Formen der Verstörung

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Tropischer Sturm

Wie ein tropischer Sturm

werde auch ich eines Tages vielleicht »besser organisiert« sein.

Gute Zeiten

Was ihnen widerfuhr, das war, dass jede schlechte Zeit ein schlechtes Gefühl mit sich brachte, das seinerseits mehrere schlechte Zeiten mit sich brachte und mehrere schlechte Gefühle, so dass sich in ihrem Zusammenleben schlechte Zeiten und schlechte Gefühle drängten, so sehr drängten, dass auf diesem dunklen Acker fast nichts anderes mehr wachsen konnte. Aber dann hatte sie eines Morgens ein Gefühl des Friedens, das sich noch vom vergangenen Abend gehalten hatte, den sie mit Nähen zugebracht hatte, während er lesend im Zimmer nebenan gesessen war. Und ein oder zwei Tage danach hatte sie ein Gefühl von Zufriedenheit, das sich am Morgen noch vom Abend davor gehalten hatte, als er ihr in der Küche beim Abwaschen des Geschirrs Gesellschaft geleistet hatte. Wenn die Zahl der guten Zeiten zunahm, dachte sie, dann konnte jede gute Zeit ein gutes Gefühl mit sich bringen, das seinerseits mehrere gute Zeiten mit sich bringen würde, und diese würden mehrere gute Gefühle mit sich bringen. Sie meinte damit, dass sich die guten Zeiten vielleicht so rasant multiplizieren würden wie das Quadrat zum Quadrat oder vielleicht noch rasanter, wie Mäuse oder wie Pilze, die über Nacht von den auseinanderstiebenden Sporen eines Mutterpilzes aus dem Boden schossen, der seinerseits zusammen mit einer Gruppe anderer aus den auseinanderstiebenden Sporen eines Mutterpilzes aus dem Boden schoss – bis ihr Leben mit ihm so gedrängt voll von guten Zeiten wäre, dass die vielen guten Zeiten vielleicht die schlechten verdrängen würden, wie die schlechten Zeiten die guten Zeiten bis zur Stunde beinah verdrängt hatten.

Idee für einen kurzen Dokumentarfilm

Vertreter verschiedener Nahrungsmittelfirmen versuchen ihre eigenen Verpackungen zu öffnen.

Tabuthemen

Bald wird beinahe jedes Thema, über das sie vielleicht reden wollten, mit einer weiteren unerfreulichen Szene in Verbindung gebracht und wird zu einem Thema, über das sie nicht reden können, so dass es im Lauf der Zeit immer weniger gibt, worüber sie gefahrlos reden können, so dass zum Schluss kaum noch etwas übrig ist außer den Nachrichten und dem, was sie gerade lesen, wenn auch nicht alles, was sie gerade lesen. Sie können auch nicht über verschiedene Mitglieder ihrer Familiereden, seine Arbeitszeiten, ihre Arbeitszeiten, Hasen, Mäuse, Hunde, bestimmte Lebensmittel, bestimmte Universitäten, heißes Wetter, heiße und kalte Raumtemperaturen während der Tages- und der Nachtzeit, das Einschalten und das Ausschalten des Lichts an Sommerabenden, das Klavier, Musik im Allgemeinen, wie viel Geld er verdient, wie viel sie verdient, wie viel sie ausgibt etc. Aber eines Tages, als sie über ein Tabuthema geredet hatten, wenn auch nicht über das gefährlichste aller Tabuthemen, begreift sie, dass es, manchmal, möglich sein könnte, ruhig und bedachtsam über ein Tabuthema zu reden, so dass es eines Tages vielleicht wieder ein Thema werden konnte, über das man reden konnte, um dann ruhig und bedachtsam etwas über ein anderes Tabuthema zu sagen, so dass es ein weiteres Thema gibt, über das man wieder wird reden können, und dass es, sobald es mehr themen gibt, über die man wieder reden kann, schrittweise mehr Gespräche zwischen ihnen geben wird und dass das Vertrauen wachsen wird, sobald es mehr Gespräche gibt, und dass sie es, sobald genügend Vertrauen da wäre, wagen könnten, sich selbst die gefährlichsten Tabuthemen vorzunehmen.

Zwei Typen
Begeisterungsfähig

Eine Frau war mehrere Tage lang deprimiert und verzweifelt, nachdem sie ihren Kugelschreiber verloren hatte.

Dann geriet sie wegen eines Inserats über einen Schuhausverkauf so sehr aus dem Häuschen, dass sie eine dreistündige Fahrt zu einem Schuhgeschäft in Chicago unternahm.

Phlegmatisch

Ein Mann entdeckte eines Abends ein Feuer in einem Studentenheim und ging weg, um in einem anderen Gebäude nach einem Feuerlöscher zu suchen. Er fand den Feuerlöscher und ging damit zurück zum Feuer.

Die Sinne

Viele Leute behandeln ihre fünf Sinne mit einem gewissen Respekt und mit Bedacht. Sie nehmen ihre Augen in ein Museum mit, ihre Nase zu einer Blumenausstellung, ihre Hände in ein Stoffgeschäft für Samt und Seide; sie überraschen ihre Ohren mit einem Konzert und begeistern ihren Mund mit einem Essen im Restaurant.

Aber die meisten Leute lassen ihre Sinne Tag für Tag schwer für sich arbeiten: Lies mir diese Zeitung vor! Pass auf, Nase, falls das Essen anbrennt! Ohren, tut euch jetzt zusammen und horcht, ob es an der Türe klopft!

Ihre Sinne haben Aufgaben zu erledigen, und das tun sie, meistens – die Ohren der Tauben tun’s nicht, die Augen der Blinden auch nicht.

Die Sinne ermüden. Manchmal – lange vor dem Ende – sagen sie, ich gebe auf – ich mach mich aus dem Staub, jetzt. Und dann ist der Betroffene weniger imstande, sich der Welt zu stellen, und bleibt mehr zuhause und hat so manches nicht, was er braucht, wenn er weitermachen soll.

Wenn ihn alles im Stich lässt, ist er wirklich einsam: im Dunkel, in der Stille, mit tauben Händen, mit nichts im Mund, nichts in der Nase. Er fragt sich: Hab ich sie falsch behandelt? Haben sie’s nicht gut gehabt bei mir?

Fragen der Grammatik

Also: Kann ich, während er gerade stirbt, sagen: »Er lebt hier«?

Wenn mich jemand fragt: »Wo lebt er?« – soll ich dann antworten: »Nun, im Augenblick lebt er nicht, er ist gerade dabei zu sterben«?

Wenn mich jemand fragt: »Wo lebt er?« – kann ich dann sagen: »Er lebt im Pflegeheim Vernon Hall«? Oder sollte ich vielmehr sagen: »Er stirbt gerade im Pflegeheim Vernon Hall«?

Wenn er tot ist, dann werde ich, die Vergangenheitsform verwendend, sagen können: »Er hat im Pflegeheim Vernon Hall gelebt.« Und ich werde auch sagen können: »Er ist im Pflegeheim Vernon Hall gestorben.«

Wenn er tot ist, wird alles, was ihn betrifft, die Vergangenheitsform haben. Das heißt, der Satz »Er ist tot« wird in der Gegenwart stehen, und auch Fragen wie: »Wohin bringen sie ihn?« oder: »Wo ist er jetzt?«

Dann aber wüsste ich nicht, ob die Verwendung der Worte er und ihn im Präsens korrekt ist. Ist er, wenn er einmal tot ist, noch immer er, und, wenn ja, wie lange ist er dann noch er?

Die Leute reden vielleicht von »der Leiche« und sagen dann »sie« zu ihr. Von »der Leiche« werde ich ihn betreffend nicht sprechen können, weil er für mich noch nicht etwas ist, was man als »die Leiche« bezeichnen würde.

Manche Leute sagen vielleicht »seine Leiche«, aber auch das scheint nicht korrekt. Es ist nicht »seine« Leiche, weil er sie nicht besitzt, wenn er nicht mehr aktiv und damit nicht imstande ist, etwas zu besitzen.

Ich weiß nicht, ob es einen »er« gibt, auch wenn die Leute sagen: »Er ist tot.« Es scheint aber korrekt zu sagen: »Er ist tot.« Das ist vielleicht das letzte Mal, dass er noch im Präsens »er« ist. Andererseits: Das letzte Mal ist es nicht, denn ich sage auch: »Er liegt im Sarg.« Ich werde ebenso wenig wie sonst jemand sagen: »Sie liegt im Sarg«, oder: »Die Leiche liegt in ihrem Sarg.«

Ich werde, wenn er gestorben ist, weiterhin von ihm als von »meinem Vater« reden. Aber tu ich das nur, wenn ich in der Vergangenheitsform spreche, oder tu ich das auch im Präsens?

Er kommt in eine Büchse, nicht in einen Sarg. Und wenn er in dieser Büchse ist, sage ich dann: »Das, in der Büchse – das ist mein Vater«, oder: »Das, in der Büchse, das war mein Vater«, oder sage ich dann: »In dieser Büchse da – das war mein Vater«?

Ich werde immer noch von »meinem Vater« sprechen, aber vielleicht werde ich es nur tun, solange er wie mein Vater aussieht, oder annähernd wie mein Vater. Werde ich, wenn er die Form von Asche angenommen hat, auf die Asche zeigen und sagen: »Das ist mein Vater«? Oder werde ich sagen: »Das war mein Vater«? Oder aber: »Die Asche da – das war mein Vater«? Oder: »Diese Asche da ist das, was einmal mein Vater war«?

Wenn ich später auf den Friedhof gehe, werde ich dann hinzeigen und sagen: »Hier liegt mein Vater«, oder werde ich sagen: »Hier liegt die Asche meines Vaters«? Aber die Asche wird nicht meinem Vater gehören, er wird sie nicht besitzen. Es wird »die Asche« sein, »die einmal mein Vater war«. In der Redewendung: »Er stirbt gerade« suggeriert das Wort »gerade« in Verbindung mit dem Präsens, dass er dabei ist, aktiv etwas zu tun. Er ist aber nicht aktiv, wenn er stirbt. Das einzige, was er noch aktiv tut, ist atmen. Es sieht aus, als atme er mit Absicht, weil er sich dabei so viel Mühe gibt und die Stirn leicht in Falten legt. Er gibt sich dabei viel Mühe, aber er hat zweifellos keine andere Wahl. Manchmal sind die Falten auf seiner Stirn momentlang tiefer, als ob ihm etwas weh täte oder als ob er sich stärker konzentrieren würde. Obwohl ich errate, dass er die Stirn wegen eines Schmerzes in seinem Körper oder einer sonstigen Veränderung runzelt, wirkt er verwirrt oder so, als würde ihm etwas nicht passen oder als würde er etwas missbilligen. Ich habe diesen Ausdruck auf seinem Gesicht in meinem Leben oft gesehen, allerdings nie zusammen mit diesen halb geöffneten Augen und dem offenen Mund.

 

»Er stirbt gerade« klingt aktiver als »Er wird bald tot sein«. Wahrscheinlich liegt es an dem Wort sein – wir können etwas »sein«, ob wir uns dafür entscheiden oder nicht. Ob ihm das passt oder nicht – er wird bald tot »sein«. Er isst nicht.

»Er isst nicht« klingt ebenfalls nach Aktivität. Aber es hat nichts mit seiner freien Entscheidung zu tun. Ihm ist nicht bewusst, dass er nicht isst. Nichts ist ihm bewusst. Aber: »Er isst nicht« klingt in seinem Fall korrekter als »stirbt gerade«, wegen der Verneinung. Dass er etwas »nicht tut«, scheint, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, sowieso korrekt, weil es so aussieht, als würde er etwas verweigern, weil er die Stirn runzelt.

Hand

Jenseits der Hand, die dieses Buch hält, das ich gerade lese, sehe ich eine andere Hand, die untätig da liegt, ein wenig außerhalb meines Fokus – meine Extra-Hand.

Die Raupe

Am Morgen finde ich eine kleine Raupe in meinem Bett. Es gibt kein passendes Fenster, um sie hinauszuwerfen, und ich zerquetsche oder töte kein Lebewesen, wenn es nicht sein muss. Ich werde mir die Mühe machen und diese dünne, dunkle, haarlose kleine Raupe die Treppen hinunter und in den Garten hinaus tragen.

Es ist keine Spannerraupe, obwohl sie die Größe einer Spannerraupe hat. Sie macht keinen Buckel in der Mitte, sondern bewegt sich auf ihren vielen Beinpaaren ruhig dahin. Als ich aus dem Schlafzimmer gehe, eilt sie über die Hügel meiner Handfläche hinauf.

Aber auf dem halbem Weg die Treppe hinunter ist sie verschwunden – Handfläche und Handrücken sind blank. Die Raupe muss losgelassen haben und hinuntergefallen sein. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Im Treppenaufgang herrscht Halbdunkel, und die Treppen sind dunkelbraun gestrichen. Ich könnte eine Taschenlampe holen, um nach dem winzigen Ding zu suchen und sein Leben zu retten. Aber so weit gehe ich nicht – sie wird selbst tun müssen, was sie kann. Aber wie soll sie die Strecke die Treppe hinunter und in den Garten hinaus schaffen?

Ich mache mit meiner Arbeit weiter. Ich glaube schon sie vergessen zu haben, habe ich aber nicht. Jedes Mal, wenn ich die Treppe hinauf oder hinunter gehe, vermeide ich ihre Treppenhälfte. Ich bin sicher, dass sie da ist und hinunterzukommen versucht.

Schließlich gebe ich nach. Ich hole die Taschenlampe. Jetzt ist das Problem, dass die Stufen so schmutzig sind. Ich putze sie nicht, weil sie in diesem Dunkel keiner sieht. Und die Raupe ist – oder war – so klein. Vieles schaut im Schein der Taschenlampe aus wie sie – ein sehr dünner Holzsplitter oder ein dickes Stück Zwirn. Aber wenn ich sie anstupse, bewegen sie sich nicht.

Ich kontrolliere jede Stufe auf ihrer Seite der Treppe genau, danach auch die andere Seite. Man entwickelt eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber einem Lebewesen, wenn man einmal versucht hat, ihm zu helfen. Aber sie ist nirgendwo. Es liegt so viel Staub auf der Treppe und so viel Hundehaar. Der Staub klebt nun vielleicht an ihrem kleinen Körper und macht es beschwerlich für sie, sich fortzubewegen oder zumindest die Richtung einzuschlagen, die sie einschlagen wollte. Sie ist davon vielleicht ausgetrocknet. Aber weshalb sollte sie denn die Treppe hinunterwollen – und nicht hinauf? Auf dem oberen Treppenabsatz, wo sie verschwunden ist, habe ich sie noch nicht gesucht. Das geht zu weit.

Ich mache mich wieder an die Arbeit. Dann fange ich an, die Raupe zu vergessen. Ich vergesse sie für eine Stunde, bis ich zufällig wieder zur Treppe gehe. Diesmal entdecke ich auf einer der Stufen etwas von genau der richtigen Größe, Form und Farbe. Aber es ist flach und trocken. Das kann nicht sie gewesen sein. Das muss eine kurze Kiefernnadel oder irgendein anderer Teil einer Pflanze sein.

Als ich das nächste Mal an sie denke, stelle ich fest, dass ich mehrere Stunden nicht an sie gedacht habe. Ich denke nur an sie, wenn ich die Treppe hinauf oder hinunter gehe. Trotzdem, irgendwo ist sie doch und versucht, an ein grünes Blatt heranzukommen, oder stirbt. Aber es kümmert mich jetzt nicht mehr so sehr. Ich bin sicher, dass ich sie bald ganz vergessen haben werde.

Später hängt ein unangenehmer Tiergeruch im Treppenaufgang, aber das kann nicht sie sein. Sie ist zu klein, um überhaupt zu riechen. Wahrscheinlich ist sie schon tot. Sie ist wirklich einfach zu klein, als dass ich mir weiter Gedanken über sie mache.

Kinderhüten

Die Reihe ist an ihm, aufs Baby zu schauen. Er ist sauer.

Er sagt: »Ich komme mit meiner Arbeit nie nach.«

Auch das Baby ist schlechter Laune.

Er gibt dem Baby ein Fläschchen mit Saft und setzt es bequem in einen großen Fauteuil.

Er setzt sich in einen anderen Fauteuil und schaltet den Fernseher an.

Gemeinsam sehen sie sich Ein seltsames Paar an.

Du fehlst uns: Eine Studie der Genesungswünsche einer vierten Klasse Grundschule

Das Folgende ist eine Untersuchung von siebenundzwanzig Genesungswünschen, die von Viertklässlern an ihren Klassenkameraden Stephen geschrieben wurden, als dieser sich im Krankenhaus von einer schweren Osteomyelitis erholte.

Die Krankheit setzte nach einem eher mysteriösen Unfall ein, in den ein Auto verwickelt war. Der junge Stephen ging laut eigenem später abgefassten Bericht und einer kurzen Notiz in der örtlichen Zeitung eines Tages Anfang Dezember bei Anbruch der Dunkelheit zu Fuß nach Hause. Er trat auf die Straße hinaus, um sie zu überqueren, als er von einem langsam fahrenden Wagen im Winkel angefahren wurde – nicht eben mit großer Wucht, aber mit immerhin so viel Wucht, dass er zu Boden gestoßen wurde. Der Fahrer, ein Mann unbekannten Alters, hielt an und stieg aus, um nachzusehen, ob mit dem Jungen alles in Ordnung war. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Junge keinen Schaden genommen hatte, fuhr der Mann weiter. In Wahrheit hatte sich der Junge das Knie verletzt, aber entweder weil es ihm unangenehm war oder weil er wusste, dass auch ihn selbst Schuld traf, erwähnte er den Unfall zuhause nicht. Das Knie blieb unbehandelt, eine Infektion war die Folge; das Osteomyelitis-Virus kam in die Wunde; der Junge erkrankte schwer und musste ins Krankenhaus. Nach ein paar Wochen der Sorge seitens der Ärzte, seiner Familie und seiner Freunde erholte er sich, zum Teil dank des jüngst entdeckten Antibiotikums Penicillin, und wurde aus dem Krankenhaus entlassen.

Zum Zeitpunkt von Stephens Einlieferung in die Klinik versuchten seine El tern, den Lenker des Autos mit dem folgenden Inserat in der Lokalzeitung ausfindig zu machen. Unter der Überschrift ELTERN MÖCHTEN MIT UNFALLFAHRER SPRECHEN stand zu lesen:

Etwa in der ersten Dezemberwoche wurde Stephen, der Sohn von Mr. und Mrs. B., wohnhaft 94 N. Rd., am späten Nachmittag Ecke Elm und Crescent Street leicht angefahren. Der Fahrer stieg aus, sah sich den Jungen kurz an und redete mit ihm. Danach trennten sich die beiden.

Die Eltern des Jungen würden gerne mit dem Fahrer des Autos Kontakt aufnehmen und ersuchen ihn, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen.

Das Inserat blieb ohne Reaktion.

Nach dem Ende der Weihnachtsferien und nachdem für seine Klassenkameraden die Schule wieder losging, erhielten diese von ihrer Lehrerin, Miss E., die Aufgabe, Genesungswünsche für Stephen zu verfassen. Anschließend korrigierte sie die Briefe sparsam, aber genau, machte ein Paket und schickte es an Stephen. Berücksichtigt man die Anzahl der wiederkehrenden Wendungen, so verfolgte das ganz offensichtlich den Zweck einer Schulübung, um den Schülern bestimmte Fähigkeiten im Briefschreiben beizubringen.

Die Schule

Die Schule, in der diese Briefe geschrieben wurden, war ein großer Ziegelbau, der für die Benutzung durch Kindergruppen vom Kindergarten bis zum Ende der ersten Sekundarstufe bestimmt war und inmitten eines sympathischen Ambientes lag. Die Straßen waren gesäumt von ausgewachsenen schattenspendenden Bäumen, die Häuser waren großteils geräumige und komfortable, aber durchaus nicht protzige Mittelklassehäuser mit bescheidenen, bisweilen großzügigen Gärten mit Rasenflächen davor und einer Menge verschiedenster Bäume, Sträucher und Blumen. Die meisten Kinder wohnten in unmittelbarer Nähe der Schule und gingen zu Fuß, alleine oder mit Freunden, zur Schule und wieder zurück, auf gut instand gehaltenen, da und dort geborstenen oder von den Wurzeln der großen Bäume aufgeworfenen Gehsteigen. Stephen selbst wohnte, ebenso wie die Nachbarskinder Carol und Jonathan, eine Straße von der Schule entfernt. An einer Straßenecke, unweit von der Schule, gab es einen kleinen Laden, in dem die matronenhafte Besitzerin mit ihrem eher abstoßenden Verhalten residierte. Es gab da Süßigkeiten zu kaufen und eine bescheidene Auswahl an Lebensmitteln, und die Kinder zählten nach der Schule zu den wichtigsten Kunden. Gegenüber von diesem Laden fiel eine Straße steil zu einem seichten, mittelbreiten Fluss ab, in dem die Kinder wegen der Abwässer der Fabriken nicht flussaufwärts schwimmen durften. Das Schulgebäude stand in der Mitte eines großen asphaltierten Spielplatzes, auf dem es keine Klettergeräte und Schaukeln gab. Die Klassenräume waren hell und wurden durch das durch große Fenster einfallende Tageslicht gut ausgeleuchtet.

Allgemeines Erscheinungsbild und Form der Briefe

Die Briefe sind auf dem linierten Papier von Übungsheften in zwei unterschiedlichen Größen geschrieben, die meisten auf dem kleineren Format von etwa 18 mal 20 cm, vier auf größerem Format von etwa 20 mal 25 cm Größe. Obwohl das vor fast 60 Jahren hergestellte Papier minderwertig ist, ist es noch immer elastisch und weich, und die Buchstaben sind noch immer gut zu lesen; ein paar Schüler haben beim Schreiben besonders fest aufgedrückt, um die Konturen sehr dunkel und scharf umrissen hervortreten zu lassen. Alle sind mit Tinte geschrieben, wenn auch mit Tinte unterschiedlicher Art, einmal blau, dann wieder schwarz, manchmal dunkel, manchmal hell, manchmal mit dünnen Linien, manchmal mit dicken.

Das Schriftbild ist meistens schön, d.h. die Schrift neigt sich in weitgehend gleichbleibender Schrägstellung nach rechts, die meisten Buchstaben berühren die Zeilen, der Zwischenraum zwischen den Buchstaben ist gleich groß, die Oberlängen der Buchstaben berühren die Zeilen über ihnen nicht etc., obwohl die Unterschiede in Stärke und Anordnung der Buchstaben sowie das Auf und Ab der Zeilen über die zitternden Hände und die unbeholfenen Anstrengungen der Schreibanfänger hinwegtäuschen. Manche Großbuchstaben sind allerdings sehr elegant ausgeführt und haben hübsche Schnörkel.

Es sind insgesamt siebenundzwanzig Briefe, verfasst von dreizehn Mädchen und vierzehn Jungen. Vierundzwanzig der Briefe der Kinder sind mit 4. Jänner datiert, offensichtlich der Tag, an dem die Lehrerin sie zur Arbeit als Gruppe anhielt; zwei sind mit dem 5. Jänner datiert, einer mit 8. Jänner, woraus man schließen darf, dass an dem Tag, als die Übung angesetzt wurde, diese Kinder nicht in der Schule waren.

Die Briefe haben, offenbar eine Vorgabe der Lehrerin, alle den gleichen dreizeiligen Briefkopf in der rechten oberen Ecke: Name der Schule, Stadt und Bundesstaat und Datum. Um einen einheitlichen Einzug für die Zeilenanfänge vorzugeben, findet sich eine mit Bleistift gezogene Begrenzungslinie an der linken Seite, ausgenommen der Brief vom 8. Jänner – dieser Nachzügler hatte den Auftrag entweder nicht erhalten oder nicht gehört – und jene, die auf größeren Blättern geschrieben waren, deren linker Rand bereits vorgedruckt ist. Die mit der Hand gezogenen Linien sind unterschiedlich: manche sind dünn und gerade, andere dick und schief, und einer bricht am unteren Blattrand in einem Winkel ab, offenbar weil der Schüler vor dem Ende der Seite das Ende seines Lineals erreicht hatte.

Die Anrede lautet bei allen gleich: »Lieber Stephen«. Das Ende der Briefe variiert nur unerheblich: »dein Freund«, »deine Freundin« (5 Jungen und 9 Mädchen); »dein Mitschüler«, »deine Mitschülerin« (3 Mädchen und zwei Jungen); »dein Kumpel« (4 Jungen); »Herzlich, dein« (1 Junge); »in Freundschaft« (1 Junge); und »dein allerbester Kumpel« (1 Junge namens Jonathan, ein enger Freund). Man beachte, dass nur die Jungen das umgangssprachliche Kumpel verwenden, wogegen fast doppelt so viele Mädchen wie Jungen das formellere Freund oder Freundin verwenden.

 

Die Lehrerin hat manche der Briefe mit Tinte korrigiert, mit der dunkelsten Tinte und in kleinerer Handschrift. Sie hat Kommas eingefügt, wo diese fehlten (am häufigsten nach der Anrede »Lieber Stephen«, der Grußformel am Schluss, z.B. »Dein Freund«, und zwischen dem Namen der Stadt und des Bundesstaates), sowie Fragezeichen, wo sie stehen müssten. Sie hat ein paar Rechtschreibfehler korrigiert (»happey«, »Schlieten fahren«, »Getanke«, »Bruader« und »Wir vermiesen dich sehr«). In einem Fall musste sie überraschenderweise die Schreibweise eines Kindernamens korrigieren, indem sie »Arilene« zu »Arlene« verkürzte. Zwei fehlende Worte hat sie ersetzt. Mehrere Fehler sind ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Insgesamt war die Rechtschreibung und Zeichensetzung in den Briefen korrekt, die Lehrerin bringt im Durchschnitt nur ungefähr eine Korrektur pro Seite an, hauptsächlich Zeichensetzungsfehler. Entweder haben die Schüler ihre Lektionen sehr gut gelernt, oder aber es handelt sich, und das ist vielleicht wahrscheinlicher, um die Reinschriften korrigierter Rohentwürfe.

Zweiundzwanzig Schüler unterschreiben mit vollständigem Namen, also Vor- und Nachname. Einer unterschreibt mit »Billy J.« und die restlichen vier unterschreiben bloß mit ihren Vornamen. (Aus Gründen der vertraulichen Behandlung werden hier bloß die Initialen der Nachnamen der Kinder angeführt.)