehe. Aber, seien wir ehrlich, wir haben allesamt nicht so ganz daran geglaubt. Mehr als ein Mal fiel das Wörtchen Zweckoptimismus.“

„Und genau deshalb sind die 14 Punkte so schlau eingefädelt, dass sie den USA für beide Varianten des Kriegsverlaufs alle Trümpfe in die Hand geben! Ich kann das ja sagen, ohne je in den Verdacht zu geraten, persönliche Eitelkeiten zu befriedigen. Denn zu meinem eigenen Bedauern war ich ja bei ihrer Runde nicht dabei, sondern lediglich telefonisch beteiligt.“

Walter Lippmanns Zwischenbemerkung zwingt Woodrow Wilson ein leicht gequältes Lächeln in die Gesichtszüge. Recht geben muss er Lippmann und Louis schon. Doch der Ärger und die Enttäuschung sitzen tief in ihm, dass er, Präsident Wilson mit seinem Friedensprogramm nicht wie Phönix aus der Asche steigt, dass er die Deutschen eben nicht dazu zwingen kann, eine Großoffensive der Entente in Nordfrankreich nur noch dadurch abwenden zu können, dass sie in Verhandlungen eintreten. Stattdessen bekommen der Kaiser, Hindenburg und Ludendorff, diese Militaristen mit Zwirbelbärten und Pickelhauben 70, 80 Divisionen im Osten frei und bedrohen damit unsere Stellungen an der Marne, an der Somme oder in Flandern. - Scheiße! Diesen Gedanken behält Wilson schön für sich. Er empfände es als eine ungeheure Blöße, wenn er seiner Enttäuschung gegenüber seinen Freunden und Vertrauten Eddy und Louis derart freien Lauf ließe. Stattdessen reflektiert der Präsident seine für Sekunden im Ernst erstarrte Miene und lässt diese ganz sanft in entspannte Freundlichkeit übergehen.

„Vielleicht fiel mein erstes Urteil eben zu harsch aus, meine Freunde. Eddy erinnert natürlich zu recht daran, dass wir für alle Eventualitäten des Kriegsjahres 1918 gewappnet sein wollten. Die außenpolitische Professionalität, ein wenig sogar die intellektuelle Distanz gegenüber unseren Hauptverbündeten in London und Paris gebot es, sich Spielräume zu verschaffen, die zuvor weder die Kriegsziele der Entente noch die Kriegsziele der kaiserlichen Regierung eröffneten. Ich möchte mir lediglich die persönliche Bemerkung erlauben, wie viel mehr Vergnügen es mir bereiten würde, das Geschäft der Diplomatie aus einer Position der militärischen Stärke heraus zu betreiben.“

Oberst House fällt ein Stein vom Herzen, als er seinen Präsidenten so reden hört. Er möchte die Gelegenheit gleich beim Schopfe ergreifen und einen ersten Anlauf unternehmen, Woodrows 14 Punkte unter den neuen Bedingungen einmal flexibel durchzuspielen.

„Woody, es gibt in Berlin ja nun auch ein paar schlaue Leute ohne Zwirbelbärte. Ich erinnere mich noch an Louis´ Bericht über seine Informationen vom britischen Generalkonsul Lord Melroy in New York. Was ich mir wünschen würde ist, dass der Reeder Albert Ballin aus Hamburg, der Großindustrielle Walther Rathenau aus Berlin, am besten auch noch der Chemie-Gigant Carl Duisberg aus Leverkusen, so einem Arbeiterdorf bei Köln, und der Vorsitzende der Nationalliberalen im Reichstag sich zu einer ähnlich vertraulichen Runde wie wir hier in Washington in der deutschen Reichshauptstadt treffen. Sie freuen sich über den deutschen Sieg über Russland und sinnen auf ein Ende des Krieges auch im Westen. Sie wissen aber zugleich, dass die Lauthälse der deutschen Elite: Hugenberg von Krupp, Ludendorff von der Heeresleitung, der Kronprinz und Admiral Tirpitz, alle nur die Maximalforderungen im Kopf haben, deretwegen sie im Juli 1917 Bethmann-Hollweg in den Ruhestand geschickt hatten. Also gehen sie ihre Wünsche und Forderungen für eine Deutschland genehme Nachkriegsordnung durch:

 

Da ist dann der Mitteleuropäische Zollverein, der jetzt natürlich von Belgien bis in die Ukraine reicht. Da ist die Oberhoheit über die Polen und die Balten, indem der Kaiser vielleicht sogar König von Polen wird. Und dann verlangen sie von Frankreich bestimmt ein paar Kolonien. - So weit, so schlecht und nichts wirklich Neues.

Dann aber kommen die politisch erfahrenen Köpfe Stresemann und Rathenau auf die Idee und auf den Punkt, für die Durchsetzbarkeit der deutschen Ziele nicht mehr nur an eine siegreiche Westoffensive zu denken, sondern an - na was glaubt ihr? - an Woodys 14 Punkte!“

„Eine phantastische Idee, Eddy. Sollte es solch ein Gespräch mit den von dir genannten oder auch anderen, ähnlich hoffnungsvoll stimmenden Teilnehmern in Berlin wirklich dieser Tage geben, ja dann müssten wir genau das Gleiche tun: Wir hecheln Woodys 14 Punkte ganz akribisch, ganz emotionslos und von allen Seiten betrachtet durch.“

Louis Brandeis hat Oberst House Gedankenspiel mit großer Begeisterung aufgegriffen. Doch viel wichtiger ist, dass es auch den Präsidenten nicht kalt lässt. Wilson beugt sich in seinem Sessel vor und hebt den rechten Zeigefinger.

„Wir sollten vielleicht das mal versuchen: Unter den herrschenden Machtverhältnissen hier und heute, ich meine mit einem deutschen Diktatfrieden gegenüber Lenin, gestalten wir jeden einzelnen meiner 14 Punkte ganz kurz danach aus, was wir darunter verstehen und damit erreichen wollen. Und dann wechseln wir den Standpunkt. Wir fragen uns, was die Deutschen in einem Friedensvertrag durchsetzen wollen. Dabei meine ich aber eben nicht die Militaristen und Imperialisten des Kaisers, sondern einflussreiche Leute im Umfeld der Regierung. Ich meine diejenigen, die vielleicht wie wir darauf warten, dass in den nächsten Monaten der Moment kommen mag, in dem nicht mehr nur die Waffen über die Zukunft Europas entscheiden sollen.“

„Dass es hier bei ihnen so spannend werden würde, habe ich nicht im Traum gedacht, Mister President.“

Lippmann macht einen Scherz darüber, welche Sensation es bedeutete, falls der eben von Wilson und House entwickelte strategische Ansatz morgen in seiner Zeitung stünde. Louis Brandeis lacht laut auf und gibt mit einem strahlenden Lächeln zurück:

„Ja dann, lieber Walter, würdest du dich nächste Woche sicher auf einem unserer Schiffe wieder finden, die unsere US-Boys nach Frankreich hinüber fahren.“ Darüber muss auch der Präsident lachen.

„Gute Idee Louis, das merke ich mir für alle Dilettanten, aber mehr noch für die nun wirklich anstrengenden und lästigen Arroganzpinsel von den Republikanern hier in Washington, die unsere Friedenspolitik in den kommenden Monaten zu Fall bringen wollen.“

Im weiteren Verlaufe des Abends ist es wie schon am 3. Januar Edward House, der die Rolle des kreativen Schriftführers übernimmt. In Windeseile landen Notizen auf seinem Block. Er beginnt eine Seite mit der Überschrift „Wir“, auf der nächsten Seite steht einfach nur „Berlin“. Oberst House beginnt seine Aufzeichnungen auf der zweiten Seite. Dort steht nach einer weitere zwei Stunden währenden, ebenso angenehmen wie intensiv und engagiert geführten, dabei immer schonungslos offen ausgetragenen Diskussion:

1. Öffentliche Verträge: DR wird bereit sein, seine Herrschaft über Osteuropa offen zu legen, wenn wir uns beim Selbstbestimmungsrecht einigen. Lösung?!: Personalunion des Kaisers mit Polen und Baltikum; Bündnis aller neuen Staaten mit DR; ebenso Mitgliedschaft in Zollunion

2. Freiheit der Schifffahrt: DR will Flotte behalten; erreichbar bei Lösung zu 3.

3. Freier Handel: DR wird niemals auf Zollunion in Europa verzichten; Lösung für USA nur durch Kompensation zumutbar: Öffnung der Kolonialreiche gegen Öffnung Mitteleuropas.

4. Beschränkung der Rüstungen: Keine Zustimmung! Vielleicht Quoten möglich: Heer DR nicht größer als GB + F; Flotte DR mindestens 50 % GB - aber nur, wenn wir uns auch binden!

5. Kolonialer Ausgleich: Belgisch-Kongo, Marokko, Mesopotamien, Teilung portugiesischer Kolonien; abhängig von 7 + 8 - Belgien und Elsass-Lothringen.

6. Räumung Russlands: Für DR erledigt mit Brest-Litowsk; Frage, ob DR innere Selbstbestimmung gegen äußere Anlehnung und Bündnis bietet?

7. Belgien: Verzicht auf Annexion; äußere Anlehnung an DR Ziel; vielleicht militärische Neutralität bei Teilhabe an Zollunion?

8. Elsass-Lothringen: Rückgabe indiskutabel; Volksabstimmung in ethnisch strittigen Dörfern das Äußerste - vielleicht höchstens gegen wirtschaftlichen Einfluss auf Longwy / Briey.

9. Italien: Volksabstimmungen oder Expertenkommissionen denkbar - gegen Kompensation für ÖU auf dem Balkan.

10. ÖU: Innere Autonomie möglich; als Gesicht Wahren für Kaiser und Woodrow.

11. Balkan: ethnisch korrigierte Grenzen nur gegen Bündnis mit ÖU und DR.

12. Türkei: Innere Selbstbestimmung für arabische Völker; Gebietsverzicht in Arabien, südlich Kleinasiens nur bei Deal zwischen DR - GB möglich.

13. Polen: Grenze von 1914 für DR unantastbar; Osterweiterung Polens nach Ruthenien, Galizien bei Einfügen in deutschen Machtbereich.

14. Verband der Nationen: Kein Verzicht auf das Recht auf Krieg für die Mitglieder; Sonderrechte für Weltmächte.

Der Präsident hatte Oberst House am Abend dazu aufgefordert, das Blatt - aus dem inzwischen zwei geworden waren - mit sämtlichen Stichworten langsam und bedächtig vorzulesen. Gemeinsam mit Louis Brandeis und Walter Lippmann lauschte er still, beinahe andächtig der sonoren Stimme seines außenpolitischen Chefberaters. Etwas skeptisch kniff er, als Edward House geendet hatte, seine Lippen aufeinander und wiegte leicht den Kopf.

„Ein paar ganz schön harte Nüsse hast du uns da in das Hausaufgabenheft geschrieben, lieber Eddy. Doch ich bin froh darüber, dass wir für die Politik der USA einige sehr passende Antworten auf Deutschlands Weltmachtpolitik finden konnten. Das brauchst du uns aber nicht auch nochmals vorzulesen. Darauf werden wir bestimmt schon sehr bald wieder zurückgreifen.“

Der Präsident wirkt sehr nachdenklich. Doch sein Gesicht strahlt Ruhe und Zuversicht aus, als sei es seine Aufgabe stellvertretend für sein gesamtes Land ein Zeichen zu setzen und dort die innere Moral zu festigen.

„Freunde, ich sage euch: Es wird ein sehr spannendes Jahr 1918 werden. So ein Jahr hat die Welt noch nicht erlebt!“