Die Farbe von Jade

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sie ließ sich wieder auf den Küchenstuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in ihrer Armbeuge. Enttäuschung bedeutet, dass die Täuschung aufhört. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war so eine schöne Täuschung. Lea legte die beiden Postkartenhälften zusammen. Jetzt war der Elefant schief, hatte eine große Narbe im Gesicht. Wieder blickte sie an dem Hals der Frau herab, hörte ihre leise Stimme, sah in ihre unergründlichen dunklen Augen, das Gesicht umrahmt von schwarzen Haaren, die braune Strickjacke, die sie mit den Armen geschlossen hielt. Es wäre besser, wenn Lea ihren Einsatzort wechseln würde. Abstand täte ihr jetzt sicher gut. Doch warum sollte sie ihren Einsatzort, den sie doch so gerne mochte, tauschen? Das war doch albern. Sie betrachtete den kaputten Elefanten. »Wie eine Gazelle in der Nacht«, wiederholte sie ihre eigenen Worte, »Kaum vermutet und schon weg … Schade.«

Lea tauschte ihren Einsatzort nicht. Sie wollte weiterhin jeden Tag Blumen sehen und Stroh und Kühe riechen. Kühe, die gelassen vor sich hin kauten – ohne irgendwelche dummen Briefe zu schreiben. Das besagte Haus zu ignorieren, gelang ihr freilich nicht. Sie hoffte nur, dass sich das bald ändern würde. Die Frau stand wieder am Fenster, kam jetzt regelmäßig zur Tür. Sie nahm die Post persönlich entgegen, sobald sie Lea bemerkte. Sogar Tee hatte sie vorbereitet und brachte eine kleine Tasse an die Tür. Lea fand das rührend und musste all ihre Kraft aufbringen, ihre Emotionen und ihre dummen, kleinen Vorstellungen unter Kontrolle zu halten. Nicht flirten! Keine Komplimente! Nüchternheit, Nüchternheit, Nüchternheit!

Eines Tages schien die Frau wie verändert. Ihr Blick haftete erwartungsvoll an Lea und ihre Hände zitterten. Es waren schöne Hände. Lange Finger, ausgeprägte Knöchel.

»Ist was Besonderes?«

Die Frau senkte nur den Kopf. »Es ist nichts.« Als sie jedoch den Kopf wieder hob, schaute sie Lea mit einem Blick an, der Bände sprach. Lea wusste nur nicht welche.

»Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie heißen«, sagte sie, »aber ich kenne Sie schon lange genug, um zu sehen, dass etwas geschehen ist.«

Für einen Moment schauten sie sich in die Augen. Lea hatte den Eindruck, in einem tiefen Braungrün zu versinken. Dann blickte die Frau sich um, als wolle sie sichergehen, dass niemand sie belauschte oder sah.

»Ich muss noch ein paar Briefe austragen«, sagte Lea. »Ich brauche noch ungefähr eine Stunde. Ich kann noch einmal wiederkommen. Dann hab’ ich mehr Zeit.«

Die Frau schaute auf die Uhr und nickte.

»Ich beeil mich. Bis gleich dann.«

Lea griff nach ihrem Postrad. Sie überschlug sich fast in ihrer Eile. Zwischen den Bauernhöfen trat sie in die Pedale, als sei eine wildgewordene Kuh hinter ihr her. Dabei war die einzige Kuh, die hier unterwegs war, jene komische Kuh auf einem Rad, die noch dazu dumme Nachrichten auf Postkarten schrieb. Die Hunde auf den Höfen bellten, sie waren es nicht gewöhnt, dass Lea so rannte. Das Rad ratterte über die Wege und sie hatte den Eindruck, kaum vorwärts zu kommen. Was würde die Frau ihr gleich erzählen? Leas Herz hämmerte, als hätte sie eine riesige Prüfung vor sich. Als würde gleich der Vorhang aufgehen und sie auf einer unbekannten Bühne stehen und eine ihr bisher noch unbekannte Rolle spielen müssen vor einem Millionenpublikum. Naja, vor zwei Menschen, vor denen sie jetzt gerade nicht scheitern wollte: sie selbst und diese Frau.

Nachdem sie endlich ihre Tour beendet hatte und alles erledigt war, eilte sie aus dem Postgebäude, hinunter zur Ecke, bog ab, überquerte die Straße. Ein Auto bremste gerade noch rechtzeitig, Lea stolperte und fiel, sprang sofort wieder auf. Ein Mann schnauzte sie durch das Seitenfenster an, stieg aus.

»Tschuldigung«, rief Lea gehetzt, »Meine Schuld! Alles in Ordnung, hab ’s furchtbar eilig!« Lea lief wieder los und ließ den schimpfenden Mann zurück. Mist, sie hatte sich die Hand aufgeschürft. Erst als sie kurz vor dem Haus war, wurde sie langsam. Sie wollte erst zu Atem kommen, kontrollierte ihre Hand. Sie blutete ein klein wenig. Schmutz hatte sich in die Haut gesetzt. Die Wunde brannte. Egal. Atmen, ruhig werden, klingeln.

Die Frau öffnete und Lea musste an sich halten, sie nicht zu umarmen. Sie folgte ihr ins Haus, während ihr Blick die Frau betrachtete, ihre zierliche Gestalt, ihren leisen Gang, wie sie wieder mit den Armen ihre Strickjacke um sich geschlungen hielt. Das Wohnzimmer war ein aufgeräumter weißer Raum mit hellem Teppich und den zugezogenen langen Gardinen. Der Tisch war gedeckt und es stand duftender Reis darauf und eine Schale mit köstlich aussehendem Curry. Daneben standen ein Korb mit in Streifen geschnittenem selbstgemachtem Fladenbrot und ein Schälchen mit gewürztem Joghurt. Das Essen roch köstlich orientalisch.

Die Frau bat sie zu Tisch. »Entschuldigung. Nicht Zeit zu kochen.«

Lea staunte nicht schlecht. Da stand eine Königsmahlzeit und die Frau behauptete ernsthaft, sie hätte keine Zeit gehabt, richtig zu kochen. Was würde sie erst an Festtagen zubereiten? Kandierten Elefanten versteckt in selbstgefangenem Dinosaurier-Sauerbraten mit Edelweiß-Pastetenmantel? Lea kam sich plötzlich vor, wie ein dummes, faules Küken. »Sie müssen doch nicht für mich kochen. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

»Natürlich gibt es Essen. Wenn Besuch, dann essen.«

Ja, natürlich. Lea selbst hätte einfach einen Kaffee gemacht. Sie schämte sich ein wenig. Vielleicht war diese Person doch eine Liga zu hoch für sie. »Ist ihr Mann nicht da?«, fragte Lea, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden und um endlich Klarheit zu kriegen, welche Rolle der Starrenberg hier spielte.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Fast zwei Stunden. Dann er kommt.«

Die Frau hatte nicht widersprochen, Starrenberg schien also doch ihr Mann zu sein. Lea versuchte sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Darf ich mir die Hände waschen?«

»Sicher, kommen Sie.« Die Frau führte sie eine Treppe hinauf. »Da.« Ihr Blick fiel auf Leas Hand. »Was passiert?!«, rief sie. »Kommen Sie!«

Sie ging mit Lea ins Badezimmer und nahm aus einem Schrank ein dunkles Fläschchen und aus einem anderen einen Waschlappen. Sie spülte das ohnehin saubere Waschbecken aus, ließ heißes Wasser einlaufen und legte eine Seife hinein.

Lea winkte ab. »Nein, nein, das geht schon, das ist nicht schlimm.«

»Muss sauber sein. Sonst krank.«

»Danke, aber das geht schon.«

»Kommen Sie, komm.« Die Frau winkte Lea beharrlich heran und zog sie zum Waschbecken. Mit einem erstaunlich festen Griff umfasste sie Leas Handgelenk. »Tut weh. Nur kurz, bald vorbei. Muss sauber sein.« Sie reinigte mit der Lauge und dem Waschlappen die Wunde. Ja, es tat weh. Die Frau war nicht zimperlich, sondern wusch die Wunde beherzt und zügig aus. Dann spülte sie sie ab und tupfte den scharf brennenden Alkohol mit einem Wattebausch darauf. Alles, was sie dazu sagte, war: »Tut kurz weh.« Lea wollte bei dem plötzlichen Schmerz die Hand zurückziehen, doch der Griff dieser Zierde der Menschheit ließ nicht einmal ein Zucken zu. Von ihrer Schüchternheit war nichts mehr zu spüren.

»Ah, Scheiße!«, schrie Lea auf.

Da lächelte sie die andere auch schon wieder sanftmütig an. »Schon vorbei. Jetzt besser. Nur noch was zum Schutz.«

»Zum Schutz? Einen Elefanten?« Leas Blick fiel auf den steinernen Elefanten auf der Brust der Frau. Sie schluckte, um sich wieder loszureißen.

Die Frau lachte leise. »So stark muss es nicht sein. Reicht Stoff.«

Lea setzte sich auf den Badewannenrand. Die Frau holte einen Mullverband aus dem Schrank und griff nun zart nach Leas Hand. Lea schloss die Augen, um ihr nicht auf die Hände zu starren oder ins Gesicht. Die Frau wickelte ihr behutsam den Verband um die Hand. Als sie fertig war, lag Leas Hand in ihrer Linken und sie legte die rechte Hand darüber. Lea öffnete die Augen und sah auf diese Hände, die ihre hielten. Sie hob ihre gesunde Hand und strich über den Handrücken der Frau. Sie konnte nicht anders. Spürte die zarte Haut, die Knochen darunter. Lea hatte Angst, die Frau könnte die Geste verstören, doch sie hörte nur wieder diese leise, warme Stimme: »Jetzt besser?«

Lea schaute zu diesen tiefgrünen Augen auf, die ihr verboten waren. Sie zwang ihren Blick davon wieder weg und nickte. »Ja. Danke«, sagte sie und ihre Stimme war so schwach wie ihr Herz, das sich wie ein krankes Tier in einer Höhle verkriechen wollte. Die Frau hielt sie noch eine lange Sekunde fest, bevor sie sie losließ und aus dem Bad ging.

Unten setzte Lea sich an den Tisch. »Das sieht köstlich aus«, sagte sie. Ihre Stimme war immer noch so schwach wie die einer Maus. »Es freut mich wirklich sehr … Deutschland muss ihnen sehr kalt vorkommen. Hier wird nicht immer sofort gekocht, wenn jemand kommt.«

Die Frau hatte sie wahrscheinlich nicht ganz verstanden. »Ja, kalt«, sagte sie.

»Sie wollten mir etwas erzählen.«

Die Frau musterte sie und überraschte sie mit einer Frage. »Warum traurig?«

»Wer?«

»Sie«, sie deutete mit der Hand auf Lea.

Lea lächelte verlegen und wandte den Blick wieder ab. »Es ist nichts. Es ist nur … Ach, es ist nichts. Ich bin zu viel alleine, glaube ich. Es hat schon lange niemand mehr meine Hand so gehalten.« Lea lächelte. Es hatte ohnehin keinen Sinn, jetzt großartig zu lügen. So formuliert war es vielleicht harmlos genug.

Der tiefe grünbraune Blick wurde noch dunkler. Die Frau nickte. So leise und ernst, dass es kaum zu sehen war und doch so viel Verständnis daraus sprach. Dass es keine Worte mehr brauchte, um zu vermitteln, dass auch sie nur zu gut wusste, was Einsamkeit bedeutete. Dass sie eine Einsamkeit kannte, die Lea niemals kennengelernt hatte, die so tief sein musste, tiefer als die Abgründe der Meere und leerer als die unendlichen Leeren der Steinwüsten.

 

»Eigentlich geht es mir gut«, ergänzte Lea. »Nur als Sie eben meine Hand gehalten haben, ist es mir aufgefallen. Ansonsten bin ich zufrieden. Ich habe alles, was ich brauche … Wissen Sie, dass ich ihren Namen immer noch nicht kenne? Ich bin Lea. Verraten Sie mir ihren Namen?«

Die Frau zögerte einen kurzen Moment, so als müsse sie über die Antwort erst nachdenken. »Farimah. Ich heiße Farimah.«

»Farimah«, wiederholte Lea und lächelte leise. »Woher kommt der Name?«

»Ist arabischer Name.«

»Arabisch. Ah.«

Auch Farimah lächelte, doch irgendetwas verbarg sie wieder in ihrem Lächeln. Sie füllte die Teller und die beiden Frauen aßen. Als sie fertig waren, fragte Lea erneut. »Was wollten Sie mir vorhin nicht sagen, was ist passiert?« Farimah schaute zur Seite zum Fenster. Sie atmete angestrengt durch. Als sie nicht antwortete, fragte Lea vorsichtig nach. »Betrifft es ihren Mann auch?«

Farimah nickte.

»Farimah, was ist es?« Lea ließ ihre Frage im Raum stehen und ließ ihr Zeit.

»Ich glaube, ich schwanger.«

Lea presste ihre Kiefer aufeinander, dass ihre Wangenknochen hervortraten. »Freuen Sie sich?«

Farimah nickte: »Ich glaube, ja … Ich schon.«

»Und ihr Mann?«

»Ich weiß nicht.« Farimahs Stimme zitterte. Sie schien Angst zu haben. »Er weiß noch nicht. Ich hoffe, dann endlich heiraten. Er will nicht heiraten. Jetzt Kind. Ich hoffe, jetzt heiraten. Jetzt muss, sonst schlimm für Kind.«

In Lea formte sich ein Gedanke. »Können Sie für lange Zeit hier in Deutschland bleiben?«

Farimah schien die Frage zu beunruhigen. Sie antwortete nicht, rutschte nur unsicher auf ihrem Stuhl hin und her.

»Naja, es wäre sicher besser für Sie, wenn Sie heiraten. Sie könnten ohne Probleme hierbleiben.«

Farimahs Miene verfinsterte sich. Sie schien sich innerlich in irgendwelche Untiefen zurückzuziehen und nachzugrübeln. Auf ihrer Stirn lagen tiefe Falten, ein farbloser Schatten hatte sich auf ihr schmales Gesicht gelegt. Dann nickte sie. »Ich mache Kaffee.«

Lea schaute auf die Uhr. »Vielen Dank, ich würde gern noch bleiben, aber ihr Mann kommt gleich.«

Auch Farimah schaute auf die Uhr und schien sich ein wenig zu erschrecken. »Aber Sie haben noch keinen Kaffee.«

»Das macht nichts. Ich denke, ihr Mann ist müde nach der Arbeit. Es ist sicher besser, wenn ich jetzt gehe. Ich kann ja noch mal wiederkommen.«

Farimah lächelte dankbar. An der Tür drehte Lea sich noch einmal zu ihr um. »Sagen Sie es ihm bald. Und danach sagen Sie mir, wie es war. Wahrscheinlich wird er Sie heiraten.« Noch immer lag ein tiefer Schatten auf Farimahs Augen. Sie nickte, doch es wirkte so, als würde sie Lea nicht glauben. Und da war auch wieder diese Sehnsucht, dieses Festhaltenwollen, diese unsichtbaren Hände, die nach Lea griffen. Lea sank tief in dieses unergründliche grünbraune Meer. »Danke«, sagte sie und riss sich los. Sie wollte Starrenberg nicht begegnen.

In den folgenden Tagen traf Lea Farimah nicht. So auch in der folgenden Woche. Lea war nervös. Was war geschehen? Hatte Starrenberg seine Freundin etwa rausgeschmissen, weil sie schwanger von ihm war? Das würde er doch nicht ernsthaft tun. Haushaltshilfe hatte er sie damals genannt. Er hatte nicht zu ihr gestanden. Ob Farimah selbst die Schnauze voll hatte und gegangen war? Lea hatte nicht den Eindruck, dass Farimah so etwas tun würde. Nicht, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Oder etwa doch? Vielleicht war ihr Lea ja gar nicht so wichtig.

Zu Hause lag sie auf ihrem Bett und schlug in ihr Kopfkissen. Farimah hatte ihr von der Schwangerschaft erzählt, bevor sie es ihrem Mann erzählt hatte. Das tat man nur bei Freundinnen. Wegen der dummen Hand hatten sie gar nicht genügend Zeit gehabt, sich zu unterhalten und Lea hatte es verpatzt, die richtigen Fragen zu stellen. Sie griff sich in die Haare und zerrte daran. In diesem Moment konnte sie sich selbst nicht leiden.

Lea wusste nicht mehr, welche ihrer Wahrnehmungen und Intuitionen richtig waren und welche nur dumme Lügen. Ihr Eindruck ließ sie vermuten, dass Farimah in einer sehr großen Abhängigkeit gefangen war. Das konnte jedoch auch Einbildung sein. Welche konkreten Hinweise gab es schon – Lea kam nur einmal am Tag für eine halbe Minute vorbei, stand nur vor dem Haus. Farimah war immer da, hatte aber noch nie irgendwelche Post bekommen. Jetzt war sie plötzlich verschwunden oder kam nicht mehr zum Fenster. Möglicherweise machte sie dem Starrenberg wirklich nur den Haushalt. Das wäre zwar nicht unbedingt romantisch, aber durchaus möglich. Sehnsucht wuchs in Leas Brust und nahm von Tag zu Tag immer mehr Raum ein. Sehnsucht und die stetige Frage, wie es Farimah wohl ging.

Hpa-an, Birma, Ende Juni 1996

San Youn saß auf dem steinernen Boden in dem fremden Haus. Dämmeriges Licht kroch durch das kleine Fenster hinein. Sie fror. Irgendwann öffnete sich die Tür, der fremde Mann brachte ihr eine Suppe. Sie war noch nicht fertig mit der Suppe, als er wieder kam. Diesmal war ein zweiter Mann dabei. Er war gut genährt und der untere Teil seines Gesichtes war hinter einem dichten Bart versteckt. Über dem Bart ragte eine große Nase hervor und seine kleinen, nah beieinanderstehenden Augen hatten irgendwie den Anschein, als würden sie nicht in dieses Gesicht gehören. Er kam auf San Youn zu, musterte sie mit seinen seltsamen Augen gründlich und nickte dem anderen Mann zu. Kurze Zeit später saß San Youn mit ihm in einem Auto, das knatternd durch die Stadt fuhr. Der Mann sprach kein Wort. San Youn versuchte, so wenig wie möglich da zu sein. Was hatte das zu bedeuten? Wo fuhren sie hin? Sie starrte aus dem Fenster und versuchte, irgendwelche Hinweise oder Zeichen zu finden. Eine Moschee zog am Fenster vorüber und Pagoden mit glockenförmigen, mit Blattgold überzogenen spitzen Stupas. Ob sie ein gutes Zeichen waren? Der Fahrer war ihr unheimlich. Sie hatte Angst. Schon wieder Angst. Die Spitzen der goldenen Stupas glänzten im Sonnenlicht, das durch die dichten Wolken brach. Von den Sonnenstrahlen beschienen, hoben sie sich von dem dunkelblau-grauen Himmel ab. Ein Frosch aus weißem Stein lächelte San Youn freundlich zu. Argwöhnisch schaute sie ihm hinterher, als sie an ihm vorbeifuhren. Sie beobachtete das Flussufer. Am anderen Flussufer erhob sich ein Berg, über dessen bewaldeten Hängen plötzlich ein feiner Regenbogen schimmerte. Dies mussten gute Zeichen sein. San Youn schöpfte, noch tief unter ihrer Angst vergraben, wieder neuen Lebensmut. Den Marktplatz umfuhren sie im weiten Bogen. San Youn konnte das dichte Gedränge auch von weitem sehen. Hier würden sicher auch Europäer sein, die Reis kauften. Denn hier gab es alle Arten von Menschen: Bamar, Mon, Rohingya und viele andere. Und sicher auch Europäer.

Sie fuhren auf einen Parkplatz vor einem großen Haus. Der Wagen hielt und San Youn wurde in das Haus geführt, zwei Treppen nach oben, einen dunklen Flur entlang und dort wurde sie erneut in ein Zimmer gesperrt. Es gab kein Fenster, deshalb war es auch am Tage so dunkel wie in der Nacht. San Youns Angst wuchs wieder. Es hatte doch die guten Zeichen gegeben. Sie dachte an den Frosch und die goldenen Stupas, um sich zu beruhigen. Nach Stunden verlor sie das Zeitgefühl. Niemand kam. Es gab kein Wasser und nichts zu essen. Die Stunden vergingen noch quälender als in dem Haus zuvor. San Youn wusste nicht mehr, ob Tag oder Nacht war. Sie fing an zu weinen, verstummte wieder, wiegte sich vor und zurück und wimmerte vor sich hin. Draußen vergingen ein Tag und eine Nacht, ohne dass San Youn es wusste. Es gab nur die Dunkelheit und das Geräusch ihres Atems und ihren wachsenden Durst. Noch ein Tag verging, ohne Nahrung, ohne Wasser.

Dann ging plötzlich die Tür auf. Das wenige Licht, dass so plötzlich hereinfiel, stach ihr in den Augen. Zwei Männer betraten den Raum, einer hatte einen Beutel dabei. Als sie sahen, dass San Youn sich eingemacht hatte, fluchten sie. Sie bekam eine deftige Ohrfeige. Der eine Mann ging und kam kurz darauf mit einem Eimer mit Wasser zurück. San Youn musste den Schmutz wegputzen und sich waschen. Die Männer schauten ihr dabei verdrießlich zu. Sobald sie fertig war, machte der eine Mann eine Geste, die San Youn nicht verstand. Als sie nicht reagierte, schrie er sie an und schlug sie erneut. Er holte eine Wasserflasche aus dem Beutel und hielt sie San Youn vor die Nase. Sie wollte danach greifen, aber der Mann zog die Flasche wieder weg. Er wiederholte seine Geste. San Youn bekam panische Angst. Und dann musste sie erneut durch die Hölle der menschlichen Perversion. Da gab es nichts zu verstehen. Nur Schmerz. Sie wartete darauf, in Stücke gerissen zu werden, doch ihr Körper hielt zusammen, fiel nicht auseinander. Später erfuhr sie, dass man es »zurichten« nannte. So, wie wenn man einen Elefanten oder einen Ochsen dressierte. San Youn wusste, dass man das bei Elefanten mit viel Gewalt tat. Man tat den Elefanten so sehr weh, dass sie beim Verkauf dem neuen Besitzer blind gehorchten. Denn nach all den Quälereien war er der Gute und sie würden nicht vergessen, was ihnen angetan wurde.

San Youn wünschte sich, zu sterben. Sie musste lernen, ohne Grenze alles zu tun, was man ihr sagte. Sie musste lernen, verschiedene Laute dabei zu machen. Sie wollte das nicht und konnte es nicht. Diese Fremden taten ihr so weh, dass sie es nach einer stundenlangen Tortur schließlich doch versuchte. Die Angst und der Schmerz nahmen ihr jede Fähigkeit zur Auflehnung. Es sollte nur aufhören. Es sollte einfach nur aufhören. Nach einer unendlich langen Zeit wurde es plötzlich wieder dunkel und endlich friedlich. Sie war ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kam, war es immer noch stockdunkel. Die Männer waren weg. Sie fand eine Wasserpfütze auf dem Boden. Gierig stürzte sie sich darauf und leckte die Feuchtigkeit auf. Dann schlief sie matt ein, eingehüllt in einen Nebel aus Schmerz.

Viermal kamen die Männer. San Youn lernte, dass nichts das Schlimmste war und dass es immer noch schlimmer kommen konnte und dass es nicht aufhörte. Man wollte ihren Willen, ihren Geist, ihre Seele endgültig zerbrechen und sie zu einem Roboter machen. Und irgendwann gelang es. San Youns Seele verließ ihren Körper und zurück blieb ein Stück kaputtes Fleisch, das blind gehorchte.

Danach hatte sie ein paar Tage zum heilen, bevor es erneut auf Reisen ging. Mit dem Auto wurde sie stundenlang durch die Stadt und durch das Land gefahren. Endlich konnte sie wieder hinaussehen. Endlich gab es ein Fenster. Solange sie fuhr, konnte ihr nichts geschehen. Stur schaute sie aus dem Fenster und wünschte sich wieder in den Wald. Warum war sie dort nicht einfach gestorben? In den letzten Tagen hatte sie noch etwas lernen müssen. Einen seltsamen Namen. Farimah hieß sie jetzt. Das war nun ihr neuer Name und es war ihr recht. Denn dieses Leben gehörte nicht mehr ihr, ebenso wenig wie ihr Körper. Da konnte sie auch einen anderen Namen annehmen.

Von Hpa-an aus fuhren sie auf einer Nebenstraße unter Palmenalleen, vorbei an Regenbäumen und Reisfeldern, die der Regen überflutet hatte. Geschwungene grüne Hügel und weiße und goldene Pagoden zogen unter dem Regen an San Youns Gesicht vorbei. Dies war nicht das echte Leben. Es musste ein grausamer Traum sein. Wieder kamen sie in eine Stadt, diesmal in eine noch größere. Wie im Traum beobachtete San Youn auf dem großen Fluss Doppeldeckerschiffe und kleine Boote, die an Flussinseln vorbeiglitten. Sie wünschte sich auf diese Inseln, in das Grün, zwischen die Felsen. Aber da bogen sie schon wieder ab und der Fluss war fort. Ihr Blick haftete sich an Palmen, bis er kurz darauf schon wieder davon losgerissen wurde, durch eine Kurve oder einen Bus, der sich dazwischenschob. Die Häuser hier waren alt und sahen fremd aus, zerfielen langsam in der tropischen feuchten Hitze. Auch hier gab es große Klöster. Aber San Youn glaubte nicht mehr an ihre Rettung. Wie betäubt betrachtete sie den dicht gedrängten Verkehr.

Der Wagen hielt auf einem riesigen Parkplatz vor einem noch größeren Gebäude. Sie stiegen aus. Überall waren Leute. Ein schrilles Geräusch donnerte plötzlich über sie hinweg. Ein riesiger Vogel aus Stahl schien fast auf sie herabzufallen, verschwand dann aber doch hinter dem Gebäude. Als sie das Gebäude betraten, begriff sie langsam. Dies musste ein Flughafen sein. San Youn hatte noch nie ein Flugzeug aus der Nähe gesehen. Sie kannte nur die weit entfernten, kleinen glänzenden Dinger, die manchmal über den Himmel flogen und weiße Streifen hinter sich herzogen. Die Flughafenatmosphäre und die Größe des Rollfeldes verunsicherten sie erneut. War jetzt alles überstanden und sie würden sie nach Europa schicken? Sie bekam ein Stück Papier mit kantigen Zeichen darauf. Es musste eine fremdartige Schrift sein, denn warum sollte man ein Papier mit ihrem Foto machen und es mit mehreren Reihen komischer Verzierungen versehen. Noch einmal wurde ihr dieser Name eingetrichtert. Und nach einer ungeduldigen Wartezeit konnte sie durch die Passkontrolle und dann in das Flugzeug.

 

Es fühlte sich seltsam an, als das Flugzeug abhob. Und noch seltsamer sah es aus. Die Häuser wurden zu winzigen Würfeln, es zeigten sich grüne Bereiche. Von oben konnte San Youn sehen, wo man dem Wald wehgetan hatte. Kein Wunder, dass er ein zorniger Geist war. Die Felder sahen eckig aus von oben, unbelebt. Alles wirkte so fremd, so als habe es keine Gerüche. So als wäre es ganz klein. Ob sie ihren Wald je wiedersehen würde? Ob es in Europa auch so einen Wald gäbe? San Youn hatte den Eindruck, ihr Land, ihre Heimat endgültig zu verlassen. Den Wald, ihr Dorf, ihre Sprache, ihre Geschwister, ihre Mutter, ihr Leben und nun auch ihren Namen. San Youn fürchtete, in eine Welt zu fliegen, die schrecklich war. In der es nur noch Farimah geben würde, mit all dem Grauen, dass zu Farimah gehörte. Aber hier, dort unten, gab es nichts mehr. Das Dorf gab es nicht mehr, San Youn gab es nicht mehr. Das dort unten hatte sie zu Farimah gemacht und San Youn endgültig ausgelöscht.

Nachdem sie gelandet war, wurde Farimah im Flughafen von einem Mann abgeholt. Ein buschiger Oberlippenbart versteckte seinen Mund und sein zurückgekämmtes Haar glänzte fast ebenso überheblich wie die Goldkette um seinen Hals. Seine Augen waren hinter einer großen Sonnenbrille mit goldenen Rändern versteckt. Noch im Flughafengebäude musterte er Farimah kritisch. Dafür nahm er seine Brille ab. Er sah sehr finster aus. Seine Augen lagen tief in den Augenhöhlen und seine Blicke stachen daraus hervor, so als würde er alles, aber auch alles sehen. Kurz darauf setzte er die Brille wieder auf und führte Farimah zu einem Auto. Farimah wusste sofort, dass er kein guter Mensch war. Auch seine Sprache klang fremd. Ein Sprachklang, wie sie ihn noch nie gehört hatte. Das stellte sie zumindest fest, als er mit einem kleinen Telefon sprach. Sie versuchte herauszufinden, wo sie war, aber es gelang ihr nicht.

Sie verließen die Region des Flughafens und fuhren lange durch die Stadt. Das Erste, was Farimah an diesem unbekannten Ort auffiel, war, dass man hier auf der linken Straßenseite fuhr. Außerhalb der Stadt gab es nur die Farben Braun und Grau. Sonst nichts. Keinen Wald. Auch hier war es heiß, nur dass diese Hitze Farimah unerträglich erschien. Anders als zu Hause war diese Hitze viel zu trocken. Sie machte ein unangenehmes Gefühl im Kopf und trocknete die Lunge aus. Farimah stach das grelle Sonnenlicht in den Augen und das Klima trocknete ihr die Kehle aus. War das Europa? Hier gehörten Elefanten wirklich nicht hin, dachte sie. Hier würde ihre Haut verbrennen. Alles war trocken.

Nach einer langen Fahrt kamen sie wieder in eine Stadt. Die Häuser waren alle sehr groß, reichten teils bis in den Himmel, so hoch wie sonst nur Bäume reichten. Vor einem nicht ganz so hohen, jedoch sehr eleganten Haus hielt der Wagen. Das Haus war weiß und prächtig. Farimah wurde aus dem Wagen gezogen und hineingebracht. Rote Teppiche lagen auf dem Boden, Lampen, wie Farimah sie noch nie gesehen hatte, hingen von den Decken, ein Springbrunnen stand an der Seite des Raumes. In dieses Zimmer würde fast ein Elefant passen, so groß war es. Farimah fühlte sich klein, so unendlich winzig. Ihre Knie zitterten. Sie gingen durch den Raum hindurch und auf der anderen Seite verließen sie das Haus wieder. Es gab einen Innenhof und dahinter noch ein flacheres Gebäude, von dem der Putz bröckelte. Dort wurde sie hineingeführt. Die Pracht war hier zu Ende.

In einem Zimmer saßen viele Frauen und Mädchen. Alle waren sie sauber und wie zu einem Fest geschmückt, trugen bunte Kleider und ihre Gesichter waren eigenartig bemalt. Aber nicht mit dem gelben Thanaka, wie es zu Hause üblich war. Ihre Lippen waren extrem rot, ihre Wangen auch, ihre Augen schwarz umrandet, sodass sie hervorstachen. Ängstliche Augen. Als Farimah hereingeschoben worden war, hatten all diese fremden, seltsamen Augen kurz aufgeschaut, sich aber sofort wieder abgewandt. Der Mann verschwand auch wieder.

Niemand redete mit ihr. An den Wänden standen klapprige Etagenbetten aus dünnen weißen Metallstäben. Die Farbe blätterte von den Gestellen und die Matratzen waren alt und fleckig. Es gab nicht genug Betten für alle. Die jungen Frauen saßen auf den Betten und auf dem Boden. Es gab mehrere Spiegel und eine Stange, an der viele bunte Kleider aufgehängt waren und Dinge, von denen Farimah sich nicht vorstellen konnte, wie man sowas anziehen sollte – und warum. Die Luft war erfüllt von beißenden, süßlichen Gerüchen, wie Farimah sie noch nie gerochen hatte.

Plötzlich ertönte eine verzerrte Stimme. Sie kam aus einem Kasten, der oben an der Wand hing. Sofort stand eine der Frauen auf und ging aus dem Raum. Nach etwa drei Stunden ertönte der Name Farimah aus dem Kasten. Farimah und noch ein Name. Ein Mädchen, etwas älter als Farimah, stand auf und wartete an der Tür. Ihren Gesichtsausdruck konnte Farimah nicht deuten. War sie wütend? Farimah erhob sich und folgte ihr unsicher. Das Mädchen führte sie wieder über den kleinen Innenhof, doch gingen sie diesmal durch eine andere Tür, nicht durch die zu dem prächtigen Saal. Sie stiegen eine Treppe hinauf, gingen dann einen kahlen engen Flur entlang und wieder durch eine Tür. Sie befanden sich in einem kleinen Durchgangsraum, an dessen Ende wieder eine Tür war und in dem es nichts als einen großen Spiegel gab. Farimah krampfte sich der Magen zusammen. Das Mädchen öffnete die Tür und sie kamen in einen großen Raum, ganz in Rot mit dicken Teppichen, Sofas und niedrigen goldenen Tischen, auf denen Wasserpfeifen standen und Aschenbecher. Es roch nach Tabakrauch und süßlich, aber anders als unten bei den Frauen. Das Licht war golden. An der Seite gab es einen Tresen. Daran saß der Mann mit dem Schnurbart und den tiefliegenden, stechenden Augen. Er gab dem Mädchen ein Zeichen und sie brachte Farimah zu ihm. Auch das Mädchen schien Angst vor dem Mann zu haben. Er sagte ein Wort und das Mädchen gehorchte.

Es machte die Sachen, die Farimah bei den beiden Männern in dem Steinhaus in Birma auch tun musste. Farimah stiegen Tränen in die Augen, als sie dem Mädchen dabei zusah. Dann sagte der Mann dieselben Worte zu Farimah. Und sie musste beweisen, wie gut sie gehorchen gelernt hatte. Sie wollte sich übergeben, würgte vergeblich. Ihr Magen war leer und ihr Herz auch. Farimah musste die Befehle in neuen Worten lernen, in einer neuen Sprache. Demütig gehorchte sie und lernte. Danach brachte das Mädchen sie wieder zurück. Es war furchtbar wütend auf sie und Farimah hatte ein schlechtes Gewissen. Doch wusste sie nicht so genau, warum. Sie konnte doch nichts dafür.

Zurück in dem Raum gab das Mädchen ihr ein paar dieser seltsamen Kleidungsstücke und zeigte, wie man sie anzog. Das Zeug war ausgesprochen unbequem. Das allein hätte Farimah nicht gestört. Viel schlimmer war, dass es sie unentwegt an das erinnerte, was sie eben noch getan hatte. Eine Kleidung, die den Körper nicht bedeckte und schützte, sondern ihn entblößte. Auch unter dem Kleid, das sie darüber zog, fühlte sie sich entblößt. Das Mädchen drängte Farimah auf einen Stuhl und begann unwillig, sie zu schminken und ihr die Haare zu machen. Beim Kämmen zog sie grob daran und versuchte, mit Farimahs immer noch recht kurzen Haaren etwas anzustellen. Sie fluchte. Alle anderen Frauen und Mädchen hatten lange Haare. Farimah dachte an ihre Opfergabe auf dem Feld bei ihrer toten Mutter und dem Bruder. Ob ihr das alles nur passierte, weil sie das falsche Opfer gebracht hatte? War es nicht genug gewesen? Sie biss sich auf die Lippen, um ihre Tränen runterzuschlucken. Das war nicht gerecht. Sie hatte sich solche Mühe gegeben. Sie hatte doch sonst nichts tun können. Und für die Soldaten konnte sie auch nichts. Sie hätte sie nicht aufhalten können, genauso wenig, wie es der Bruder gekonnt hatte.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?