Machtspiel

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4.

In Gedanken verloren zog Chloe ihre Joggingkleider an. Stets plagten sie die gleichen Fragen. Wo war ihre Schwester und was war geschehen?

Letzte Nacht war eine angenehme Sommernacht. Nach dem heissen, sonnigen Tag und nach dem stickigen Club, lud die kühle Luft einen ein, noch etwas draussen zu bleiben. Es war aber bereits nach ein Uhr, als die beiden Frauen aus dem Tanzclub liefen. Warum also bestand Dana darauf noch einen Spaziergang zu machen? Es musste doch einen Grund dafür geben? Auch deshalb, weil sie alleine sein wollte und Chloes Gesellschaft vehement ablehnte.

Eigenartigerweise waren ihre Gedanken nicht nur bei Ihrer Schwester, sondern auch bei diesem grossen, muskulösen Polizisten, mit den leuchtenden, blauen Augen. Warum schwirrte er in ihrem Kopf herum? Sie hatte sich geschworen, dass sie keinen Mann mehr zu nahe an sich heranlassen würde. Denn das was sie bei ihrer letzten Beziehung durchgemacht hatte, brauchte sie auf keinen Fall nochmal zu erleben.

Chloe zog die Schnürsenkel der Turnschuhe zu und machte sich auf den Weg zu ihrer täglichen Joggingrunde. Ihre Route führte durch den nahegelegenen Wald, die zwischen fünf und zehn Kilometer betrug. Heute war ihr nach einer längeren Strecke zumute. Sie musste ihre Gedanken und Gefühle ordnen, so zerstreut wie sie war. Für das war in der Regel der Sport ihre beste Waffe.

Als sie bereits eine Weile unterwegs war, hörte sie plötzlich ihren Namen.

„Chloe Kramer? “ Sie rannte zuerst weiter, da sie dachte, sie hätte sich verhört. Doch gleich darauf tauchte ein Mann neben ihr auf.

„Herr Lunardi! Was für ein Zufall Sie hier zu treffen. Joggen Sie immer diesen Weg?“

„Eigentlich schon. Meistens nicht um diese Zeit.“ und zeigte auf seine Uhr.

Chloe stellte erst jetzt fest, dass es kaum sechs Uhr am morgen früh war. Dazu noch an einem Samstag. Die meisten Leute waren noch in ihren Betten und würden erst später unterwegs sein.

Schweigsam rannten sie nebeneinander weiter. Zuerst nahm Chloe an, dass es ihr Missfallen würde, wenn Raul weiterhin neben ihr her jogge. Doch zu ihrem Erstaunen musste sie sich eingestehen, dass es ganz und gar nicht der Fall war. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe.

Der Polizist schaute die Frau neben sich verstohlen an. Sie hatte einen schönen, sportlichen Körper, musste er feststellen. Ihr Gesicht besass einen dunklen Teint, was sie ein wenig exotisch aussehen liess. Die Nase war etwas klein, aber sexy. Was ihn ebenfalls beeindruckte war, dass sie ohne Mühe mit seinem Tempo Schritt halten konnte. Er musste sich von ihrem Anblick losreissen und sich wieder auf den Weg konzentrieren.

Nach kurzer Zeit brach Raul das Schweigen. „Geht es Ihnen etwas besser?“

„Der Sport hilft mir meistens, den Kopf frei zu bekommen. Momentan geniesse ich die frische Luft. Ich nehme an, dass das nur von kurzer Dauer sein wird. Ich frage mich dauernd, weshalb Dana noch nicht nach Hause gehen, sondern lieber noch spazieren wollte? Warum habe ich sie nicht davon abgehalten und sie einfach vor der Tür abgesetzt? Nur leider finde ich keine Antwort auf all das.“

„Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ihre Schwester ist eine erwachsene Person und weiss selbst, was sie möchte und was nicht. Wie gesagt, ich werde helfen, wo ich kann, Frau Kramer.“

„Ich weiss das zu schätzen. Vielen herzlichen Dank.“

„Ich muss hier vorne nach links. Gehen Sie später nochmals zu Finn? “

„Ja, ich denke schon. Ich möchte nicht, dass er alleine ist und zusammen kommen wir vielleicht, mit der Suche nach Dana, einen Schritt weiter.“ kaum redete sie von ihrer Schwester, bekam sie weiche Knie. Raul musste das bemerkt haben, denn er sah sie mit besorgten Augen an.

„Soll ich Sie nach Hause begleiten?“

„Ich danke Ihnen, aber ich möchte Sie nicht länger aufhalten. Sie haben genug um die Ohren.“

Lunardi sah sie befangen an. Als er seinen Mund öffnete, um etwas zu erwidern, meinte sie, dass er sich keine Sorgen um sie machen müsse. Es gehe ihr schon wieder besser.

Mit einem mulmigen Gefühl verabschiedete er sich von ihr und bog nach links ab, während sie weiter geradeaus joggte.

Finn befand sich in seinem Arbeitszimmer, als er Chloe seinen Namen rufen hörte.

„Ich bin im Büro.“ gab er zurück.

„Bist du an deiner Liste?" fragte sie, als sie hereinkam.

„Ich bin alle diese Akten durchgegangen." er deutete neben sich.

Chloe betrachtete die Unordnung auf Finns Schreibtisch. Alles war mit Mappen übersät.

Er war unterdessen in der Staatsanwaltschaft, die ihren Standort in Emmenbrücke hatte, und holte einige Akten seiner abgeschlossenen Fälle.

„Kommt für dich irgendwer in Frage, dem du eine Entführung zutrauen würdest?"

„Eigentlich nicht. Ich hatte bereits ganz verschiedene Straftäter. Zum Beispiel mussten einige wegen ihrer Raserei am Steuer, die einen tödlichen Unfall begangen hatten, vor Gericht. Die schliesse ich grundsätzlich aus. Einige kamen mit dem Drogenhandel in Berührung. Von denen einer erst vor drei Wochen entlassen wurde. Ich habe etliche Vergewaltigungstäter verurteilt. Jemand kam vor wenigen Tagen frei, zwei vor sechs Monaten und einige sind zwischen zwei und drei Jahren auf freiem Fuss.

Weiter bin ich noch nicht gekommen. Häusliche Gewalt oder vorsätzliche Tötung gehören ebenfalls dazu. Ich muss nachher noch die restlichen Akten holen. Aber ob wirklich jemand von denen beschuldigen kann, kann ich mir kaum vorstellen. Wiederum können es auch alle sein. Wer weiss das schon." gedankenverloren schüttelte er leicht den Kopf.

„Kann ich dir irgendwie behilflich sein."

„Du könntest die Namen und Adressen, von denen die aus dem Gefängnis sind, notieren. Dann kann Raul im Büro überprüfen, ob sie noch unter dem angegebenem Wohnort zu finden sind und ob jemand von ihnen wieder straffällig wurde."

Chloe setzte sich auf der anderen Seite von Finn hin. Beide vertieften sich schweigend in ihre Aufgaben. Sie hörten nicht einmal die Klingel und das Eintreten von Raul. Erst als er vom Türrahmen her hallo sagte, schraken sie aus ihren Gedanken auf.

„Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn du die Alarmanlage einschalten würdest. Auch wenn du hier im Haus bist, Finn. Ihr habt mich nicht mal gehört, als ich vom Eingang her, gerufen habe." meinte Raul nachdenklich.

„Die habe ich ganz vergessen. Werde ich gleich erledigen. Ebenfalls sollten noch die Überwachungskameras repariert werden."

„Und warum stand das Gartentor offen?“ hakte Raul nach.

„Oh je!“ vor Schreck hielt Chloe die Hand an ihren Mund. „Das habe ich ganz vergessen zu schliessen! Wird nicht mehr passieren. Entschuldige Finn.“

„Ist schon okay Chloe. Mach dir keine Vorwürfe.“ beruhigte sie Winter.

„Ihr müsst vorsichtiger sein.“ fuhr Raul unbeirrt fort. „Wir haben keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben. Also bitte reisst euch zusammen.“

Chloe zuckte über Rauls schroffe Art zusammen und sah beunruhigt zu Finn, der sich nichts anmerken liess. Aber natürlich hatte der Polizist Recht. Sie mussten vorsichtiger sein.

„Soll ich bei der Sicherheitsfirma anrufen und einen Monteur kommen lassen, um die Kameras zu reparieren?" fragte sie mit möglichst ruhiger Stimme und hoffte, dass man ihre innere Unruhe nicht anmerkte.

„Ich wäre dir sehr dankbar dafür. Die Nummer findest du im orangen Ordner dort im Regal. Die Firma lautet Oppi Sicherheitstechnik."

Chloe erhob sich aus dem Stuhl und ging an Raul vorbei, der inzwischen Mitten im Büro stand, zum Büchergestell. Lunardi atmete ihren frischen Duft ein, der nach süssem Honig und Mandelöl roch. Dieser Geruch, diese langen, braunen Haare einfach himmlisch. Irritiert von seinen Gefühlsregungen blickte er zum Fenster hinaus, um nicht in Versuchung zu kommen, Chloe noch länger zu beobachten, wie sie sich nach dem Ordner streckte. Wie sich ihre Muskeln an den Beinen und ihrem Po anspannten. Er spürte, wie sich irgendwas in ihm regte. Nicht jetzt in dieser Situation, ermahnte er sich. Sie mussten die Frau seines besten Freundes finden. Da war seine Begierde völlig fehl am Platz.

Er konnte nicht anders und sah ihr nach, als sie mit dem Telefon in der Bibliothek verschwand, um die Sicherheitsfirma anzurufen.

Raul räusperte sich, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können und wandte sich an Finn.

„Meine Kollegin Eileen Banz und ihr Partner Otto Lutz von der Spurensicherung werden demnächst vorbeikommen, um alles zu untersuchen. Hoffentlich finden sie etwas.“

„Konnten Sie den Brief schon inspizieren?“

„Als ich im Büro war, hatten sie noch keine Ergebnisse. Ich denke, dass wir bald mehr wissen werden.“

„Denkst du, ich kann kurz in die Staatsanwaltschaft fahren, um die restlichen Akten zu holen? Diese hier habe ich alle durchgesehen und die Namen notiert, die auf freiem Fuss sind. Ich habe mindestens nochmals so viele im Archiv. Dazu werde ich noch meine laufende Fälle kontrollieren.“

„Ich werde hier bleiben und den Leuten die Tür öffnen. Nimm dir die Zeit die du brauchst.“

Chloe kam soeben zurück, als Finn und Raul die Akten zusammensammelten und in die Kartons verpackten, in denen Finn sie transportiert hatte.

„Ein Mann namens Lüthi wird heute Nachmittag vorbeikommen und sich die Überwachungskameras ansehen.“ äusserte Chloe.

„Ich bin dir sehr dankbar für deine Unterstützung Chloe.

„Mache ich gerne. So habe ich nicht das Gefühl, nutzlos rumzusitzen und kann mich von meinen Gedanken ablenken.“

 

„Geht mir auch so. Dann werde ich mal ins Büro fahren. Ihr erreicht mich auf meinem Handy.“ Finn lud alle Kartons in sein Auto und fuhr davon.

Raul sah Chloe an und fragte sie mit ruhiger Stimme „Können Sie mit jemandem über das was letzte Nacht passiert ist reden?“

Eigentlich stellte er diese Frage, um zu erfahren, ob es einen Mann an ihrer Seite gab und schämte sich sogleich dafür.

Chloe machte den Mund auf, um ihn gleich darauf wieder zu schliessen. Es kam kein Laut über ihre Lippen. Sie senkte ihren Kopf, damit Raul nicht sah, wie sie sich dagegen wehrte, nicht in Tränen auszubrechen. Wie sehr hätte sie eine Schulter zum Anlehnen gebraucht. Nur war da leider niemand, ausser ihrer Schwester.

Als sie aufsah, bemerkte sie den eindringlichen Blick von diesem gut gebauten Mann, mit seinen hellen Haaren.

„Was ist mit ihren Eltern?“ hörte sie Raul fragen.

„Mein Vater ist vor vier Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und meine Mutter ist schwer krank. Momentan liegt sie im Krankenhaus, wo sie für die nächste Zeit auch bleiben muss. Sie hat mit ihrer Erkrankung genug zu leiden, darum habe ich noch nichts über das Verschwinden von Dana erzählt. Ich bin sie nicht einmal besuchen gegangen. Es fehlt mir einfach die Kraft dazu.“ Chloes Stimme zitterte bei ihren letzten Worten und gab auf, gegen ihre Tränen anzukämpfen.

Noch bevor sie wusste, was geschah, stand Raul neben ihrem Stuhl und zog sie in Ihre Arme. Sie liess es ohne Widerstand zu, denn es war schon ziemlich lange her, seit sie ein Mann festhielt. Sie musste sich eingestehen, dass es sich sehr gut anfühlte, in solch einer starken Umarmung zu sein.

Raul spürte, wie ihr Körper von ihren Schluchzern bebte und hielt sie einfach nur fest. Sie standen einige Minuten engumschlungen da, bis sich Chloe versuchte von ihm zu lösen. Sie blickte verlegen zu ihm auf und wollte sich bereits entschuldigen, da spürte sie seine weichen Lippen auf den ihren. Chloe verstand nicht, was hier geschah und wollte sich zunächst wehren. Aber schliesslich gab sie sich diesem geschmeidigen und köstlichen Mund hin. Er küsste sie zuerst ganz zögerlich. Doch dann wurde er immer wilder und drängender. Seine Zunge kitzelte ihre Lippen und versuchte sanft in ihren Mund zu dringen. Er zog sie noch enger an sich, während seine Männlichkeit immer steifer wurde.

Ihr Verstand sagte ihr, dass sie von ihm Abstand nehmen müsse, aber ihr Körper empfand etwas ganz anderes. Sie schloss ihre Augen und es bahnte sich ein leiser Seufzer aus ihrer Kehle.

Ganz plötzlich liess Raul von ihr ab und machte einen Schritt zurück. Er schaute sie mit seinem benommen Blick an und atmete heftig ein, so dass sich sein Brustkorb hob und wieder senkte, als er die Luft langsam ausstiess.

„Es… es tut mir leid.“ hörte sich Chloe sagen.

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich weiss nicht, was mich geritten hat. Bitte verzeihen Sie mir.“ liess sie los und ging nochmals einen Schritt weg von ihr.

Chloes Herz raste vor Erregtheit und Wut. Sie starrte ihn verdattert an.

„Soll das heissen, es war ein Ausrutscher und kommt nicht mehr vor?“ fragte sie ihn mit beklommener Stimme.

„Ja, genau.“

Sie standen sich schweigend gegenüber. Niemand war fähig etwas zu sagen. Beide fuhren aus ihren wirren Gedanken auf, als es plötzlich klingelte.

„ Entschuldigen Sie bitte. Ich habe meine Beherrschung verloren.“ versicherte er ihr mit ruhiger Stimme und ging davon.

Chloe wusste nicht, wie ihr geschah. Sie war ziemlich niedergeschlagen und verwirrt zugleich. Es war ja nur ein flüchtiger Kuss, versuchte sie sich einzureden. Und sie kannten sich erst seit ein paar Stunden. Wahrscheinlich gingen nur die Nerven mit ihnen durch.

Jetzt war ohnehin der falsche Zeitpunkt, um mit einem Mann eine Affäre anzufangen. Und erst recht mit dem Polizisten, der sich für die Suche nach ihrer spurlos verschwunden Schwester, verschrieben hatte.

Raul lief zur Tür und öffnete das Eingangstor. Dabei musste er seine Gedanken und Gefühle schnell unter Kontrolle bringen und das was sich soeben im Büro abgespielt hatte, vergessen. In jeder Hinsicht musste er sich auf die Arbeit konzentrieren.

Es waren Eileen Banz und ihr Kollege Otto Lutz, von der Spurensicherung. Sie begrüssten kurz Raul und holten sogleich ihre Werkzeuge aus dem Volvo. Sie zogen sich Handschuhe über und fingen an alles zu fotografieren. Vom Vorgarten bis hinters Haus und zum Gartentor hinunter. Danach untersuchten sie die Überwachungskamera an der Haustür. Sie nahmen Fingerabdrücke, um diese später im Labor untersuchen zu können. Um nichts zu verwischen, packten sie alle Spuren, die sie fanden, in einen Klarsichtbeutel. Danach machten sie sich an die zweite Kamera beim Gartentor. Zuerst musste man sie finden, in all den Dornenranken, mit den rot und gelb blühenden Rosen. Bei dieser war es ein klein bisschen schwieriger, um an sie ran zu kommen, denn die Dornen ragten gefährlich weit heraus. Auch diese Abdrücke legten sie in einen Beutel und beschrifteten ihn, wie bei der ersten Kamera.

Nun versuchten Sie Schuh- und Fussabdrücke auf der Erde ausfindig zu machen. Der Boden war noch ein ganz wenig feucht, von dem Regen vor einem Tag. Sie sahen verschiedene Spuren. Die einen sahen nach Frauenschuhen aus. Dann gab es grössere, wahrscheinlich von Herrn Winter. Sowie halbe Fussabdrücke waren zu finden. Mit den letzteren konnten sie höchstwahrscheinlich nichts anfangen. Aber trotzdem fertigten sie von allem, was sie fanden konnten, ein Gipsabdruck an. Alles wurde einzeln in Beweissicherungsbeutel verpackt und beschrieben.

Während die Polizisten draussen ihrer Arbeit nachgingen, verspürte Chloe einen ziemlichen Durst und ging vom Arbeitszimmer in die Küche um den Polizisten und ihr irgendwas Kühles zu servieren.

Sie öffnete den Kühlschrank, um ihn nach etwas Trinkbarem zu durchsuchen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen vor Schreck. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und öffnete ihren Mund, um einen gellenden Schrei von sich zu geben.

Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, war Raul schon hinter ihr.

„Oh mein Gott.“ brachte sie nur heraus.

In der Mitte des Kühlschrankes befand sich auf einem Teller ein abgetrennter Zeigefinger. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre der Finger mit einem Messer abgetrennt worden. Er war bereits ziemlich grau und violett verfärbt, aber der Lack auf dem Nagel sah makellos und frisch angestrichen aus.

Raul nahm Chloe zur Seite und setzte sie auf einen Stuhl. Lunardi zog sich einen Handschuh über, um den Finger in einen Klarsichtbeutel zu legen.

Er drehte sich zur Frau, die hinter ihm am Tisch sass, um. „Was hat ihre Schwester für Fingernägel?"

„Lange.“

„Angestrichen?“

„Ich glaube schon.“

„Bitte konzentrieren sie sich.“

„Ich glaube, sie waren durchsichtig lackiert. Warum wollen Sie das wissen?“

„Ich möchte ausschliessen können, dass es Danas Finger ist. Doch bevor wir ihn nicht im Labor untersucht haben, kann ich Ihnen nicht mehr sagen und will sie nicht unnötig beunruhigen.“

Chloe starrte vor sich hin. Sie hörte nicht mal mehr, was Raul zu ihr sagte und dass er den Raum verlassen hatte. Nach wenigen Sekunden verspürte Chloe eine gewisse Übelkeit und rannte zum nächsten WC, um sich zu übergeben.

Kraftlos blieb sie auf dem Boden sitzen. Sie zog ihre Knie an und legte den Kopf darauf. Mit den Armen umfasste sie ihre Beine und fing an unaufhaltsam zu weinen.

Erschrocken fuhr sie auf, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Raul kniete sich zu ihr hinunter und hielt sie fest an sich gedrückt. Als er erkannte, dass sie sich beruhigt hatte, rückte er etwas von ihr ab und teilte ihr mit, dass die Leute von der Spurensicherung fertig seien und nun alles im Labor untersuchen würden.

„Ich hoffe, dass dieser Albtraum bald ein Ende hat.“ krächzte Chloe mit einer Stimme, die sie selbst kaum verstand.

„Wir müssen jedem Hinweis, den wir bekommen nachgehen und alles genauestens überprüfen. So werden wir Dana finden.“

„Ja, das werden wir.“

„Mögen Sie etwas zu trinken, Chloe?

„Nein.“

„Sie müssen wieder zu Kräften kommen. Ich bin gleich zurück.“

Kurz darauf kam Lunardi mit einem Glas Wasser zurück und reichte es ihr. Sie sassen immer noch im kleinen Toilettenraum, als sie hörten wie das Garagentor aufging. Umgehend erklangen schwere Schritte auf der Treppe.

„Raul, Chloe! Wo seid ihr?“

„Hier!“

Schon erschien Winter in der Tür.

„Was macht ihr denn hier? Ist etwas passiert?“

„Ich werde es dir sofort erzählen.“ sagte Raul mit beruhigender Stimme.

5.

Nachdem Raul Finn alles erzählt hatte, was vorgefallen war, verabschiedete sich Chloe von ihnen.

„Ich werde ein wenig am See spazieren gehen. Ich brauche dringend frische Luft und muss meine Gedanken neu ordnen.“ An ihren Schwager gewandt fuhr sie fort. „Stört es dich, wenn ich später nochmals vorbei komme?“

„Du bist hier immer herzlich willkommen. Das weisst du.“

„Herr Lunardi.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, welche Raul sanft drückte. Er hätte Chloe am liebsten in seine Arme geschlossen, um ihr Trost zu spenden. Doch wusste er, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Erschrocken über seine Gedanken, zog er seine Hand etwas zu schnell zurück, was Chloe ein wenig erstaunen lies.

„Frau Kramer. Versuchen Sie sich abzulenken. Sie haben meine Nummer und können mich jederzeit anrufen, wenn irgendwas ist.“

Als Chloe aus dem Haus war, verschwanden die beiden Freunde ins Arbeitszimmer und gingen die restlichen Akten von Finns abgeschlossenen Fällen durch. Schlussendlich brachten sie eine Liste von über zwanzig Personen zusammen.

Winter massierte seinen Nacken, der sich unerträglich verspannt hatte, während sie die Unterlagen durchsahen. Er wagte einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, die bereits nach zwölf Uhr anzeigte. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie lange er und Raul vor den Akten sassen und diese studiert hatten, so schnell raste die Zeit an ihnen vorbei. Zeit, die sie momentan nicht vorrätig hatten.

„Hoffentlich kommen wir mit diesen Namen einen Schritt weiter. Es kann doch nicht sein, dass Dana einfach so verschwunden sein soll. Ich habe niemandem etwas Böses getan und ich mache nur meinen Job.“

„Wie du weisst, kann man meistens nicht verstehen, warum solche Taten begangen werden. Ich würde dir gern irgendwas Aufmunterndes sagen, aber mir fehlen selbst die Worte. Ich kann dir nur versprechen, dass wir alles daran setzen werden, um deine Frau schnellstmöglich zu finden.“

„Ich danke dir, Lunardi.“ brachte Finn mit rauer Stimme hervor.

Irgendwann fing der Staatsanwalt zögernd an zu sprechen. „Ich frage mich ständig, wie der Finger in meinen Kühlschrank gekommen ist. Dazu lag er noch auf einem Teller aus unserem Haushalt. Mit was für einem Verrückten haben wir es hier zu tun?“

„Das möchte ich auch gern wissen.“

„Ich habe heute Morgen etwas zu Trinken und zu Essen herausgenommen. Da lag weit und breit nichts so unappetitliches im Kühlschrank.“

„Es muss jemand herein gekommen sein, als mindestens du im Haus gewesen bist. Die Alarmanlage sowie die Kameras waren immer noch ausgeschaltet. Zudem liess Chloe das Gartentor offen, als sie gekommen ist. Also kein Problem um unbemerkt ins Haus zu kommen.“ stellte Raul fest. „Wie konnte sie eigentlich ins Haus ohne dass du ihr öffnen musstest?“

„Sie hat einen Schlüssel. Wenn Dana und ich in die Ferien fahren oder ein verlängertes Wochenende im Tessin verbringen, giesst Chloe unsere Pflanzen. Und ausserdem verbringt sie viel Zeit mit ihrer Schwester hier. Also fanden wir, dass sie den Schlüssel gleich behalten soll.“

Beide schwiegen einen kurzen Moment, bis Raul weiterfuhr. „Hast du dir überlegt, ob in den letzten Tagen irgendwas anders war als sonst? Habt ihr euch beobachtet gefühlt oder hat sich Dana anders benommen?“

„Wie meinst du das?“

„War sie nervös?“

„Nein.“

„Eigenartige Telefonate erhalten?“

„Nein.“

„Seltsamen Besuch erhalten?“

Wieder verneinte Finn. „Nicht das ich wüsste.“

 

Der Kriminalpolizist schaute auf seine Uhr und stellte fest, dass es schon fast dreizehn Uhr war. Sein Magen knurrte leise vor sich hin. Seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr zu sich genommen und Finn mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht.

„Wollen wir irgendwas zu Essen bestellen?“

„Keine schlechte Idee. Ich habe zwar gar keinen Hunger, aber uns würde eine kleine Stärkung gut tun.“

„Sollen wir uns eine Pizza kommen lassen?“

„Darum kümmere ich mich.“

„Ich werde ums Haus gehen und mich ein wenig umsehen. Möglicherweise haben wir etwas übersehen.“

Finn bestellte für sich und Raul zu essen. Danach ging er ins Arbeitszimmer und machte sich Notizen, was Dana und er in den letzten Tagen alles erlebt hatten und wo sie unterwegs waren, während Lunardi draussen nach einer Fährte suchte.

Nach einer guten halben Stunde tauchte schon der Kurier mit der Pizza auf dem Grundstück von Finn auf. Raul kam gerade hinter dem Haus hervor, als der Pizzawagen den Weg vom Tor hinauf fuhr. Finn stand bereits am Eingang und erwartete den Kurier. Erst jetzt bemerkte Raul, wie niedergeschlagen Finn aussah. Er wirkte in den letzten vergangenen Stunden um einige Jahre gealtert zu sein. Bei all den Geschehnissen war das auch kein Wunder.

Der Staatsanwalt bezahlte den Pizzalieferanten, woraufhin dieser in sein Wagen stieg und seine Auslieferungen weiterführte. Die zwei Freunde gingen gemeinsam ins Innere des Hauses.

„Ist es dir recht, wenn wir draussen essen? Ich muss an die frische Luft. Die Räume engen mich irgendwie ein.“ meinte Finn.

„Na klar.“

Sie holten sich in der Küche Teller, Besteck und was zu trinken. Danach begaben sie sich

durch breite, weisse Doppeltüren auf die Terrasse hinaus.

Mitten auf der Terrasse stand ein runder Tisch und um ihn herum passende Korbsessel, auf denen sie Platz nahmen. Finn stocherte mehr auf der Pizza herum, als dass er davon ass. Ihm war einfach nicht nach essen zumute. Er fühlte sich schwach und müde, wie noch nie zuvor.

„Ich merke soeben, wie sehr mir Dana fehlt. Warum muss zuerst dem Menschen, den man über alles liebt, so was passieren, damit man merkt, wie sehr man ihn braucht und ohne ihn nicht leben kann.“ Finn stütze seinen Kopf auf seinen Händen ab und fing geräuschlos an zu weinen.

Raul hatte seinen besten Kumpel noch nie so hilflos erlebt, wie in diesem Moment. Über den Tisch ergriff er Finns Arm und drückte ihn mit einem leichten Druck. Sie blieben eine Weile so dasitzen und Raul wartete ab, bis es seinem Freund wieder besser ging.

„Finn, ich muss zurück zur Kripo. Kommst du alleine klar?“

„Es wird schon gehen.“

„Was hast du jetzt noch vor?“

„Mal schauen. Geh du ruhig, aber melde dich bitte, sobald du etwas erfahren hast.“

Sie erhoben sich und Raul verliess die Terrasse über den Garten. Er stieg in sein Auto, das vor dem Haus stand und fuhr los.

Eigentlich hätte der Staatsanwalt an einigen seiner Fälle weiterarbeiten müssen, doch so sehr er sich auch bemühte, konnte er sich momentan nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Also machte er sich auf den Weg an den Vierwaldstättersee, um nachzusehen, wo Chloe blieb. Nach einer Weile kam er an einer Reihe Bänke vorbei, die fast alle besetzt waren. Es war ein ruhiger Platz, der einen zum Verweilen einlud und einen schönen Blick auf den See bot. Weiter vorne sah er eine Frau, auf einer dieser Bänke sitzen, die ihm bekannt vorkam. Als er näher kam, erkannte er Chloe, die völlig energielos, dasass. Die letzten Meter lief er nicht mehr, sondern rannte auf sie zu.

„Chloe!“ rief er.

Sie blickte mit Tränen verschleierten Augen zu Finn auf. Ohne Begrüssung oder sonst ein Wort nahm er neben seiner Schwägerin Platz und legte den Arm um ihre Schultern. Sie sassen, frei von jeglichem Zeitgefühl, schweigend nebeneinander und sahen aufs Wasser hinaus.

Erst jetzt entdeckte er die gelbe Strickjacke auf ihrem Schoss.

„Was ist das?“ fragte Winter und starrte weiter auf Chloes Hände, die die Jacke fest umklammert hielten.

Verdutzt sah sie ihn an. „Weisst du das nicht?“

„Nein. Sollte ich?“

„Weisst du denn nicht, was Dana gestern Abend anhatte?“

„Nein. Raul hat mich auch schon danach gefragt. Ich weiss es leider nicht.“

„Warum nicht?“

„Ich habe sie gestern nicht mehr gesehen, bevor du sie abgeholt hast.“

„Hattest du am Nachmittag nicht frei?“

„Doch. Aber ich musste dann doch nochmals ins Büro.“

„Hattet ihr darum einen Streit?“

„Nein. Warum weisst du davon?“

„Warum dann?“ sie blieb hartnäckig.

„Ich möchte nicht darüber reden?“

„Kann es etwas mit dem Verschwinden von Dana zu tun haben?“

Ein kurzer Augenblick verstrich bis er antwortete. „Nein.“

Finn hoffte, dass sie sein Zögern in seiner Stimme nicht bemerkt hatte. „Ich werde Raul anrufen. Die Leute vom kriminaltechnischen Dienst sollen diesen Ort schnellstmöglich nach Spuren untersuchen.“ Er nahm sein Natel hervor und tippte Rauls Nummer ein. Kaum hatte er diese eingegeben, nahm der Polizist auf der anderen Seite bereits ab.

„Kannst du so rasch als möglich an den See kommen? Wir sind gleich neben dem Seehotel Bogen.“

„Wer sind wir?“

„Chloe und ich.“

„Bin unterwegs.“ Ohne ein weiteres Wort legte Raul auf.

Chloe räusperte sich. „Weisst du, was mir so zu schaffen macht? Ich sah Dana das letzte Mal, als ich sie, nur etwa fünfhundert Meter von hier entfernt, aus meinem Auto steigen liess. Und hier liegt nun ihre Jacke. Wo ist sie nur?“

„Sie ist bis gestern nie nach eurem Mädelsabend noch spazieren gegangen. Warum dieses Mal?“

Während die Beiden ratlos, nebeneinander auf der Bank auf Raul warteten und ihren Gedanken nachgrübelten, nahm Finn die Strickjacke aus Chloes Händen und hielt sie sich ins Gesicht, um Danas Duft einzuatmen. Er musste sich beherrschen, dass er seinen Tränen nicht schon wieder freien Lauf liess. Schliesslich war er ein angesehener Staatsanwalt und nicht so ein Waschlappen, wie er sich momentan fühlte. Ausserdem wollte er vor Chloe keine Schwäche zeigen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich allmählich wieder zur Ruhe zu bringen.

Der Kriminalpolizist kam kurze Zeit später mit seinem Auto angerast. Er machte sich keine Mühe einen Parkplatz zu suchen. Stattdessen hielt er am Strassenrand an und ging über die Wiese auf Chloe und Finn zu.

„Was gibts?“ meldete er sich.

Finn erhob sich und reichte Raul die Strickjacke.

„Chloe hat dieses Kleidungsstück hier gefunden.“

Chloe Kramer hatte keine Kraft, um sich zu erheben. Sie sah nicht mal auf, als Raul sich vor sie stellte.

„Frau Kramer, wann und wo genau haben Sie diese Jacke gefunden?“

Mit ihren Gedanken weit weg, nahm sie im hintersten Ecken ihres Gehirns wahr, dass man ihr eine Frage gestellt hatte. Sie schaute auf und blickte in die wundervollsten, sanftesten Augen, in die sie je gesehen hatte.

„Was?“ brachte sie knapp hervor.

„Wann und wo genau haben Sie diese Jacke gefunden?“ wiederholte sich Lunardi.

„Hier auf dieser Bank. Ich kann Ihnen nicht sagen, seit wann ich hier sitze. Als ich von Finn weggegangen bin, spazierte ich am See entlang und landete hier an diesem Ort, weil mir diese gelbe Jacke aufgefallen ist. Seit da bin ich an dieser Stelle.“ ihr Mund fühlte sich schon ganz trocken an.

Raul schaute auf seine Uhr. Sie musste schon eine ganze Weile an diesem Ort gesessen haben, dachte er für sich.

Er blickte erneut Chloe an. „Ich werde diese Jacke ohne Umschweife ins Labor bringen, um sie ebenfalls nach Spuren zu untersuchen. Darf ich Sie bitten mit mir zu kommen? Dann können wir Ihren Fund und was Ihnen sonst noch alles einfällt, gleich schriftlich protokollieren.“

Chloe erhob sich langsam von der Bank. Ihre Beine wollten ihr nicht so recht gehorchen. Sie fühlten sich schwach an. Lange war sie nur dagesessen und hatte sich kein bisschen bewegt. Dazu kam, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte. Weder zu trinken noch zu essen.