1918 - Wilhelm und Wilson

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Herr Oberst, wir werden uns gleich in der Sitzung genügend Zeit nehmen, uns über die Bedeutung der Ereignisse, die weltweit seit Jahresbeginn eingetreten sind, auszutauschen. Bitte tragen sie ihre Erkenntnisse dann ebenfalls vor. Ich selbst werde zu Beginn einen Überblick geben zum Kronrat in Potsdam am 3. Januar und natürlich zur Rede des amerikanischen Präsidenten von gestern.“

Geradezu verächtlich blickte der Oberst mich an. Seine Mundwinkel klappten ebenso nach unten wie seine rechte Hand.

„Dieser Wilson hält sich wohl für allmächtig, dass er sich herausnimmt, der ganzen Welt Vorschriften über den Frieden machen zu wollen. Ich plädiere sehr dafür, diesen Träumer nicht all zu ernst zu nehmen. Wenn unsere Truppen im Frühling die französischen Stellungen an der Marne überrennen werden, sind Wilsons 14 Punkte nicht mehr als eine knappe Fußnote in der Geschichte des letzten Kriegsjahres 1918.“

Von Gilsas abfällige Einschätzung zur Friedensbotschaft des US-Präsidenten erwies sich als vielsagendes Omen für die anschließende Sitzung. Der rechte Flügel meiner Fraktion begrüßte den Kronrat und vor allem sämtliche Beschlüsse hin zu einem Siegfrieden mit Russland und einer anschließenden Offensive im Westen überschwänglich. Aus dieser Stimmung heraus fiel die Ablehnung der 14 Punkte Wilsons kategorisch aus. Seine Vorschläge zu Elsass-Lothringen und Polen genügten der Mehrheit leider bereits, um die Unverhandelbarkeit festzustellen. Ich hatte mir vor der Sitzung fest vorgenommen, neben meiner Kritik auch Anerkennung für einzelne Inhalte und schon aus grundsätzlichen wie taktischen Gründen selbst für die diplomatische Offenheit mancher Formulierung auszudrücken. Als ich damit begann, unterbrachen mich gleich mehrfach besonders hitzige Abgeordnetenkollegen. Oberst von Gilsa gar rief in die Runde hinein, die vaterländische Gesinnung aller Reichstagsfraktionen werde sich jetzt daran beweisen, wie kompromisslos ihre Ablehnung der Wilsonschen Inhalte ausfiele. Im Ergebnis schwächte ich meine Ausführungen ab und beließ es bei vorsichtigen Hinweisen auf den Nutzen solch weicher Ziele, wie sie der US-Präsident nunmehr vertrete. Zum Abschluss der Beratung erklärte ich meinen Kollegen, dem Herrn Reichskanzler sogleich die Haltung der Fraktion mitzuteilen und eine eigene Pressemitteilung herauszugeben. Meine Ausführungen wurden dann zu einem guten Stück davon überholt, dass unser Pressesprecher den Raum betrat und mir einen Zettel reichte mit der kurzen Notiz: Das Reichskabinett lehnt die 14 Punkte von Wilson ab!!! Ich beendete die Fraktionssitzung nach einem denkbar knappen Bericht über die Festlegungen des Kronrats vom 3. Januar in dem Bewusstsein jetzt Wichtigeres zu tun zu haben.

Sogleich darauf bat ich meine Sekretärin, bei der Fraktion des Zentrums nachzufragen, ob Herr Erzberger heute im Hause sei. Da die Ultramontanen erst am folgenden Tag ihre Sitzung abhielten, erhielt ich Gelegenheit, mit dem Vorsitzenden des Zentrums nur 25 Minuten später in seinem Büro einen Kaffee zu trinken. Die Zwischenzeit genügte, um den Chef der Reichskanzlei fernmündlich über den Beschluss meiner Fraktion zu unterrichten. Reichskanzler Graf Hertling werde schon übermorgen vor dem Reichstag eine Regierungserklärung abgeben, lautete die Botschaft. Darin erführen zwei Positionen eine große Betonung: Die Ablehnung der 14 Punkte und weiter der erklärte Wille der Reichsleitung, schnell und notfalls mit Druck den Frieden im Osten zu erzwingen. Dann schlenderte ich durch die Flure zum Zentrum. Matthias Erzberger sah mich weniger triumphierend als vielmehr besorgt an, als er sagte:

„Sie werden es heute nicht geschafft haben, lieber Stresemann, die Annexionisten in ihren eigenen Reihen zu zügeln und eine nüchterne Prüfung der Initiative des amerikanischen Präsidenten zuzulassen. So sehr ich das natürlich bedauere, ebenso sehr fühle ich mich darin bestätigt, dass man mit den Herrschaften der Schwerindustrie keine von Verantwortung für die Zukunft getragenen Kompromisse zur Erreichung des Weltfriedens finden wird. Entweder sie klagen mir jetzt ausführlich ihr Leid, oder wir grübeln ein wenig darüber, welche Aussichten der Friede im neuen Jahr womöglich noch erhalten wird.“

Diese Aufforderung nahm ich gleich dankend an.

„Wilson geht in einigen für das Reich sehr substanziellen Fragen erheblich über ihre Friedensresolution vom letzten Juli hinaus, Kollege Erzberger, weil er den Mut aufbringt, konkreter zu werden.“

Der nickt und starrt versonnen an die Wand.

„Ein Frieden ohne Sieger, wie ihn die Amerikaner proklamiert haben, als sie noch nicht im Krieg gegen uns standen, ist heute so leicht nicht mehr zu bekommen. Trotzdem finde ich mich in einigen der Forderungen Wilsons wieder. Das mag ein Anfang sein um darüber nachzudenken, welche Chancen die Diplomatie in den nächsten Monaten noch erhält. Schließlich dürfen weder wir noch die Entente darüber hinwegsehen, dass vor Verhandlungen nicht auch zugleich unüberbrückbare Widersprüche bestehen bleiben.“

Es klopft an der Türe. Matthias Erzberger ruft lässig herein, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Ich sehe zur Türe, durch die jetzt Conrad Haußmann seinen Kopf ins Zimmer hinein steckt. Er blinzelt uns an und lächelt dabei geradezu amüsiert.

„Als ich eben hörte, die Kollegen Stresemann und Erzberger in trauter Zweisamkeit zusammen hockend anzutreffen, musste ich es einfach wagen. Ist für mich auch noch eine Tasse Kaffee übrig?“

Erzberger bittet den Fraktionsvorsitzenden der Fortschrittspartei herzlich herein.

„Anders als der Kollege Doktor Stresemann sind wir beide, Conrad, uns doch wohl einig, dass man dem Friedensplan des amerikanischen Präsidenten durchaus und mit gutem Willen etwas abgewinnen mag?“

„Gewiss, Matthias. Etwas, das ist der richtige Zungenschlag. Wilsons Plan jetzt nicht gleich in Bausch und Bogen zu verwerfen, das wäre schon etwas. Aber ich höre eben, Hertling habe die 14 Punkte vollständig abgelehnt. Ich denke, die Stunde der Demokraten ist in dieser Angelegenheit noch nicht gekommen. Und was ist mit Russland und den Streiks im Ruhrgebiet? Zwingt uns nicht all das, diese neue Konstellation bedeutender Ereignisse dazu, als die treibenden Kräfte des Reichstags selbst wieder tätig zu werden?“

Erzberger streckt die Finger seiner linken Hand leicht abwehrend und mit einer nach oben gerichteten Spreizung aus.

„Ich habe mir letzten Juli schon gehörig die Finger verbrannt, meine Freunde. Was glaubt ihr eigentlich, dass die Lage jetzt einfacher wird? Der Reichskanzler und die OHL scheinen sich einig zu sein, dass es jetzt nicht um Frieden, sondern um Angriff geht. Kollege Stresemann weiß sicher mehr darüber, wie der Kronrat entschieden hat. Das ist jetzt eine Weichenstellung!“

„Der Schlüssel liegt in Russland, wehrte Kollegen. Ich weiß vertraulich von einem der Teilnehmer, dass unser Ostheer bei Bedarf den Druck auf die Russen erhöhen wird, um den Frieden zu erzwingen und sich dann gegen Westen zu wenden.“

„Nicht mit mir, lieber Doktor Stresemann! Das Zentrum hat endgültig genug davon, an Stelle einer ehrlichen Friedensofferte unserer eigenen Regierung stets neue Ausflüchte zu hören, wie nun der Sieg erfochten werden könne. Ich traue Ludendorff da keinen Zentimeter weit mehr über den Weg. Die OHL verbreitet so konsequent Optimismus, dass die Herren Generäle gar nicht bemerken, wo ihr eigener Selbstbetrug beginnt!“

In mir steigt Hitze auf. Nur das nicht! Dass die Mehrheit des Reichstags bereits vor der Westoffensive die Lage im Reich destabilisiert, wäre eine Katastrophe. Das Reich braucht jetzt zuerst den Sieg im Osten und einen machtvollen Auftritt im Westen, bevor ein Verhandlungsfriede in Sicht kommt, der irgendwo zwischen Erzberger, Wilson und Hertling angesiedelt ist. Für unsere Aussichten auf die Erreichung dieses Friedens wäre es unzweifelhaft besser, wenn nicht auch noch Stinnes seinen Einfluss geltend machen könnte.

„Lieber Kollege Erzberger, ich teile persönlich ihre Hoffnung darauf, dass Wilsons Worte auch konstruktive diplomatische Ansätze für Verhandlungen enthalten. Doch derzeit sind wir ein schwacher Verhandlungspartner. Unser Reich braucht genau jetzt die Einigung mit den Russen, damit Amerika, England und Frankreich begreifen, dass der Frieden allein zu ihren Bedingungen nicht zu haben ist.“

„Damit wäre ich noch einverstanden, wenn ich nicht genau wüsste, dass Hindenburg und Ludendorff einzig und allein für den Angriff im Westen planen. Die Junker und die Militärs wollen keinen Friedenskongress! Falls sie mir nur versichern könnten, dass unsere Regierung Frieden schließt statt unsere Truppen im Sommer im Westen sich ausbluten zu lassen. Ja dann würde ich ernsthaft darüber nachdenken, hinter den Kulissen für jenen Tag X eine neue, große Friedensinitiative des Reichstags vorzubereiten.“

„Da bin ich mit dem Fortschritt sofort dabei, lieber Matthias. Ob aber unser Freund Stresemann das für seine Fraktion auch versprechen kann, was du da von ihm verlangst? Ich glaube kaum.“

Ich fühle mich trotz der sehr offenen Atmosphäre, der guten Gesprächsstimmung unwohl. Natürlich hat Erzberger Recht. Ich wünsche mir, dass die Reichsleitung im Westen flexibel und moderat auftreten wird, statt alles auf den Angriff zu setzen. Ich will mit Kronprinz Wilhelm darüber sehr bald sprechen. Denn ich spüre, dass es ohne seine Mitwirkung, seinen Einfluss auf den Kaiser und auf Ludendorff keine Chance für meine Perspektive auf ein Kriegsende ohne totalen Sieg geben wird.

Am 18. Januar verließ Leo Trotzki die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, nachdem er mit dem deutschen Verhandlungsführer General Max Hoffmann eine Verhandlungspause vereinbart hatte. Am darauf folgenden Tag löste die Regierung der Bolschewiki in Petrograd die russische Konstituierende Versammlung auf. In dieser erst am 25. November gewählten, Verfassung gebenden Versammlung hatten die Bolschewiki nur 20 Prozent der Sitze errungen. In den sich zwangsläufig anschließenden Turbulenzen brachte Trotzki Lenin dazu, die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk seitens der russischen Delegation ohne Einigung zu verlassen. Nur zu dem Zweck, dies dem Gesprächspartner mitzuteilen, kehrte er am 30. Januar nach Brest zurück. Die Januarstreiks in Deutschland und Österreich ermunterten die russischen Revolutionäre, noch weitgehender auf Verzögerung statt auf einen Abschluss zu setzen. Dazu nutzte Trotzki das Instrument, Gespräche abzulehnen, bei denen zugleich die ukrainische Delegation zugegen war. Doch seine Taktik scheiterte, als die Volksrepublik Ukraine am 9. Februar einen Separatfrieden mit den Mittelmächten schloss. Damit war die Hinhaltetaktik nicht mehr fortzusetzen. Also wählte Trotzki die propagandistische Offensive. Einseitig erklärte er den Kriegszustand mit Deutschland und Österreich-Ungarn am 10. Februar für beendet. Die Oberste Heeresleitung ermächtigte General Hoffmann daraufhin, sofort mit der Wiederaufnahme von Kampfhandlungen zu drohen, falls Russland Verhandlungen weiterhin ablehne. Davon unbeeindruckt tat Trotzki nichts. In dieser Lage telefonierte ich am 12. Februar mit Oberst Bauer im großen Hauptquartier der OHL in Spa.

 

„Die herzlichsten Grüße von Herrn Generalquartiermeister Ludendorff möchte ich bestellen, Herr Doktor Stresemann. Es ist uns von der OHL ein inniges Bedürfnis, mit ihnen als dem unbestrittenen Rückgrat vaterländischer Politik im Reichstag in diesen Tagen großer Ereignisse in direktem Kontakt zu stehen. Auch Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg dankt ihnen und ihrer Fraktion nachdrücklich für die tadellose Haltung der Nationalliberalen in den zurückliegenden, schwierigen Wochen der großen Streiks. Dass wir den Arbeitsfrieden in der Industrie wieder hergestellt haben, ist die zwingende Voraussetzung für alles Kommende. Und ich versichere ihnen, Herr Doktor Stresemann, endlich geht es los!“

„Sie sind sehr aufgeräumt, Oberst Bauer. Und sie machen mich natürlich neugierig. Ich denke kaum, dass es im Westen nun los geht. Gibt es neue Direktiven für General Hoffmann im Osten?“

„So ist es. Trotzki ist aus Brest abgereist und tut so, als könnte er einseitig einen Frieden ohne Annexionen verkünden. Heute hat die Oberste Heeresleitung General Hoffmann zu einem geheimen Treffen in Spa geladen. Morgen schon wird er hier sein. Dann werden wir verabreden, wie genau die deutsche Ankündigung ausfällt, den Kampf wieder aufzunehmen. Lieber Herr Doktor Stresemann, ich garantiere ihnen: Spätestens in einer Woche haben wir den Waffenstillstand aufgekündigt. Dann setzen wir den Vormarsch in die Ukraine fort und besetzen das gesamte Baltikum bis zur russisch-estländischen Grenze kurz vor Petersburg! Und dann müssen die Russen aufgeben. Da gibt es keinen Zweifel!“

„Wahrscheinlich haben sie Recht, Oberst Bauer. Wenn wir wieder vorrücken und Trotzki keine Truppen mobilisieren kann, um uns aufzuhalten, wird Lenin Frieden schließen. Und dann, dann endlich werden die Divisionen frei, die Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg so dringend in Frankreich benötigt. Aber wie sieht der Friedensvertrag aus, den General Hoffmann dem reumütig nach Brest zurückkehrenden Trotzki vorlegen wird?“

In der Leitung tritt eine Pause ein. Ich höre für Sekunden nur ein von unregelmäßigem Knacken unterbrochenes Grundrauschen. Dann raschelt im Hintergrund Papier.

„Der Frieden mit der Ukraine vom 9. Februar ist eine Weichenstellung, Herr Doktor Stresemann. Wir erklären Russland zu dem Staat, der in Europa im Wesentlichen auf die Grenzen eines russischen Nationalstaats zurückgeworfen wird. Selbstverständlich für sie und für mich ist es, Polen, Litauen und Kurland aus dem vormaligen Zarenreich herauszulösen. Doch jetzt, in der Stunde des Triumphes, gehen wir natürlich weiter: Wir werden Livland und Estland ebenfalls herauslösen. Damit bekommt das Baltikum die Chance, mit einer deutschen Führungsschicht kleine Nationalstaaten zu bilden, die in Union mit der preußischen Krone regiert werden. Finnland wird ebenso von Russland getrennt wie die Ukraine und schließlich Georgien, um für Deutschland die Rohstoffe und die strategische Bedeutung des Kaukasus zu sichern. Sind sie nun beeindruckt von der Dimension unseres Erfolges?“

Auch wenn mich der weite Bogen nicht sehr überraschte, in dem Oberst Bauer die deutschen Kriegsziele im Osten umriss, wirkte die Gesamtschau auf mich überaus eindrucksvoll. Das sagte ich dann auch.

Was ich sehr bewusst verschwieg, bestand aus einem plötzlichen Einfall, der mich innerlich sogleich aufwühlte: Die Bildung einer hegemonialen deutschen Einflusssphäre von Finnland bis Georgien für sich allein betrachtet kam einem so unglaublichen Sieg gleich, dass unser Reich für den Fortgang der Ereignisse im Westen gut beraten war, den Erfolg zu sichern und keinesfalls durch überhand nehmende Ambitionen gegenüber einem immer mächtiger werdenden Feind zu gefährden. Hätte ich Bauer dies gesagt, so wäre meine Äußerung garantiert Generalleutnant Ludendorff zu Ohren gekommen. Und dieser hätte mich fortan für die vor uns liegenden Wochen und Monate der Westoffensive als einen unsicheren Kantonisten eingeordnet. Ludendorff mitsamt seinen Vertrauten Stinnes und Hugenberg wären womöglich nicht umhin gekommen, mich in ihrem durchaus einfach gestrickten Freund-Feind-Schema fortan als Gegner zu identifizieren, weil ich eben nicht zu jenen zählte, die ausschließlich den vollständigen militärischen Sieg im Westen als notwendige Bedingung für einen Friedensschluss ansahen.

Stattdessen beglückwünschte ich die Herren Hindenburg, Ludendorff und Hoffmann zum baldigen Friedensschluss in Brest, ließ der Doppelspitze der OHL meine allerherzlichsten Grüße ausrichten und sagte die weitere parlamentarische Unterstützung für die Politik der zivilen wie der militärischen Reichsleitung zu. Oberst Bauer und ich verabschiedeten uns freundlich. Wir sahen ein baldiges Wiedersehen in der Reichshauptstadt voraus.

Kaum hatte ich den Hörer in meinem Arbeitszimmer zu Hause aufgelegt, wählte ich wie in Trance die private Rufnummer meines Freundes Walther im Grunewald. Da es inzwischen nach 18 Uhr geworden war, vertraute ich darauf, ihn zu Hause und nicht bei der AEG anzutreffen. Walther Rathenaus Buttler nahm ab und stellte mich umgehend durch. Walther berichtete sogleich, was er gerade eben tue. Er saß im Salon vor dem brennenden Kamin und las in Immanuel Kants überwiegend in Vergessenheit geratener Schrift Zum ewigen Frieden. Walther zeigte sich in aufgeräumter Stimmung, erläuterte mir enthusiastisch, durch den Friedensplan des US-Präsidenten dazu motiviert worden zu sein, Kants Schrift erneut zu studieren. Schließlich sei ja nicht Wilson in 1917, sondern bereits Kant im Jahr 1795 der Erfinder jenes Bundes der Völker, den Wilson im Rahmen eines Friedensschlusses zu errichten gedenke.

„Es ist wunderbar, wie sich die Bahnen unserer Gedanken immer wieder aufs Neue kreuzen, lieber Walther. Ich habe zwar nicht an Kant, aber um so mehr an Wilsons Plan und seine Folgen gedacht, als ich eben deine Rufnummer wählte. Hast du Lust, so schnell wie möglich mit Albert Ballin und mir ein Treffen in Berlin zu veranstalten und mit uns über die Weltlage zu debattieren?

Ganz im Dunklen tappen lassen möchte ich dich aber nicht. Es geht mir um drei Dinge, alles kommende Dinge. Ich wählte diese Formulierung aus dem Titel von Walthers letztem Buchprojekt, um den Bestseller-Autor des letzten Jahres dort abzuholen, wohin seine Gedanken vermutlich schweifen mochten.“

Rathenau lachte. Sein 1917 veröffentlichtes Buch Von kommenden Dingen wurde bis Weihnachten mehr als fünfzigtausend Mal verkauft. Die Berliner Presse feierte den Autor als feinfühligen Philosophen, der über gehörige Bodenhaftung verfüge.

„Das Lob aus deinem Munde freut mich besonders, Gustav. Ich vermute, dass meine Themen doch noch etwas weiter von der realen Welt des Jahres 1918 entfernt sein mögen als deine Dinge.“

„Ich bringe es schnell auf den Punkt, Walther.

Ding Nummer eins ist der Friede mit Russland. Ich telefonierte vor nur einer halben Stunde mit Oberst Bauer, Ludendorffs Vertrautem in Spa. Dort wird es jetzt ernst. Unsere Truppen werden im Osten wieder vorrücken. Dann bricht Lenins Widerstand am Verhandlungstisch zusammen und Deutschland wird herrschen über Europa von Finnland bis zur Ukraine.

Ding Nummer zwei sind Wilsons 14 Punkte. Da hast du selbstverständlich richtig vermutet, wie sehr mich diese Friedensinitiative beschäftigt. Wenngleich das Reich diesen Plan nicht annehmen kann, enthält er einzelne Punkte, auf die wir zurückkommen werden, wenn Deutschland den Zeitpunkt für gekommen hält, um Frieden zu schließen.

Und Ding Nummer drei, was ist das? Das ist meine feste Absicht, mein Vertrauensverhältnis zu Kronprinz Wilhelm zum geeigneten Zeitpunkt in die Wagschale zu werfen, damit unser Reich den Frieden nicht doch ohne besseres Wissen verspielt!“

Walther Rathenau hat mir offenbar aufmerksam zugehört. Ohne zu zögern antwortet er mit einer unüberhörbaren Süffisanz.

„So, so, lieber Gustav. Du hast also in den letzten Tagen deine nun wirklich allerbesten Beziehungen mal wieder spielen lassen und dich bei der OHL und, wer weiß, vielleicht sogar noch beim Kronprinzen direkt nach der Großwetterlage erkundigt. Und jetzt hat sich allmählich ein schlauer Plan in deinem Kopf formiert. Der erhält indes erst seine letzten Weihen, wenn du diesen Plan deinen treuen Freunden Albert und Walther zum Fraß vorgeworfen hast. Und ich will nicht ausschließen, dass du es mit deinen demokratischen Freunden Erzberger und Haußmann ähnlich hältst. Nur Scheidemann wird von dir wohl nicht die ganze Wahrheit zu hören bekommen.

Doch um mich nicht misszuverstehen. Ich finde es absolut toll, dass es dich danach verlangt, mit Albert und mir zu sprechen. Unsere Namen klingen zwar in der Wirtschaft gut, doch in so harten Zeiten wie den unsrigen hat der Vorsitzende der strategisch wichtigsten Reichstagsfraktion uns Pfeffersäcken etwas Unglaubliches voraus: Auf dein Urteil, auf deine Unterstützung sind sie alle angewiesen! Die Sozen wie die Ultramontanen, die Militärs wie der Reichskanzler und selbst dein Vertrauter Kronprinz Wilhelm benötigt für Argumente, die bei seinem alten Herren durchschlagen, den guten Klang des Namens Stresemann. Lieber Gustav, es macht Spaß, dein Freund zu sein.“

Ich bin beschämt. Walther tut gerade so, als wäre ich die Macht, an der in Deutschland keiner vorbeikäme. Und dabei empfinde ich es ganz anders: Ich bin zwar die Spinne im Netz der Interessen, weil sie alle mit mir reden, mich gewinnen wollen. Aber ich habe deshalb überhaupt noch keine Vetomacht, um einen Alleingang der Konservativen, der Militaristen, der Alldeutschen und der Expansionisten in den Reihen der Schwerindustrie aufzuhalten, falls all jene Gruppen es vermöchten, sich mit dem Kaiser, dem Kanzler und dem Generalstab zu verbünden!

„In Wahrheit, lieber Walther, liegen Macht und Ohnmacht so gefährlich nahe beieinander, dass bei deiner Lobhudelei auf meine Wichtigkeit vielleicht doch eher der Wunsch Vater des Gedankens ist, als dies die Realität im Kaiserlichen Deutschland des beginnenden Kriegsjahres 1918 abbildet.“

„Nehmen wir zu Gunsten deines scharfen Verstandes, Gustav, leider einmal an, dass du Recht hast, um so viel mehr wird es für Albert und mich eine Herausforderung sein, dich nach bestem Wissen und Gewissen zu beraten. Ein weitsichtiger Friede, der Deutschland Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, ist schließlich das höchste Gut!“

Tatsächlich sitzen wir drei Freunde nur zwei Tage später um 16.30 Uhr im Wintergarten von Walther Rathenaus Haus in Grunewald, blicken in einen malerisch verschneiten Garten, lauschen dem leisen Knistern des Kaminfeuers und genießen bei einer Tasse Tee ein herrliches Stück Apfelstrudel. Wir sind überaus gut gelaunt. Die Erwartung des Friedensschlusses mit Russland verbreitet Optimismus. Erstmals seit September 1914 tut sich plötzlich wieder die handfeste Perspektive auf, dass Deutschland den Krieg gewinnen kann. Wir schwadronieren über die bekanntermaßen etwas behäbige, aber nichts desto weniger zielstrebige Verhandlungsführung des Generals Max Hoffmann, tatkräftig und clever unterstützt vom Staatssekretär des Äußeren Richard von Kühlmann. Wir sind uns einig, dass der einseitige Friedensschluss der Mittelmächte mit der Ukraine Trotzki und Lenin endgültig zur Aufgabe zwingt, sobald unsere Truppen auch nur wieder die ersten Kilometer vorgerückt sein werden. Plötzlich wissen wir aber auch ganz genau, dass die politische, militärische und selbst die wirtschaftliche Hegemonie des Reiches über Mittel- und jetzt auch Osteuropa kaum ausreichen dürfte, um die Weltmachtstellung der größten Industrienation Europas auf Dauer abzusichern. Viel zu bedeutsam sind die Märkte jenseits unserer Frontlinien, insbesondere Frankreichs, Großbritanniens und der USA, um unseren modernen Exportindustrien ohne dortige Präsenz die Weltmarktführerschaft zu gestatten. Das mag zwar den Herren Stinnes und Hugenberg reichlich egal sein, weil für ihre Industrien der europäische Absatzmarkt ausreichend erscheinen kann. Für Elektro und Chemie, für die Handelsflotte und die Banken aber gilt das nicht! Albert, Walther und ich stellen sofort darauf fest, dass diese unsere Sichtweise eine krasse Minderheitenmeinung in Deutschland sein wird. Wir öffnen uns für die brutale Wahrheit, dass die alten Eliten und dass die breite Öffentlichkeit ebenfalls gar nicht einsehen mögen, dass Deutschland viel nötiger freie Weltmärkte als große, öde Kolonien im menschenleeren tropischen Regenwald oder den Savannen Mittelafrikas benötigt. Diese Erkenntnis mutet leider viel zu abstrakt, zu volkswirtschaftlich gedacht, zu klar auf die Zukunftsbranchen als auf die dominierenden Industrien der Jetztzeit ausgerichtet an. Mit einem Mal begreifen wir, dass wir drei verdammt mächtige Verbündete benötigen werden, um die alten Eliten im Heer, in der Regierung, im diplomatischen Dienst, in den alten Industrien an der Ruhr und in Schlesien im entscheidenden Moment zu übertrumpfen. Jener Zeitpunkt wird dann gekommen sein, wenn Seine Majestät der Kaiser und sein Reichskanzler zu entscheiden haben werden, ob sie weiter unsere gesamte nationale militärische Macht in den Kampf im Westen werfen wollen oder ob sie einen überraschenden, kreativen, fairen, auf Zukunft gerichteten eigenen Friedensplan offerieren werden, vor dem die Welt dann verblüfft ausrufen wird: Wau! Das hätten wir dem alten, militaristischen Preußen-Deutschland nicht zugetraut, dass es einen Weltfrieden erstrebt, der allen Völkern ihre Chancen bietet.

 

Es ist bereits nach 18 Uhr, als Walther uns auf die 14 Punkte Wilsons stößt. Er bittet um unsere Aufmerksamkeit für seine Schilderung des Besuchs, den er bei Graf von Bernstorff am 28. Dezember in Potsdam abstattete. Der vormalige deutsche Botschafter in Washington D.C. hatte im Dezember die Ostküste der USA bereist. Von Boston über New York führte ihn sein Weg zu alten Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern. Deutsche und englische Kaufleute befanden sich ebenso darunter wie amerikanische Staatsbürger, vornehmlich aus der wirtschaftlichen Elite Neuenglands. Schon vor seiner Reise hatte Graf von Bernstorff das Gespräch mit Rathenau und Ballin gewünscht und gesucht, um aktuelle Eindrücke von den politischen Verhältnissen im Reich mitzunehmen. Walther Rathenau erwähnte dies mir gegenüber vor Weihnachten nur beiläufig, so dass ich Bernstorffs Reise keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Doch heute, nach der Verkündung der 14 Punkte durch Präsident Wilson, war mein Interesse naturgemäß groß.

„Der Graf schien aufgeblüht zu sein, weil er an seine alte Wirkungsstätte kurzzeitig zurückkehren durfte. Frohen Mutes erzählte er mir davon, wie schlecht es um Englands Kriegsindustrie stehe. Aber leider schilderte er ebenso überzeugend, dass die Rüstungslieferungen und die Truppenentsendungen der Vereinigten Staaten seit dem Herbst 1917 die Schwäche der Briten und Franzosen mehr als auszugleichen vermochten.

Bernstorffs Gesprächspartner erkundigten sich sehr neugierig nach der Stärke von Deutschlands Rüstung. Die Kaufleute und Bankiers wollten dann vor allem wissen, wie eine vom Reich gestaltete Wirtschafts- und Zollunion für den Kontinent denn nun aussehen werde. Würden Briten und Amerikaner dadurch vom europäischen Markt verdrängt? Diesbezüglich versuchte er selbstverständlich Befürchtungen zu zerstreuen. Bernstorff hatte vor seiner Reise nicht allein mit uns, sondern auch mit Helfferich von der Deutschen Bank und dann natürlich mit seinem Chef, Staatssekretär Kühlmann gesprochen. Daraus zog er den Schluss, die Zollunion böte dem Westen die Chance für eine Meistbegünstigung, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt würden: Erstens müsste Frankreich in die Zollunion eintreten und zweitens müssten die USA und das Empire im Gegenzug auch dem Reich die unbeschränkte Meistbegünstigung auf ihren Märkten gewähren.“

„Eine phantastische Vorstellung! Die vier größten Nationalökonomien der Erde bauen ihre bisherigen Zoll- und Handelsschranken fast vollständig ab. Das wäre der Durchbruch für einen freien Weltmarkt, wie wir Reeder und ihr Elektro-Industriellen, und dann natürlich auch die Chemie-Giganten unter dem Dach der IG-Farben, ihn sich doch schon lange wünschen.“

Albert Ballins Zwischenruf trifft meine Stimmung voll und ganz. Ich antworte sichtlich elektrisiert.

„Es wäre genau die richtige Antwort der Reichsregierung auf den amerikanischen Friedensplan. Wilson verlangt die Freiheit der Meere, Wilhelm verlangt die Freiheit der Märkte. Wir könnten das als eine deutsch-amerikanische Gemeinsamkeit in der Politik der Offenen Tür herausstellen. Mit Hilfe von Amerikas Open door-Politik sind die objektiven Interessen der beiden größten Volkswirtschaften der Erde wahrscheinlich leichter in Übereinstimmung zu bringen als unser beider Vorstellungen wiederum denen der beiden größten Kolonialmächte England und Frankreich entsprechen. Doch was soll es? Ein wenig Würze in einen zukünftigen Friedenskongress zu bringen, fände ich wahrlich nicht schlecht.“

Albert, Walther und ich schwelgen noch kurze Zeit in unseren hoffnungsfrohen Erwartungen einer freien Weltwirtschaft, die sogar die Bedeutung der Kolonialreiche ebenso wie die der deutschen Hemisphäre in Europa gehörig zu relativieren verhelfe. Dann jedoch kehrt Walther zum Ursprung der Betrachtung zurück.

„Graf von Bernstorff traf übrigens in New York auch den britischen Generalkonsul Lord Melroy. Das war ein freundschaftlicher Termin, wie er berichtete; an sich nichts Ungewöhnliches. Doch Melroy vertiefte sich zum Schluss der Unterredung in ein Gedankenspiel darüber, was Deutschlands Ziele für 1918 seien. Er vertrat voller Zweckoptimismus die Vorstellung, Fürst Kerenski werde Lenin mit Hilfe der Sozialrevolutionäre, die als Verbündete der liberalen Eliten schon bereit stünden, durch revolutionäre Handlungen in den beiden Hauptstädten Russlands bald stürzen. Und dann kämpfe Russland weiter an der Seite der Entente. Von Bernstorff betonte, an diesem Punkt bei der Entgegnung sehr fest in seiner Auffassung gewesen zu sein. Lenin könne sich vielleicht halten. Aber selbst falls das nicht so sei und Fürst Kerenski erneut an die Regierung käme, werde es Russland unter keinen Umständen gelingen, erneut eine geschlossene Frontlinie von Estland bis zum Schwarzen Meer zu errichten. Also sei gewiss, dass Deutschland in 1918 den Krieg im Osten gewinne und dann bis zu einhundert Divisionen nach Frankreich werfe. Für diesen Fall empfehle er den Herren Lloyd George und Wilson schon einmal, einen neuen 14-Punkte-Plan zu entwerfen. Anderenfalls werde es wohl Reichskanzler Graf von Hertling sein, dem dann nach glänzenden Erfolgen auf den Schlachtfeldern an der Somme, an der Marne und bei Paris die Initiative bei der Friedensfindung zufalle.

Und jetzt kommt das Spannende: Lord Melroy zeigte sich offenkundig nachdenklich. Er beharrte zwar auf dem festen Vertrauen in die Macht der amerikanischen Waffen, aber billigte zu, dass der Entente eine schwere Stunde an der Westfront bevorstünde, falls das Reich eine Großoffensive mit frischen Verbänden aus dem Osten starten könne. Der Generalkonsul erklärte Graf von Bernstorff sodann, er werde in den darauf folgenden Tagen Mister Louis Brandeis zu Gast haben und diesem von den Perspektiven der deutschen Kriegführung berichten. Es sei schließlich wichtig, dass bis in die höchsten Regierungskreise Realismus Einzug halte, wie der Krieg vielleicht beendet werden könne. Wisst ihr, wer Brandeis ist?“