1918 - Wilhelm und Wilson

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„Soweit abgemacht, kaiserliche Hoheit. Dann hätten wir die Linie zu Herrn Erzberger und zum Zentrum abgesteckt. Ich mache weiter mit den Sozialdemokraten, ihrer Mehrheit versteht sich, wenn es recht ist.“

Wilhelm fordert mich mit einer Handbewegung dazu auf.

„Herr Scheidemann ging in unsere Gespräche vom Frühjahr 1917 eigentlich mit drei Forderungen hinein. Zwei sind identisch mit den eben behandelten Zielen des Zentrums. Die dritte Forderung aber hat es in sich, ruft möglicherweise seine Exzellenz Ludendorff und vor allem die Herren Stinnes, Hugenberg und Co. auf den Plan. Es handelt sich dabei um die Errungenschaften des Gesetzes über den Vaterländischen Hilfsdienst. Die dort gebildeten Arbeiterausschüsse sind annähernd das, was die Sozialisten gerne als Betriebsausschüsse oder sogar Betriebsräte bezeichnen. Diese Belegschaftsvertretungen in den Großbetrieben sind ja eigentlich das, wovon die SPD träumt, um die deutsche Gesellschaft in Richtung von mehr Gerechtigkeit zwischen den Klassen, zwischen Arbeiterschaft und Großkapital, entwickeln zu können. Scheidemann und Ebert hoffen zugleich, dass ein Erfolg in dieser Frage den Radikalen um Liebknecht gehörig den Wind aus den Segeln nähme. Das wiederum könnte man nun schon als gemeinsames Ziel der Sozialdemokraten - aber jetzt muss man wohl genau Mehrheits-SPD sagen - dann weiter von ihnen und mir, der kaiserlichen Regierung, der OHL und Seiner Majestät selbst kennzeichnen.“

„So weit reicht die Analyse. Doch eine eher noch abstrakte Vorstellung von den zukünftigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entwickeln, mein lieber Doktor Stresemann, bedeutet in meinen Augen noch keineswegs eine Lösung für die praktische Frage, wie der Kompromiss denn nun wirklich aussehen soll. Sie haben ja auf die Ruhrbarone zu Recht verwiesen. Ich bring es in meinen Worten auf den Punkt: Hugenberg und Konsorten sind die Beibehaltung des Herr-im-Hause-Standpunktes in den Großbetrieben der Eisenindustrie und auf den Steinkohlezechen ebenso wichtig wie die Annexion von Longwy/Briey! Welchen Trick haben sie denn auf Lager, um diese aus meiner Sicht sogar unüberwindliche Hürde zwischen den Klassen zu nehmen?“

„Das ist die Kernfrage der Macht im Reich, euer Hoheit! Können die Herren von der Ruhr beides bekommen, den totalen Sieg und die Stutzung der Rechte der Arbeiterschaft? Dürfen die Herren von der Ruhr tatsächlich die entscheidende Machtinstanz sein, die anstelle von Kaiser und Reichskanzler darüber entscheidet, wie die Strategie des Reiches zur erfolgreichen Beendigung des weltweiten Völkerringens ausfällt?“ Ich blicke dem Kronprinzen fest, fast provokativ offen und lange in die Augen. Er hält dem stand und sinniert offenbar ernsthaft über meine Worte. Er kneift die Lippen leicht aufeinander und dokumentiert mir damit, wie sehr wir hier einen zentralen Aspekt unserer Friedensstrategie erreicht haben.

„In der Tat, lieber Doktor Stresemann, das ist eine kleine Revolution, eine weiße Revolution, eine Revolution von oben! Sie vertreten die These, dass wir ganz im Sinne Hegels – der Staat steht über den Dingen, den Interessen und Gruppen und hat nur das Gemeinwohl im Blick – die Partikularinteressen der Arbeiterschaft über die Einzelinteressen der Industrie stellen sollen, und das auch noch im Namen und mit ausdrücklicher Billigung der Krone.“

Wilhelm wechselt den Gesichtsausdruck von ernst und nachdenklich auf schalkhaft lächelnd.

„Nachher sind es nicht die Millionen Arbeiter, die Revolution machen in Deutschland, lieber Stresemann, sondern die Ruhrbarone, die Junker und die Militärs, die den Kaiser absetzen.“

Da muss ich lachen. Dann fange ich mich, sortiere sehr wohl den wahren Kern, der in der humoristisch vorgetragenen Befürchtung des Kronprinzen steckt, und sortiere meine Gedanken.

„Das wird nicht geschehen, euer Hoheit, da bin ich sehr sicher. Aber nicht nur aus dem einen Grund, dass der preußische Junker niemals gegen seinen Herrn und König rebellieren wird. Es gibt noch wichtige andere Gründe dafür: Die Millionen Arbeiter würden für den König und Kaiser auf die Straße gehen, würden in den Fabriken die Räder still stehen lassen und den Ruhrbaronen damit die Grenzen ihrer Macht aufzeigen.

Für mich ist etwas ganz anderes jedoch noch wichtiger für unser beider reines Gewissen, für die Überzeugungskraft unserer Initiative: Das Reich, die Regierung, der Kaiser würden nicht einfach die Verfolgung des einen Gruppeninteresses durch die Ziele einer anderen Gruppe ersetzen. Ganz im Geiste Hegels würde der Staat identifizieren, was seine eigenen, überlebenswichtigen Ziele und gesellschaftspolitischen Interessen sind. Und dann stellen wir fest, welche Übereinstimmung besteht zwischen den Voraussetzungen für die militärische Erkämpfung des Sieges hier, für die Sicherung des inneren Friedens nach dem Krieg und für lange Zeit dort. Und schließlich würden wir erkennen, welche breite Übereinstimmung besteht zwischen der Staatsräson hier und den Forderungen und dem nachvollziehbaren Selbstwertgefühl der Millionen zählenden Mehrheit unseres Volkes dort.

Kaiserliche Hoheit, wie 1806 steht Preußen wieder am Scheideweg. Wir haben die Wahl zwischen Reformen, die Deutschland erneut an die Spitze der Völker bringen werden, sowohl was den gesellschaftlichen Fortschritt als auch was seine Macht in Europa betrifft, oder aber zwischen dem Festhalten an der alten Macht, die vielleicht niemals so untergraben wird wie in Russland derzeit, die aber vermutlich allein zu schwach sein dürfte, um unsere nun wahrlich mächtigen Feinde Frankreich, England und Amerika zu bezwingen.“

„Jetzt sind sie in Rage, lieber Doktor Stresemann! Konservieren sie bitte ihren Schwung, ihre Leidenschaft, ihre Überzeugungskraft und – ja auch ihre Staatsräson für Preußen und das Reich. Genau so müssen wir in das Gespräch mit meinem Vater hinein gehen! Und wir müssen taktisch im Vorfeld alles daran setzen, dass da nicht wieder der gesamte Kronrat sitzt, der dann alles nur in Frage stellt und klein redet. Was wir brauchen, ist im besten Falle ein Gespräch unter acht Augen. Nun gut, mein Vater wird den Chef seines Zivilkabinetts Rudolf von Berg wohl hinzuziehen wollen, aber das schadet nichts, es wäre dann die ideale Konstellation.“

„Sehr gut haben sie das auf den Punkt gebracht, kaiserliche Hoheit. Sie werden mir zustimmen, dass ich diesbezüglich über keinerlei Einfluss auf Seine Majestät verfüge. Wären sie so freundlich, zur Anbahnung eines solchen, höchst vertraulichen Gespräches tätig zu werden?“

„Was bleibt mir anderes übrig, wenn wir Erfolg haben wollen, lieber Doktor Stresemann? – Ich möchte festhalten: Wir haben es nicht leicht mit all dem, was wir uns heute so vorgenommen haben, aber wir sind im Geschäft!“

Ich atme tief ein und aus. Die Erinnerung an mein erstes vollständig vertrauliches Gespräch mit Seiner Majestät dem Kronprinzen hinterlässt in mir ein wohliges Gefühl. Meine Schulter schmerzt. Sie ist vom langen Liegen verspannt. Ich wälze mich in meinem Krankenhausbett und öffne die Augen. Die hohe Zimmerdecke zeigt an ihrem umlaufenden Rand zu den Wänden einen feinen Putz. Das Muster wird wohl dem Stil des Empire entstammen, so schlicht und handwerklich präzise das klassische griechische Muster gestaltet ist. Kurz darauf schließe ich erneut die Augen und atme ein weiteres Mal tief und erleichtert aus.

Neujahr 1918 am Hofe des griechischen Königs Alexandros I.. Der seinem Vater erst 1917 auf Drängen der britischen Verbündeten auf den Thron gefolgte, erst 24-jährige Monarch gibt ein rauschendes Silvesterfest für seinen nach europäischen Maßstäben eher kleinen Hof, dafür aber mit einem wahrlich imposanten Feuerwerk für sämtliche Bewohner seiner Hauptstadt. Neben dem König und seiner deutschem Hochadel entstammenden Mutter Sophie steht auch Alexandros zwei Jahre jüngere Schwester Helene. Sie ist erst zwei Wochen vor Weihnachten von einem beinahe halbjährigen Aufenthalt am Hofe des Deutschen Kaisers in Berlin zurückgekehrt. Als die bunten Leuchtraketen den sternenklaren Athener Nachthimmel mit lautem Krachen erstrahlen lassen, schreckt Helene zusammen. Sie denkt unwillkürlich an das Granatfeuer der Artillerie in Nordfrankreich, das Franzosen und Briten hüben, Deutsche drüben todbringend aufeinander abfeuern. Und während der Athener Silvesterhimmel für mehr als zwanzig Minuten unter einem wirklich beeindruckenden pyrotechnischen Meisterwerk erleuchtet, bleiben der jungen Prinzessin Helene lange Momente der Muße für einen Tagtraum, der sie fast genau vier Monate zurück in die Vergangenheit nach Berlin entführt.

Damals, am 2. September 1917, hatte ihr Onkel Kaiser Wilhelm II. den Hof und die Spitzen der Berliner Gesellschaft ins Stadtschloss zum großen Ball anlässlich des Tages von Sedan geladen. Die Schlacht von Sedan bedeutete 1870 die Entscheidung im deutsch-französischen Krieg. Ihr folgte im Januar 1871 die Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles durch die deutschen Fürsten. So wie dieser Gründungsakt bereits einen Affront für die Grand Nation bedeutete, so unvergesslich und inakzeptabel wirkte seitdem für Frankreich der Verlust des fortan deutschen „Reichslandes“ Elsass-Lothringen. Für Frankreich war die Rheingrenze, die es 1648 offen gefordert und bis 1733 endgültig erreicht hatte, seit der französischen Revolution von 1789 gleichbedeutend mit dem unveräußerlichen, unverletzlichen Kernsbestand der Nation selbst. Nicht die elsässische Zunge, sondern der gemeinsame Glaube aller Franzosen an die hehren Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konstituierten seitdem im nationalen Selbstbewusstsein Frankreichs die Ausdehnung der Nation nach Osten. Also trafen im Elsass seit 1871 mit Frankreichs Bild von der politischen und Deutschlands Bild von der Kulturnation zwei Grundverständnisse der nationalen Frage aufeinander, die den Gegensatz beider Nationen stetig verschärfen sollten.

 

Am Tag von Sedan war Prinzessin Helene im Kreise ihrer Freundinnen von Hofe, etwa gleich alte junge Damen aus preußischen Adelsgeschlechtern oder gar deutschen Fürstenhäusern, frohen Mutes auf den Ball geeilt, insbesondere um fesche und stattliche junge Gardeoffiziere zu bewundern und auch das eine oder andre Tänzchen zu wagen. Für Helene war der Ball ein einprägsames Ereignis, weil sie nicht nur das eine um das andere Mal mit einem jungen Herren tanzte, sondern weil ihr der Oberleutnant der Artillerie Thorsten Ballin vom 109. Preußischen Artillerieregiment, an der Somme in Frankreich stationiert, seitdem nie mehr so ganz aus dem Kopf ging. Was war denn eigentlich so besonderes an diesem ein wenig schüchternen, introvertierten Offizier? Dass er groß und schlank war, gut aussah mit kurzen dunkelblonden Haaren und aufgeweckten blauen Augen, das hob ihn nun nicht wirklich von der Mehrzahl seiner Berufskollegen ab. Dass er nicht von Adel ist, sondern der Sohn eines der reichsten Hamburger Großbürgers, des Reeders und Eigentümers der HAPAG, Albert Ballin, machte ihn für Helene nicht minder attraktiv. Diese Sicht der Dinge mochte zwar ihre Mutter keineswegs teilen, da war sich Helene sicher. Doch zugleich wurde sie zutiefst von der Überzeugung erfüllt, dass mit und nach diesem Kriege eine Zeit anbrechen werde, in der die königliche Geburt weit weniger zählen mochte als der Charakter und die Liebe.

Übrigens hatte sie an jenem Abend der Übermut gepackt, so dass sie sich Oberleutnant Ballin nicht als Helene, sondern getrau ihrer Heimat Hellas gleich als Helena vorstellte. Gefangen nahm Helene an Thorsten Ballin seine ruhige, nicht aufschneidende Art, wie es bei deutschen Offizieren nicht so selten vorkommt. Vor allem aber konnte sie sich mit ihm tatsächlich unterhalten, und zwar nicht nur über das Wetter und den Alltag bei Hofe. Sehr schnell erlangte ihr Gespräch eine gewisse Tiefe, als es um die schmerzhaften Fronterfahrungen des jungen Mannes ging, oder dann ebenfalls um die leidvollen Erinnerungen Helenes an ihren Vater und dessen Abdankung im Frühjahr 1917. Das große persönliche Opfer hatte der König nur auf sich genommen, um die Dynastie auch unter den neuen Bedingungen des von der Entente aufgezwungenen Bündnisses zu bewahren.

Am Ende dieses Abends versicherten sich Helene von Griechenland und Thorsten Ballin recht knapp, sehr aufgeräumt und kein bisschen wehmütig über die Trennung, dass sie sich wohl gerne wiedersähen. Seitdem jedoch ging für Helene diese Leichtigkeit ein über das andere mal verloren, weil ihre Erinnerungen an jenen Oberleutnant Thorsten Ballin nicht mehr vergehen wollten, weil sie immer häufiger die Sehnsucht nach einem Wiedersehen erfüllte, und weil sie eigentümlich feststellte, dass kein anderer junger Mann in den letzten Jahren eine solche, nachhaltige und bleibende Wirkung bei ihr hinterlassen hatte. Helenes Abschied von Berlin und die lange Zugfahrt bis an die kroatische Adriaküste, um von dort aus das Schiff nach Athen zu besteigen, gaben ihr viel Zeit, über ihre Monate in der Reichshauptstadt nachzudenken, ihre starken Gefühle für ihre Freundinnen - und eben auch für Thorsten Ballin - zu erinnern. Jetzt steht Prinzessin Helene erneut hier und wird durch ein zufälliges Ereignis, das schlichte Explodieren von Feuerwerksraketen, an jenen Thorsten Ballin erinnert, von dem sie doch noch so wenig weiß, den sie aber wieder sehen und besser kennen lernen möchte. Und dann ist da plötzlich auch wieder, wie bereits während der Zugfahrt durch Österreich, die unbestimmte Angst davor, dass Oberleutnant Ballin diesen Krieg, dieses neue Kriegsjahr vielleicht gar nicht überleben werde.

Die letzten Gerüchte bei Hofe vor Prinzessin Helenes Abreise aus Berlin lauteten: Jetzt kommt der Waffenstillstand mit Lenin, dann sehr bald der Frieden mit Russland und dann wird das mächtige deutsche Heer millionenfach seine kampferprobten Männer von Ost nach West schicken, um in einer Offensive, wie die Welt noch keine gesehen hat, den Krieg auch endgültig in Frankreich für sich zu entscheiden. Helene durchfährt dabei eine einzige Gefühlsregung: Möge Gott geben, dass Oberleutnant Thorsten Ballin diesen Sturm und auch den gesamten noch vor uns liegenden Teil des Krieges gesund überstehen möge - ja, auch deshalb, damit ich ihn einstmals wiedersehen kann.

6 Wilsons Amerika

Als am 15. Dezember 1917 der Waffenstillstand zwischen dem seit wenigen Wochen bolschewistisch regierten Russland und den Mittelmächten in Kraft trat, sah US-Präsident Woodrow Wilson seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Anders als manche seiner Berater und die Botschafter Großbritanniens und Frankreichs in Washington, die davon überzeugt waren, Russland zur Fortsetzung des Krieges gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn bewegen zu können, befürchtete er jetzt die baldige Verlegung umfangreicher Kontingente deutscher Truppen von der Ost- an die Westfront. Zur gleichen Zeit aber befand sich das amerikanische Korps in Frankreich erst noch im Aufbau. Woodrow Wilson sann bis Weihnachten darüber nach, welche Möglichkeiten insbesondere die Vereinigten Staaten haben würden, den Bolschewiki hinreichend starke Anreize zur Wiederaufnahme des Kampfes zu bieten. Ihm ging es darum, nach Möglichkeit die Verlegung von einer bis zwei Millionen deutscher Soldaten, kampferprobt, gut organisiert und bestens geführt, in 60 bis 100 Divisionen nach Westen gänzlich zu verhindern. Mindestens aber sollte diese Kräfteverschiebung so lange hinaus gezögert werden, bis die USA selbst eine Million Soldaten oder mehr in Frankreich in die Kämpfe eingreifen lassen konnten. Das würde nach Einschätzung von Oberst House, Wilsons wichtigstem persönlichen Berater in sämtlichen Angelegenheiten des europäischen Krieges, im Sommer, wohl erst im Juli 1918 erreicht sein. Am zweiten Weihnachtstag zog sich der Präsident von einer Feier mit seiner Familie, zu der einige Geschwister nach Washington gereist waren, am frühen Abend mit der Begründung zurück, er sei nach dem reichlichen und guten Festtagsessen ein wenig unpässlich. In Wahrheit suchte Wilson umgehend sein Arbeitszimmer, das Oval Office im Weißen Haus auf. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, löschte das Licht und verharrte für eine gute Viertelstunde im Dunkeln, den schweren Kopf in die großen Hände gestützt. Seine Gedanken kreisten um die europäische Ostfront. Noch am 23. Dezember hatte er seinen Außenminister Robert Lansing zu einem ausführlichen Gespräch gebeten, ihm bohrende Fragen nach der Stabilität der Verhältnisse in Russland und nach den Eigeninteressen beim offenkundig zur Schau gestellten Zweckoptimismus der Entente-Mächte gestellt. Ihren Prophezeiungen von der Fortsetzung des Krieges in Russland schenkte er persönlich zunehmend weniger Glauben. Auch der Secretary of State Lansing traute den Briten und Franzosen in dieser Angelegenheit keinen Zentimeter über den Weg. Stattdessen meinte er, London und Paris wollten Amerika nur beruhigen. Die US-Botschaft in Petrograd hingegen meldete fortwährend, den Bolschewiki entgleite die soeben erst gewonnene Macht wieder aus den Händen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre verfügten strukturell über eine Mehrheit in der Bevölkerung der beiden Hauptstädte. Deswegen sei es wohl realistisch, dass die Bolschewiki den Deutschen gegenüber auf Zeit spielten. Das erlaube ihnen, die in der Sache unakzeptablen Forderungen der deutschen Militaristen, Russland möge auf ausnahmslos alle nicht von Russen besiedelten Gebiete im europäischen Teil des vormaligen Zarenreiches verzichten, immerhin vorübergehend zu verunglimpfen und ins Leere laufen zu lassen. Schließlich müsste die Anerkennung der vollständigen militärischen Niederlage Lenins Gegner erneut stärken. Kerenski könnte sofort kontern, die Bolschewiki betrieben einen unverantwortlichen Ausverkauf nationaler Interessen und Territorien. Werde es indes ernst und die Deutschen setzten als äußerstes Druckmittel ihren Vormarsch auf Petrograd fort, würden Lenins Unterhändler Frieden schließen, um ihre eigene Haut und die Chance auf den Machterhalt im Inneren zu retten. Als Robert Lansing das Weiße Haus verließ, äußerte er noch die Einschätzung, es könne im Westen dann richtig gefährlich werden, falls die Deutschen schon zu Ostern in die Lage versetzt würden, eine starke Offensive über die Somme gegen Paris oder die Marne zu führen.

Ich muss eine neue Friedensinitiative starten. Die muss attraktive Angebote für die kleinen, unterdrückten Völker Europas enthalten. Sie muss zudem den Russen - und zwar egal, wer dort in Zukunft regiert - die Aussicht darauf eröffnen, dass nicht die Deutschen über ganz Mitteleuropa bis zu ihrer Westgrenze herrschen werden, sondern eine Mehrzahl selbstbestimmter Völker entstehen. Briten und Franzosen könnten da nichts gegen haben, denn sie wären ohnehin nicht in der Lage, östlich des Deutschen Reiches auf Dauer direkten Einfluss auszuüben.

Dann fragte sich der amerikanische Präsident, was eine solche Friedensinitiative denn wohl den Deutschen zu bieten vermöge. Woodrow Wilson atmete in seinem in Dunkelheit gehüllten Büro tief durch. Lediglich vom Kerzenschein des Tannenbaumes auf dem Rasen drang diffuses Licht hinein. Sogleich stieg wie des Öfteren in ihm eine Antipathie gegen dieses kaiserliche Deutschland auf. Für Wilson vereinte dieses Land in der Mitte Europas zu viele Widersprüche in sich. Gemeinsam mit den USA war das Reich die größte und modernste Wirtschaftsmacht der Erde. In den Zukunftsindustrien Chemie und Elektro liefen die Deutschen allen anderen sogar den Rang ab. Wäre das nicht so gewesen im Jahr 1914, hätten sie auch nicht vermocht auf Stickstoffbasis kurz nach Kriegsbeginn Sprengstoff herzustellen. Damit konnten sie ihren sicheren Untergang abwenden. Im Gegensatz zu dieser Fortschrittlichkeit aber sperrten sich die alten preußischen Eliten gegen die Demokratisierung. Kaiser, Junker, Militärs, Stahlindustrielle waren so rückwärtsgewandt wie in keinem anderen großen Land Europas, außer Russland. Und dort hatte ja gerade die Revolution gesiegt! Ob das im Deutschen Kaiserreich wohl auch möglich wäre?

Woodrow Wilson beschloss, eine Friedensinitiative zu ergreifen, die für die Demokraten in Deutschland annehmbar sein würde. Er empfand eine stille Freude daran, den Keil der Spaltung in die deutsche Gesellschaft zu treiben, von welcher Kaiser Wilhelm seit 1914 tönte, sie stehe auf dem Boden des Burgfriedens fest zur Monarchie. Dieser verfluchte militaristische Kaiser! Seine persönlichen Überzeugungen wurden gepaart mit dem unglaublich großen Einfluss der erzreaktionären Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff, die wiederum den maßlosen Kriegszielen der Zechen- und Stahlbarone nach Annexionen in Frankreich und der Eingliederung Belgiens ins Reich vollständig folgten.

Ich muss, ich will auf die inneren Verhältnisse in Deutschland achten! Sonst würde meine Friedensinitiative nichts weiter als eine PR-Nummer! Sie stachelte die Öffentlichkeit bei uns zu Hause, noch mehr in England und Frankreich erneut auf, weil die Deutschen sie ablehnen und sich wiederholt als friedensunwillig zeigen würden. Eine solche Aktion für die Öffentlichkeit hätte aber keine Chance das zu erreichen, was ich eigentlich anstrebe: Amerika sollte eine echte Chance suchen, den Ausstieg der Russen aus dem Krieg und anschließend eine große, gefährliche Offensive der Deutschen in Frankreich zu verhindern! Das wiederum erfordere zwei Dinge: In Russland muss Lenin besser heute als morgen von einer Regierung der nationalen Einheit abgesetzt werden! Und zweitens muss der Kaiser einige wichtige meiner Vorschläge für verhandelbar halten!

Woodrow Wilson atmete erneut tief durch, nahm den Kopf aus den aufgestützten Armen und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Er schmunzelte und blickte versonnen aus dem Fenster in den parkartigen Garten des Weißen Hauses. Zwar hatte er bis jetzt noch kein Wort zu Papier gebracht, dennoch war er mit sich fürs Erste zufrieden. Denn seine Bestandsaufnahme über die Lage, in der sich die Krieg führenden Mächte befanden, half ihm, aus einer gesicherten Klärung seiner großen, übergeordneten Ziele heraus jetzt frisch ans Werk zu gehen. Zwei Aufgaben stellte er sich. Nach Weihnachten und unbedingt vor Silvester wollte der Präsident nacheinander mit seinen vielleicht wichtigsten Beratern in dieser Angelegenheit konferieren. Das war einmal Oberst Edward House, den Wilson nicht nur als Experten für alles Militärische, sondern auch für die Wirkungen der Außenpolitik in der amerikanischen Öffentlichkeit schätzte. Und da war zum zweiten der oberste Bundesrichter Louis Brandeis, der als einer der herausragenden Kenner der Weltwirtschaft und gerade auch der wirtschaftlichen Potenziale der europäischen Mächte galt. Mit seiner Hilfe hoffte Wilson eine Einschätzung darüber zu gewinnen, welche Aussichten die Westmächte hatten, 1918 weiter durchzuhalten, und welche Chancen die Deutschen tatsächlich hätten, nach dem hoffentlich eher unwahrscheinlichen Frieden mit Russland die entscheidende Offensive im Westen zum Erfolg zu führen. Doch halt, Wilson fiel plötzlich ein dritter Name ein: Der junge Journalist Walther Lippmann, in New York Herausgeber der Zeitschrift „The New Republic“ dürfe wohl wie kein zweiter die Stimmungslagen in der amerikanischen Bevölkerung, insbesondere die des dicht besiedelten Nordostens, am treffsichersten einschätzen. Ihn einzubinden konnte ebenfalls den Horizont erweitern, das Urteil differenzierter ausfallen lassen und ihm mehr Sicherheit für seine Entscheidungen geben.

 

Und dann war da die zweite Aufgabe: Woodrow Wilson nahm sich vor, niemanden zu beauftragen, einen Entwurf für seine Friedensinitiative zu erstellen. Nein, hier ist der Chef gefragt! Denn nur der Chef hat die klaren Prioritäten im Kopf, was erreicht werden soll und erreicht werden könnte. Es muss ja nicht ein Roman werden!

Wilson stellte sich vor, nur ein Dutzend zentrale Forderungen, Standpunkte, Zukunftsperspektiven für die Ordnung in Europa zu formulieren. Ein Dutzend ist eine gute, einprägsame Zahl. Nach den zehn Geboten sind es dann vielleicht die zwölf Punkte von Wilson, die hoffentlich einmal Weltgeschichte schreiben werden. Für einen kurzen Moment sonnte sich der Präsident in dem angenehmen Gedanken, derjenige zu sein, der diese unbefriedigende, unerträgliche gegenseitige Blockade der Krieg führenden Mächte aufzuheben vermöge. Sofort darauf schämte sich Woodrow Wilson für diesen Anflug von unverkennbar narzistischer Eitelkeit. Er zwang sich zur Nüchternheit. Nicht ins Schwärmen kommen, alter Junge! Das sagte er zu sich selbst und beschloss, sich noch an diesem Abend die ersten knappen Notizen für sein 12-Punkte-Programm zu machen. Es war 22.30 Uhr, da war noch eine produktive Phase möglich. Der Präsident betätigte den Lichtschalter seiner Schreibtischleuchte, griff optimistisch gestimmt zum Block und zu seinem Füllfederhalter in der obersten Schublade des massiven Eichenschreibtisches. Die ersten Stichworte, die er notierte, lauteten: Selbstbestimmungsrecht der Völker, unabhängiges Polen, unabhängiges Belgien, Elsass-Lothringen zurück an Frankreich. Sodann legte er seine Stirn in Falten und notierte weiter: Demokratisch gewählte Regierungen in ganz Europa? Zollunion? Deutschland verliert Kolonien? Oder muss es umgekehrt gerade welche hinzu bekommen? Österreich-Ungarn auflösen? Machtverhältnisse in Polen, im Baltikum anerkennen? Woodrow Wilson wusste mit einem Mal, wie schwierig sein Unterfangen werde, einen Friedensplan aufzustellen. Er grübelte noch eine Weile, machte lediglich einige weitere, knappe und belanglose Aufzeichnungen und beschloss daraufhin, die Arbeit am Schreibtisch für diesen Abend zu beenden. Sollten doch die Gespräche mit House und Brandeis und vielleicht noch Lippmann mehr Licht ins Dunkel bringen. Er löschte das Licht wieder und verließ das Oval Office.

Unruhe überfällt mich. Die Gedanken an meine Begegnungen mit dem amerikanischen Präsidenten im Jahr 1918 rufen in mir die Erinnerung an seinen festen Charakter, seine moralische Stärke, vor allem aber auch seine unverbrüchliche Autorität gegenüber seinen amerikanischen Landsleuten und schließlich auch gegenüber seinen europäischen Verbündeten wach.

Ich öffne meine Augen nur um die Breite feiner Schlitze. Die Schwester hat soeben mein Kopfkissen aufgeschüttelt, mich neu gebettet. Matratze und Bettzeug meines Krankenhausbettes fühlen sich weich und frisch an und sie duften angenehm nach einem Hauch von Waschmittel. Die Schwester hat nicht bemerkt, dass ich erwacht bin. Mit einem fürsorglichen Lächeln blickt sie ein Mal nach mir, bevor sie das Zimmer verlässt, darum bemüht, die Türe möglichst geräuscharm ins Schloss fallen zu lassen. Ich schließe die Lieder. Sofort formt sich vor meinem inneren Auge das große, längliche Gesicht Woodrow Wilsons, auf dessen Züge sich stets ein verschmitztes Lächeln legte, wenn sein heller Geist einen neuen, bestechenden Gedanken entwickelte. Mein Geist ist plötzlich in einem vertrauensvollen Vier-Augen-Gespräch, das wir beide im frühen Herbst 1918 im Weißen Haus in Washington führten, und in dem er mir mit erählerischer Hingabe davon berichtete, wie seine Idee vom 14-Punkte-Programm aus der Taufe gehoben wurde. - Noch sind wir dabei im Jahr 1917.

Am 30. Dezember sitzt Präsident Wilson um 11 Uhr in seinem Arbeitszimmer und bearbeitet gemeinsam mit seiner Sekretärin und dem Leiter des Präsidentenbüros im Weißen Haus die Post. Woodrow Wilson hat sich über die Weihnachtstage gut erholt, so dass die Flut der noch vor den Feiertagen liegen gebliebenen Briefe seine Stimmung gar nicht zu trüben vermag. Es klingelt das Telefon und seine Sekretärin nimmt ab. Eine Mitarbeiterin des Präsidentenbüros meldet Außenminister Lansing, der in der Leitung warte und gerne den Präsidenten gesprochen habe. Wilson ist nicht sehr überrascht und nimmt das Gespräch an, nachdem er seinen beiden Mitarbeitern bedeutet hat, das Büro bitte kurzzeitig zu verlassen. Robert Lansing ruft aus Boston an, wo er für die Tage zwischen den Jahren verweilt. Nach der Höflichkeitsfrage nach den Familienaktivitäten über Weihnachten fragt er an, ob bei der vom Präsidenten gestern kurzfristig für den 3. Januar anberaumten Kabinettssitzung etwas Besonderes anstehe. „Lieber Woodrow, du hast dir doch bestimmt etwas ausgedacht über die besinnlichen Tage, warum du uns schon vor Heilige Drei Könige nach Washington zurück holst?“

„Natürlich, Bobby. Und ebenso natürlich geht es um den Krieg. Deshalb bist du für mich auch der wichtigste Mann am 3. Januar. Vielleicht erinnerst du dich noch an unser letztes Treffen vor Weihnachten. Ich dachte laut darüber nach, ob es nicht Zeit sei für eine amerikanische Friedensinitiative, weil doch die Deutschen mit den Russen am 15. Dezember einen Waffenstillstand ausgehandelt hatten.“

„Sicher erinnere ich mich. Die Briten sagen uns bei jeder Gelegenheit: Alles nicht so schlimm. Die Russen scheiden nicht aus! Die Bolschewiki sind bald abserviert und dann werden die Menschewiki die Front wieder stabilisieren und weiter kämpfen, weil die Deutschen sonst bald in Petrograd stehen. Lieber Woodrow, mir stellen sich bei diesem Getöse immer die Nackenhaare auf! Optimismus ist gut und schön, reiner Zweckoptimismus ruft dagegen meine Aversion hervor. Was passiert denn, wenn sich Lenin noch hält und dann genau anders herum vorgeht: Frieden schließen, damit es ihm gelingt, im Rest Russlands, das ihm nach allen direkten oder auch verdeckten Annexionen der Kaiserlichen aus Berlin noch bleibt, die Macht zu behaupten?“

„Guter Gedanke, Bobby. Ich saß über Weihnachten am Schreibtisch und grübelte. Da kam mir dieser Gedanke ebenfalls. Ich fand ihn beunruhigend. Ich will verhindern, dass die Deutschen uns im Frühjahr angreifen werden, mit kampfstarken Truppen, die sie im Osten abgezogen haben.“

„Dann musst du ihnen ein Angebot machen, dass sich substanziell von dem rhetorischen Pallawer der letzten Monate seit unserem Kriegseintritt unterscheidet! Es sollte so ausgewogen sein, dass die Deutschen ernsthaft darüber nachdenken, auf der Basis zu verhandeln und unsere Verbündeten gleichzeitig keinen Vorwand geliefert bekommen, ihrerseits das Angebot abzulehnen.“