1918 - Wilhelm und Wilson

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„Ich danke ihnen sehr für ihr uneingeschränktes Vertrauen, kaiserliche Hoheit. Sie können sich jetzt und in Zukunft immer auf mich verlassen!”

„Das weiß ich, verehrter Herr Doktor. Nun lassen sie mich aber noch die Wissenslücke bei ihnen schließen, damit sich der gestrige Kronrat auch vollends erklärt.

Seine Majestät, der Kaiser, nahm nämlich nach seinem herrischen Auftritt doch die Verteidigung auf. Die Ernennung Graf Hertlings zum Reichskanzler sei eine aktive Tat gewesen, von der er sich eine starke Regierung und die Erringung des Friedens erwarte. Zwar habe die Mobilisierung der Kriegswirtschaft im zurückliegenden Jahr nicht ganz die erwünschten Fortschritte gemacht, doch der Feind sei weiter zurückgefallen. Demgegenüber gehe die Strategie zu Russland vollkommen auf: Lenin stifte nicht mehr nur erfolgreich Unruhe, er sitze jetzt gar in der Regierung und müsse seinen Worten vom Vorrang des Friedens vor allen anderen Zielen der Revolutionsregierung Taten folgen lassen. Seine Majestät der Kaiser sei sich mit Hindenburg und Ludendorff bei deren letztem Besuch in Berlin vor erst einer Woche einig darin gewesen, dass wir über den Osten endlich wieder Bewegung in die Westfront bringen werden. Nötig sei dafür natürlich der Fortbestand des Burgfriedens. Wir könnten jetzt einfach keine Arbeitermassen gebrauchen, die nach dem Frieden im Osten den Verhandlungsfrieden auf Basis des Status quo ante im Westen fordern und in den Bummelstreik treten würden.

Sie können sich vorstellen, lieber Doktor Stresemann, damit hatte ich nicht ganz gerechnet. Einen guten Teil dessen, was ich für die Gegenwart und das Jahr 1918 von meinem Vater als Conclusio meiner Vorrede verlangen wollte, nahm er mir da gerade vorweg. Und noch bevor ich meine Gedanken neu geordnet bekam, preschte der alte Herr mit einer Initiative vor, der ich ohne Vorbehalte zustimmen wollte. Der Kaiser sagte nur noch kurz und knapp:

`Es ist Weihnacht, lieber Willi, Hindenburg reist nach dem Fest wieder von Ostpreußen nach Westen und kommt durch Berlin. Ludendorff und der Reichskanzler und Staatssekretär Kühlmann sind ohnehin hier. Ich lade jetzt für einen Tag nach Neujahr zum Kronrat ein und du bist mit dabei! Wir werden der zivilen und der militärischen Reichsleitung klare Vorgaben machen. Wie soll der Krieg im Osten beendet werden? Wie mobilisieren wir alle Kräfte für die letzte, entscheidende Offensive im Westen? Mit welchen Zielen zwingen wir Frankreich und England danach an den Verhandlungstisch?`”

„Kaiserliche Hoheit, nun beginne ich zu ahnen, warum sie mich heute hierher bestellt haben. Sie haben gestern Kronrat gehalten. Der Kronrat hat Beschlüsse gefasst. Doch die Regierung kann nicht über alles entscheiden, das für die Wehrhaftigkeit Deutschlands im neuen, im hoffentlich letzten Kriegsjahr 1918 ausschlaggebend sein wird. Möchten sie mit mir da eher über die Kriegsziele oder aber über die innenpolitische Lage und die Bereitwilligkeit der Reichstagsfraktionen zur Fortsetzung aller kriegerischen Anstrengungen unter dem Schirm des Burgfriedens sprechen?”

„Sehr scharfsinnig, mein lieber Doktor Stresemann! Irgendwie natürlich über beides. Doch wenn unser Plan aufgeht und der Sieg im Westen errungen wird, ja dann sind die Einigung über die Kriegsziele zwischen den Ruhrbaronen und der übrigen Industrie sowie eine gleiche Vereinbarung zwischen der OHL und Reichskanzler Graf Hertling nicht unser Hauptproblem. - Obwohl ich inzwischen weiß, dass sie eine Skepsis gegenüber der Zuversicht auf einen vollständigen militärischen Sieg zurückbehalten, werden wir in den kommenden Monaten auf dem erfolgreichen Wege unserer weiteren Kriegführung zuerst in Russland, dann aber in Frankreich noch genügend Zeit finden, einen Frieden zu schließen, der Deutschland nicht für Jahrzehnte zum verhassten Hegemon des Kontinents macht. Tatsächlich sollten wir unsere Vormachtstellung in Europa in das moderne Kleid von nationaler Selbstbestimmung und Völkerverständigung wandeln. Dabei dürfen sie durchaus auf mich zählen, lieber Doktor Stresemann. Soweit reicht mein Angebot am heutigen Abend. Es hat zum Gegenstand, dass wir beide hier im neuen Jahr zu einem ganz persönlichen Zweierbündnis gelangen und uns in die Hände spielen werden. Je länger Hugenberg und Ludendorff davon nichts wissen und es nicht einmal ahnen, umso wertvoller wird diese Übereinkunft sein!”

Mein Herz schlägt laut und feste. Der Kronprinz bietet mir eine geheime Übereinkunft an, die den Interessen des Friedens, des freien Handels, damit der Exportwirtschaft und sogar manchen Interessen der demokratischen Fraktionen im Reichstag förderlich sein dürfte. Für eine lange Sekunde schwelge ich in einem schönen Tagtraum: Ich bin das Scharnier, der Dreh- und Angelpunkt zwischen Scheidemann, Erzberger und Haußmann hier, Rathenau, Ballin und Duisberg dort, dem Kronprinzen und einigen anderen weitsichtigen Militärs, vielleicht Oberst Bauer darunter, auf der dritten Seite. Uns gelingt es gemeinsam, die OHL, die Schwerindustrie und das konservative Junkertum im entscheidenden Moment, nämlich wenn der Westen nach unserer Westoffensive um Frieden nachsuchen muss, ein kühnes Modell von einem neuen Europa durchzusetzen. In dieser kühnen Vision wird das Reich die unbestrittene wirtschaftliche und militärische Vormacht sein. Doch zugleich werden die Völker des Kontinents eine Zollunion eingehen und eine Partnerschaft vereinbaren, die irgendwie das herkömmliche Bündniswesen der Vergangenheit obsolet machen wird. Ich schüttele mich innerlich und streife meinen Tagtraum als zu optimistisch, als gefährlich naiv von mir ab. Ich zwinge mich dazu, Realist zu bleiben.

„Zum wiederholten Male, kaiserliche Hoheit: Ich danke ihnen für das unermessliche Vertrauen, das sie mir entgegen bringen. Ich danke ihnen auch für die noch ein wenig nebulöse Zielbeschreibung. Sie ist doppelt zutreffend. Einmal kann ich ihnen nämlich inhaltlich völlig zustimmen, zum anderen Mal legt die vage Formulierung offen, dass sie und ich heute noch nicht recht wissen, was zum Zollverein noch hinzutreten muss, damit Europa im weiteren 20. Jahrhundert ein Hort der Stabilität, des Wohlstandes und der Macht in der Welt wird. Diesbezüglich genügt mir völlig, wenn sie mir zusichern, dass wir zur rechten Zeit, vor der Aufnahme von Friedensverhandlungen, erneut und so oft wie nötig vertraulich unter vier Augen zusammen kommen.”

Kronprinz Wilhelm nickt deutlich und bekräftigt dies noch mit einem betont langsam vollzogenen Augenaufschlag.

„Sie haben mein Ehrenwort als Thronfolger der Krone der Hohenzollern, zukünftig der machtvollsten Dynastie der Erde, mein lieber Stresemann.“

Auf die pathetische Zusage seiner kaiserlichen Hoheit folgt eine Weile, die einzig und allein von den Blicken der in sich ruhenden Zuversicht, die wir uns zuwerfen, ausgefüllt wird.

„Darf ich denn dann zu den inneren Verhältnissen kommen, um deretwillen sie ja heute auch hier sind, wie sie so scharfsinnig geschlussfolgert haben? Graf Hertling, Staatssekretär Kühlmann und Generalquartiermeister Ludendorff haben sich beim Kronrat darin überboten zu betonen, dass die Wehrkraft des Reiches bei der großen Westoffensive in gleich mehrfachem Sinne von der Ruhe an der Heimatfront abhängen wird. Sie stimmten darin überein, die sozialistischen und die christlichen Gewerkschaften für Disziplin und fortgesetzte Arbeit in den Rüstungsfabriken gewinnen zu müssen. Sie zeigten sich aber abgesehen von pflaumenweichen Bekundungen ihrer Zuversicht in meinen Augen sehr hilflos, wie denn das Mitwirken der Arbeiterschaft erreicht werden sollte. Ich dachte sogleich an ihre Gespräche mit den Herren Scheidemann, Haußmann und Erzberger vom Frühjahr 1917, lieber Doktor Stresemann. Doch ich hielt mich zurück. Nicht nur, um unsere Zusammenkunft vom Mai zu schützen. Gerade auch, um hier und heute ungestört, allein mit ihnen darüber sinnieren zu können, wie es uns zum Wohle des Vaterlandes gelingen möge, den inneren Frieden zu wahren, um den äußeren erst noch zu gewinnen.”

Ich blicke dem Kronprinzen lange in die Augen. Ihm scheint das unangenehm zu werden, denn er lächelt und sieht dann weg, um zum Kognakschwenker zu greifen. Ich rätsele kurz, wie ungeschminkt ich meine Auffassung äußern soll. Dann weiß ich, diplomatisch formuliert zwar, doch es muss raus, was mir Sorgen bereitet.

„Euer kaiserliche Hoheit wissen sicher noch, welche Bedeutung die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes im Königreich Preußen für die demokratischen Fraktionen des Reichstags hat. Angesichts der zweiten Revolution in Russland, angesichts der zunehmenden Hoffnung auf einen Separatfrieden mit den Revolutionären geraten wir in sehr kritisches Fahrwasser. Millionen deutscher Arbeiter und Millionen ihrer Frauen sind kriegsmüde. Es bedarf nur eines kleinen Auslösers und die Stimmung schlägt gegen die Eliten der kaiserlichen Gesellschaft um. Ich sage ihnen jetzt im tiefsten Vertrauen: Selbstverständlich bin ich mit den Herren von den anderen Reichstagsfraktionen immer noch im unregelmäßig stattfindenden, aber irgendwie dann doch kontinuierlichen Austausch. Und Herr Scheidemann prophezeite Anfang Dezember, es werde im neuen Jahr Streiks geben. Diese Streiks könnten womöglich alles bisher Gekannte in den Schatten stellen. Falls das zutreffen sollte, bekommen wir sehr viel schneller als uns lieb sein kann jene innenpolitische Situation, vor der sie sich zu Recht fürchten. Und die kann Ludendorff mit den bisher von ihm gewählten Mitteln im Rahmen des Hilfsdienstgesetzes - also ein wenig Zuckerbrot und ein wenig mehr Peitsche - einfach nicht entschärfen.”

„Hugenberg und Stinnes sehen das anders, das wissen sie doch, Doktor Stresemann, oder?”

„Aber natürlich, die Ruhrbarone streben nach dem engsten Schulterschlusse mit der Heeresleitung und den Armeekommandos zu Hause. Jeder Arbeiter, der streikt oder aufwiegelt, solle ohne zu Zögern eingezogen werden. Die Herren Zechendirektoren und Stahlindustriellen glauben allen Ernstes, damit jetzt und sogar in der Nachkriegszeit ihre Macht in den Betrieben auf Dauer festschreiben zu können. Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass dies funktionieren wird, und vor allem nicht, dass wir es uns erlauben dürften, dieses Risiko einzugehen und einen großen Arbeitskampf heraufzubeschwören, wenn unsere Landser an der Front auf gefüllte Munitionsarsenale für den Angriff warten. Denn eines ist klar: Der Soldat wird nicht mit voller Leidenschaft für sein Vaterland kämpfen, wenn seine Arbeitskollegen von 1914 im Ausstand sind. Deshalb klingen die Reden der Herren Stinnes, Hugenberg und Konsorten sehr selbstbewusst und stichhaltig, überzeugen werden sie mich aber und mit mir die Vertreter der demokratischen Fraktionen im hohen Hause nicht. Was nützt ihnen dann ein gewonnener Arbeitskampf, wenn darüber die Mehrheit des Reichstags ihre Friedensstrategie einschließlich der großen Offensive im Westen offen ablehnt? Kaiserliche Hoheit, haben Ludendorff und Stinnes daran wohl auch gedacht?”

 

Kronprinz Wilhelm lächelt überlegen.

„Sie haben vollkommen Recht, was ihre Einschätzung der inneren Verhältnisse im Reich betrifft. Deshalb ist es mir ja so wichtig, dieses Gespräch mit ihnen zu führen, lieber Doktor Stresemann. Ich schätze ihren scharfen und schonungslos analysierenden Verstand. Und ich setze auf ihre sehr guten Kontakte zu allen politischen Kräften in unserem Reichstag. Es ist an der Zeit offen zu legen, was ich mir von ihnen wünsche und erhoffe: Sie sind der einzige Politiker in Deutschland, der fest auf dem Boden vaterländischer Werte steht und der zugleich über den vertraulichen Zugang zu den führenden Vertretern der demokratischen Parteien verfügt. Deshalb sind sie auch der einzige, der im ersten Schritt über das nötige Wissen verfügt, um erkennen zu können, auf welchem Wege die Herren Scheidemann und Erzberger vielleicht zu einer Mitwirkung an unserem Friedensplan für 1918 bewogen werden können. In einem zweiten Schritt wären sie dann wiederum der einzige, der bei den Herren der demokratischen Fraktionen über das nötige Vertrauen verfügte, in Gesprächen vielleicht sogar ihre Kooperation zu erreichen. Das ist der wahre Grund, warum ich es bereits vor Kenntnis der genauen Ergebnisse des Kronrats als unabdingbar beurteilt habe, das vertrauensvolle Gespräch mit ihnen zu suchen.”

Der Kronprinz legt eine Kunstpause in seiner Erläuterung ein. Er erwartet von mir wohl kaum einen Widerspruch, kaum eine Erwiderung oder Antwort. Vielmehr ringt er offenbar um die richtigen Worte, um sein Anliegen en Detail vorzubringen.

„Die sozialistisch gesinnten Arbeiter blicken seit März 1917 aufmerksam nach Petersburg und Moskau. Der dort erhobene Ruf nach einem Frieden ohne Sieger findet auch in Deutschland viel Zuspruch. Doch es braucht gar nicht einmal der sozialistischen Überzeugung dazu. Ich ganz persönlich werte Erzbergers Friedensresolution vom Juli als eine kleine Verzweiflungstat. Denn auch Erzberger musste bemerken, wie sehr seine katholischen Arbeiter unwillig wurden, Entbehrungen für die Fortsetzung des Kampfes auf sich zu nehmen. Dieser bitteren Wahrheit haben sie und ich, lieber Stresemann, sich längst geöffnet. Gestern aber musste ich im Kronrat wieder einmal erleben, wie sehr die manches Mal all zu selbstbewussten Vertreter der alten preußischen Führungsschichten die Augen davor verschließen, wie sehr ihre Siegesplanung für 1918 auf völlig tönernen Füßen steht, falls die deutsche Arbeiterschaft ihnen die Gefolgschaft verweigerte und einen Generalstreik zur Erzwingung des Waffenstillstandes aufnähme. Der Generalquartiermeister beruhigt sich damit, seine Politik aus Zuckerbrot und Peitsche werde ihre Wirkung nicht verfehlen. Ludendorff setzt auf die Abschreckung einer möglichen Einziehung zum Heer in Kombination mit der erfolgreichen Wirkung unserer Propaganda, ein Friedensersuchen unsererseits werde die Feinde nur in ihrer Überzeugung bestärken, uns doch noch besiegen zu können. Gerade die Franzosen seien unendlich weit davon entfernt, von ihren eigenen maßlosen Forderungen Abstand zu nehmen. Also sind sie und ich vielleicht die einzigen aus dem Kreise jener Deutschen, die über Einfluss verfügen und die gleichzeitig längst erkannt haben, dass wir auf die Führer der Arbeiterschaft aktiv zugehen müssen, um dem Sieg den Weg zu ebnen. Wollen sie das gemeinsam mit mir unternehmen, lieber Doktor Stresemann?”

Lange Zeit zum Nachdenken brauche ich tatsächlich nicht. Denn innerlich gebe ich dem Kronprinzen bei jedem einzelnen seiner Worte vollständig Recht. Allerdings bedeutet es eines, zu erkennen welcher Versäumnisse sich die Militärs schuldig machen, und etwas gänzlich anderes, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Ich stelle mir soeben vor, in der bekannten Viererrunde vom Frühjahr 1917 mit Erzberger, Scheidemann und Haußmann gemeinsam und zugleich höchst geheim darüber zu beraten, dass ihre Parteien und die ihnen nahe stehenden Gewerkschaften für eine Fortsetzung des Kampfes votieren sollen, weil ihnen dann nicht nur der Sieg, sondern zugleich einige schmackhafte Zugeständnisse im Inneren winken. Der Gedanke erscheint mir gleichermaßen verlockend und absurd. Wie soll ein Zugehen auf die Kollegen nur aussehen?

„Kaiserliche Hoheit, sie scheinen im Ansatz die Dimension der Aufgabe zu erahnen, die da vor uns liegt. Dass es unsere gemeinsame Aufgabe wird, dass ich alles dafür tun will, mit eurer Hoheit für einen guten Sieg und eine stabile Gesellschaft im Inneren zu kämpfen, dass versteht sich für mich von selbst. Jeder gut vaterländisch gesinnte Deutsche hat sein Bestes zu geben, wenn die Krone ihn in der Stunde der Not und der Herausforderung ruft!”

Der Kronprinz nickt anerkennend. Unterbrechen möchte er mich augenscheinlich nicht. Dennoch macht er eine kurze Bemerkung.

„Kein Zweifel kam mir daran, auf ihre Hilfe und ihre Gesinnung vollkommen zählen zu können.”

„Was die Sache selber betrifft, kaiserliche Hoheit, liegt es mir völlig fern, ihnen vorgeblich nach dem Munde zu reden, die Größe der Herausforderung herunterzuspielen. Da sie mich in der Vertraulichkeit unseres heutigen Treffens zu sich gerufen haben, werden sie die Kraft und die Geduld und die Konzentration aufbringen, meiner Einschätzung und meinen Empfehlungen zu lauschen.”

Die Spur von Ironie, die man in die Worte Konzentration und lauschen hinein legen könnte, ist von mir gar nicht bewusst gewählt und daher auch bestimmt nicht abfällig gemeint. Das ändert selbstverständlich nichts daran, dass der Kronprinz die Spitzen meiner Worte wahrnimmt, ohne mir dies allerdings im Geringsten übel zu nehmen. Im Gegenteil lächelt er.

„Das dürfen sie tatsächlich von mir erwarten. Bei der Größe der von mir geäußerten Bitte um Mithilfe dürfen sie jetzt und immerdar von mir verlangen, ihnen aufmerksam und so lange wie nötig zuzuhören.”

„Beginnen wir bei Herrn Erzberger. Die christlichen Gewerkschaften haben zwar nicht ganz so viele Mitglieder wie die sozialistischen. Bis vor dem Krieg jedoch zeigten sie sich Appellen an ihre vaterländische Verantwortung gegenüber stets aufgeschlossener als die Konkurrenz. Also haben wir sicher eine realistische Möglichkeit, über die Reichstagsfraktion des Zentrums auf die Streikneigung der Christlichen Einfluss zu nehmen. Herr Erzberger speziell ist hingegen nicht so naiv, uns seine Unterstützung anzubieten ohne handfeste Gegenleistungen. Zwar liegt ihm vielleicht mehr am Verhandlungsfrieden als am gleichen Wahlrecht in Preußen. Er wird aber sogleich erkennen, dass seine Friedensidee obsolet ist, sobald wir in Russland siegen. Folglich wird er zwei Dinge gleichzeitig fordern: Erstens sollen wir sicherlich trotz der militärischen Erfolge den Bogen an Kriegszielen nicht überspannen. Zweitens wird er seine Kooperation von einer Einführung des gleichen Wahlrechts ausdrücklich vor dem Kriegsende abhängig machen.”

„Sie sagen das sehr gelassen, lieber Doktor Stresemann. Ich möchte daraus beinahe schließen, dass sie seiner Forderung womöglich zustimmen könnten. Sagen sie mir dazu bitte mehr, denn ich sehe voraus, dass insbesondere die Herren Scheidemann und Ebert noch unversöhnlicher auf dem gleichen Wahlrecht in Preußen bestehen werden.”

„Kaiserliche Hoheit, sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Ganz gewiss werden die beiden Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokratie uns keinen Zentimeter entgegenkommen, ohne dass beim Wahlrecht der Durchbruch geschafft sein wird. Falls sie aber nun annehmen, ich sähe das ganz gelassen und würde der Forderung sofort nachgeben, interpretieren sie meine nüchterne Schilderung fehl. Der Grund für meine Ausgeglichenheit ist ein anderer. Ich kann mir sehr wohl eine Lösung vorstellen, die es den Herren Scheidemann, Erzberger und Haußmann ebenso ermöglichte zuzustimmen wie sie dasselbe Graf Hertling, ihnen oder sogar ihrem Herrn Vater erlaubte.”

„Jetzt haben sie mich neugierig gemacht. Immer heraus damit!”

„Ja, es gibt da einen Weg. Stellen sie sich vor, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts fände unmittelbar, sagen wir zum 1. Februar oder zum 1. März statt, und zugleich hätte das überhaupt keine Auswirkungen auf die weitere innere Lage, keinerlei Folgen für die Position der vaterländischen Parteien. Ich bin sicher, sie wollen mehr erfahren.”

„Aber selbstverständlich, heraus damit.”

„Nun, kaiserliche Hoheit, meine Lösung bestünde darin, das gleiche Wahlrecht in Preußen sofort einzuführen, doch die Durchführung von Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus auf die Zeit nach dem Waffenstillstand zu vertagen. Und sodann würde ich noch eines darauf setzen: Diese verbindliche Aussage für die Zukunft würde ich feierlich im Reichstag durch Seine Majestät, durch den Reichskanzler in seiner Eigenschaft als preußischer Ministerpräsident und dann durch alle Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien sowie aller weiterer Parteien, die daran mitwirken wollen, unterzeichnen lassen. Ich kann mir keine wirkungsvollere, machtvollere Demonstration der Einigkeit und der Stärke der deutschen Gesellschaft im Kriege vorstellen. Sollen doch die Blätter des Westens ihre Korrespondenten zu jenem feierlichen Akt entsenden und in ihre Heimatländer berichten, wie einig das deutsche Volk hinter Kaiser, Armee und Regierung stehe.”

„Ein wahrlich genialer Gedanke, lieber Doktor Stresemann! Im Gegenzug für das Entgegenkommen der kaiserlichen Regierung würden die Führer der demokratischen Parteien nach Rücksprachen mit den ihnen nahe stehenden Gewerkschaftsorganisationen im vertraulichen Termin zusichern, den Arbeitsfrieden im Rahmen ihrer Möglichkeiten umfassend zu schützen. Das bedeutete also: keine Streiks, keine Demonstrationen der Solidarität mit der russischen Regierung, keine Demonstrationen mehr für einen Krieg ohne Annexionen und Kontributionen! Eine herrliche Vorstellung!”

„Tatsächlich ist das eine wunderbare Vorstellung. Doch ganz so einfach wird uns die Übereinkunft mit den demokratischen Parteien nicht gemacht. Denn einen Verzicht auf spontane oder auch organisierte Demonstrationen für den Frieden wird kaum jemand aussprechen. In wessen Macht sollte es denn liegen, spontane Ausbrüche der Volksmeinung zu verhindern, falls zum Beispiel die bolschewistische Regierung in Moskau öffentlich erklärte, sie verzichte auf den Einfluss über fremde Völker, die einst unter der Knute der Zaren gestanden hätten, wie zum Beispiel der Polen und Finnen, der Balten und möglichst auch der Ukrainer? Scheidemann und Ebert sind da nach meiner Erfahrung zu Recht sehr vorsichtig. Sie wissen nur zu gut, dass die radikaleren Vertreter ihrer Partei, wie Herr Liebknecht oder auch Frau Luxemburg, die Volksstimmung durchaus erfolgreich anzuheizen vermögen.

Und was die christlichen Gewerkschaften betrifft, ist die Zentrumspartei noch weitaus mehr als die Sozialdemokratie darauf bedacht, die formale Unabhängigkeit von Partei und Gewerkschaftsbewegung zu wahren und nach außen zu tragen. Alles andere würden die bürgerlichen Gruppen im Zentrum niemals tolerieren. Also wird die Reichstagsfraktion unter Erzberger nicht offen für ein Stillhalten der christlichen Gewerkschaften eintreten. Als Erkenntnis bleibt da nur Folgendes: Gespräche hinter den Kulissen zwischen den einschlägigen Parteiführungen mit den Gewerkschaftsspitzen sind das einzig denkbare Instrument, um Einfluss auf die Stimmung in den Betrieben zu nehmen.“

Ich mache eine Pause, überlege kurz und finde den neuen Gedanken sehr wohl bestechend.

„Es gibt aber sicher ergänzend die Möglichkeit, mit den Parteien über eine öffentliche Positionierung zum Burgfrieden zu sprechen.“

Der Kronprinz stutzt, scheint meine Worte auszuwerten und fragt schließlich nach.

 

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie da richtig verstanden habe, lieber Doktor Stresemann. Seitdem in Russland Revolution herrscht und seitdem die Reichstagsmehrheit letzten Juli die Friedensresolution beschlossen hat, steht der Burgfrieden doch eher nur noch auf dem Papier. Wie wollen sie denn da erreichen, dass der Geist des Augusts 1914 wieder belebt werden könnte?“

„Na, ich bin da etwas optimistischer als sie, kaiserliche Hoheit.

Wäre der vaterländische Geist von 1914 gänzlich verflogen, dann wäre das Jahr 1917 anders zu Ende gegangen! Ich möchte nur in Erinnerung rufen, dass Deutschland kaum Streiks erlebt hat, ganz anders als etwa Frankreich. Woran aber liegt das? Das liegt, da bin ich mir absolut sicher, an der hohen Tugend der Pflichterfüllung, die nicht nur beim deutschen Bürger, sondern auch beim deutschen Arbeiter gepflegt wird. Das liegt zusätzlich an der vaterländischen Gesinnung unserer Arbeiter, selbst dann, wenn sie die auch international eingestellte Sozialdemokratie wählen. Und das liegt drittens an der Treue zu Kaiser und Reich, wenn es ernst wird, und zwar bei allen drei demokratischen Parteien. – Kaiserliche Hoheit, es ist am Ende doch einzig und allein die Unabhängige Sozialdemokratie, die sich den Erfordernissen zum Schutz unseres Reiches vor seinen äußeren Feinden geradezu demonstrativ, ja mutwillig entzieht!“

„Wohl denn, lieber Doktor Stresemann, ihre Worte in Gottes Ohr! Anders als sie die innenpolitische Gesamtlage beurteilen, bin ich in einem Punkt näher bei Generalquartiermeister Ludendorff: Mit der Friedensresolution des Reichstags haben die Arbeiterparteien Zentrum und SPD einen wesentlichen Aspekt des Burgfriedens aufgekündigt, nämlich die Zustimmung zu Kriegszielen, die Deutschland in Europa nach diesem Kriege sicherer machen als vorher. Diese Grundhaltung aber müssen wir irgendwie rückgängig machen, um den nötigen inneren Frieden für die große Offensive im Westen und deren Ausstattung mit Waffen und Munition zu gewährleisten.“

„Genauso ist es, kaiserliche Hoheit. Das können wir schaffen, aber keinesfalls nur mit schönen Worten. Wir müssen die Demokraten nicht als unsere Gegner betrachten und behandeln, sondern als nationale Partner zur Gestaltung einer guten Zukunft. Wir müssen Zentrum und SPD gegenüber eines offen zum Ausdruck bringen: Ihr seid nicht mehr die Außenstehenden in dieser Nation, wie das noch zu den Zeiten des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes der Fall war! Ab heute seid ihr endgültig Teil der Willensbildung, der Gemeinschaft unseres Volkes, Teil der politischen Kräfte, deren Ziele die Reichsregierung zu erfüllen trachtet. Das ist der alles entscheidende Punkt, euer Hoheit. Und dafür gibt es nur einen Weg. Wir von den führenden Kreisen der Berliner Gesellschaft, das heißt eigentlich Seine Majestät der Kaiser und dessen Reichskanzler, müssen am besten für Zentrum und SPD jeweils ein lebenswichtiges, in die eigene Anhängerschaft überzeugend hineinwirkendes Zugeständnis machen. Und dann müssen wir sagen: Das gilt auch noch nach dem Krieg und wird nicht mehr zurückgedreht! Weder von den Herren Konservativen im Preußischen Abgeordnetenhaus noch von den Herren Exzellenzen Militärs in der Obersten Heeresleitung, und auch nicht von den Herren Stahlbaronen an der Ruhr.“

Ich bin bei meinem Vortag etwas laut geworden, so engagiert habe ich meine Überzeugung vorgetragen. Jetzt will ich mich wieder zurücknehmen und verschnaufe für einen Moment. Der Kronprinz lächelt. Er hat natürlich gemerkt, dass er mich jetzt in volle Fahrt gebracht hat. Das gefällt ihm augenscheinlich. Außerdem deutet sein verschmitztes Lächeln an, dass er glaubt, mich und meine weiteren Absichten durchschaut zu haben.

„Herr Doktor Stresemann, also haben sie schon eine sehr genaue Vorstellung davon, wie wir das machen sollten, die beiden Arbeiterparteien zu gewinnen, sie geradezu in die Gruppe der staatstragenden Parteien aufzunehmen. Meine Güte, wenn ich diese Zielsetzung meinem Vater oder Ludendorff oder Stinnes ausbreite, dann halten die mich für komplett verrückt geworden! Aber gut. Ich begreife, lieber Doktor Stresemann, dass sie für die Zukunft eine andere deutsche Gesellschaft wollen, und dass sie diese neue, modernere Gesellschaft für vereinbar erachten mit dem Kaisertum, mit den Tugenden des deutschen Beamten, der preußischen Armee und der streng lutherischprotestantischen Gottesfurcht.

Also bitte, damit ich mich nicht irrigen Vermutungen hingebe: Was wäre ihr Angebot an die Herren Erzberger und Ebert und Scheidemann, ja wenn sie der Kaiser wären, wenn sie so ganz alleine zu entscheiden hätten?“

Die Formulierung des Kronprinzen belustigt mich und dennoch ist sie verlockend. Sie steigert meine Einschätzung über dieses Treffen als höchst vertrauliche und konspirative Sitzung.

„Ich versetze mich in die Lage meines Gegenübers, kaiserliche Hoheit. Ich beginne bei Herrn Erzberger, weil die Konstellation der Interessen diesbezüglich einfacher ist. Herr Erzberger steht in seiner Partei und in der deutschen Öffentlichkeit für die Friedensresolution und für das gleiche Wahlrecht in Preußen. Also sollte er eines seiner beiden Ziele erreichen. Dann kann er sein Gesicht wahren und den von uns gewünschten Einfluss auf die eigene Anhängerschaft zur Geltung bringen.“

Kronprinz Wilhelm nickt und wirft kurz ein:

„Der Friede ohne Erwerbungen wird es ja nun nicht mehr sein.“

„Eben, also benötigen Erzberger und wir eine Übereinkunft zum Wahlrecht. Da müssen wir es schaffen, dass die Regierung Seiner Majestät in dem schon vorher von mir besagten Sinne eine Gesetzesänderung in den Reichstag einbringt, die für die nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus gilt und diese Wahlen binnen drei - nein besser binnen sechs - Monaten nach Friedensschluss zusagt. Denn wer von uns will heute schon wissen, wie viel Zeit die Rückführung unserer ruhmreichen Truppen aus Frankreich und Belgien in Anspruch nehmen wird?“

„Eine konkrete, eine kühne Aussage, Herr Doktor Stresemann. Mit dieser Zielsetzung gehe ich aber nicht alleine zu meinem älteren Herren und Graf Hertling! Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt, getragen von der Euphorie des gestrigen Kronrates und der Erwartungen in Bezug auf Russland, politisch vollkommen lebensmüde! Also müssen wir beide uns in aller Ruhe etwas einfallen lassen, wie wir überzeugen können.“

„Das geht in Ordnung kaiserliche Hoheit. Ich bin gerne bereit, sie zu dieser Unterredung zu begleiten. So eilig ist es damit ja noch nicht, denn die Belastungsprobe für die innere Einheit im Reich kommt ja erst, wenn der Friede mit den Russen zustande kommt. Dann allerdings muss die Regierung sofort handeln, bevor die USPD oder andere mit politischen Forderungen aufwarten. Verpassen wir diesen Zeitpunkt, quasi gleichzeitig mit der Friedensmeldung nach vorne zu gehen, verpuffte fast der gesamte gewünschte Effekt: Die Arbeiterschaft erhielte den Eindruck, Seine Majestät handelte erst dann, wenn er durch öffentliche Forderungen dazu gedrängt werde.“

„D`Accord!“

Der Kronprinz lässt die weiche französische Intonation mit sichtlichem Genuss förmlich von seiner Zunge perlen.

„Lieber Doktor Stresemann. Ich erfahre wohl binnen einer Woche, ob die Russen an den Verhandlungstisch in Brest zurückkehren und der Friede kurz bevorsteht. Dann suche ich sofort um ein Gespräch beim Kaiser nach.“