Weiße Wölfe am Salmon River

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„Marc, danke dass du dich so für mich eingesetzt hast. Wahrscheinlich hast du sogar mein Leben gerettet. Ich bedanke mich auf diese Weise bei dir, ich werde dich ab jetzt 'Lakota' nennen.“

„Aha, und was bedeutet Lakota?“

Sie nahm seine beiden Hände und umschloss sie mit den ihren, dabei blickte sie ihn dermaßen verliebt an, dass ihm die Stimme versagte.

„Lakota heißt 'Freund, der zu mir steht' und mich nennst du bitte ab jetzt auch mit meinem Stammesvornamen …“, sie legte eine bewusste Pause ein. Marc hatte seine Sprache wiedergefunden, war auch sehr neugierig, hatte er doch über die Bedeutung von indianischen Vornamen einiges gelesen.

„Und wie lautet dein Name? Du machst es jetzt aber richtig spannend.“

„Shonessi!“

Marc zog die Augenbrauen hoch.

„Shonessi, was für ein schöner Name. Gibt es dafür auch eine Bedeutung?“

„Ja Lakota, die gibt es, jeder native Name hat seine Bedeutung. Und meiner bedeutet 'Tanz mit dem Wind'. Gefällt er dir?“

„Gefallen? Das ist der schönste Name, den ich je gehört habe. Er passt ganz wunderbar zu dir. Vorhin, auf dem Felsen. Du erinnerst dich? Da hast du getanzt, mit dem Wind. Das möchte ich gerne noch öfter sehen.“ Marc wurde sehr leise, auch er vergaß seine beiden Freunde. „Die Frau, die mit dem Wind tanzt: das war so grazil, so leicht und beschwingt, als wärst du eine Feder. So geschmeidig und anmutig habe ich noch nie eine Frau gesehen. Du bist die schönste Frau, der ich je in meinem Leben begegnet bin.“

„Meinst du das ehrlich? So was hat noch nie jemand zu mir gesagt.“

Ihre braunen Augen leuchteten.

„Ja, und ich habe gerade richtig Schmetterlinge im Bauch.“

Die Umgebung um sie herum versank. Hartmut saß mit offenem Mund am Tisch, bis es aus ihm herausbrach. „Was für ein Gequatsche. Sie macht sich doch nur an dich ran, merkst du das nicht? So ein Gewäsch, bist du besoffen? So redet doch kein Kerl…“

Marc fuhr herum, wie konnte er so dazwischen gehen.

„Bist du neidisch? … Dann pass mal auf: ja, ich bin betrunken – vor Glück, weil ich mich verliebt habe. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja gehen!“

Marc hatte vor Zorn einen roten Kopf bekommen und war aufgesprungen wie auch Hartmut.

Shonessi blickte mit stechenden Augen zu Hartmut, fasste Marc am Arm, zog ihn mit der einen Hand zu sich, drehte mit der anderen Hand seinen Kopf zu ihr, hauchte ihn an, „lass ihn, er ist dumm und eifersüchtig. Beachte ihn erst gar nicht. Schön waren deine Worte, sie kamen von Herzen, das habe ich gefühlt. Hier“, sie nahm die Hand von Marc, drückte sie auf ihr Herz. Ihr Ton änderte sich, wurde schneidend. „Er nennt sich dein Freund? So verhält sich kein Freund. Er hat es nicht verdient, dein Freund zu sein. … Komm her!“

Dieses 'Komm her' war so verführerisch, dass Marc spontan Hartmut vergaß. Hartmut fielen fast die Augen aus dem Kopf, kreidebleich wurde er im Gesicht, verlor die Fassung nach Shonessis Antwort, musste nach Luft ringen. Vor ihm verschwammen die Bilder, als Shonessi Marc leidenschaftlich küsste.

Gerhard stand auf und zog den widerstrebenden Hartmut mit sich. Marc und Shonessi waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie das nicht wahrnahmen.

Eine weitere Stunde später betrat eine gebieterische Erscheinung den Gastraum. Der Mann war augenscheinlich indigener Abstammung, Anfang dreißig. Seine dunklen, fast schwarzen Haare waren schulterlang mit einem Mittelscheitel. Er trug ein rotkariertes Holzfällerhemd. Aufmerksam blickte er sich im Raum um, ging dann zielstrebig auf die Sitzecke mit Marc und Shonessi zu. Er wollte seinen Augen nicht trauen, so vertraut und sich liebkosend hingen beide aneinander, bemerkten seine Anwesenheit in keiner Weise.

„Stör ich?“ Mit grimmigem Gesicht stellte er diese Frage, eine Antwort nicht erwartend. „Was soll das hier, Shonessi? Komm sofort mit!“

Shonessi legte ihre Stirn in Falten.

„Ich bleibe, Ahmik. Ich liebe Lakota und ich will bei ihm bleiben.“

Marc musste tief Luft holen, erst jetzt erkannte er in dem Fremden den Bruder von Shonessi. Ahmik blickte verdutzt von einem zum anderen.

„Lakota, wieso Lakota?“

„Weil ich ihn Lakota nenne, oder kennst du die Bedeutung des Namens nicht mehr?“

Ahmik verdrehte die Augen.

„Bist du völlig irre. Man droht dir mit Mord und du denkst an so einen Blödsinn!“

„Blödsinn? Das ist kein Blödsinn.“

Sie war aufgesprungen. Seine Bevormundung nervte. Bevor der Streit jedoch eskalierte, griff Marc ein.

„Shonessi, bitte! Dein Bruder hat Recht, du bist in sehr großer Gefahr. Geh mit ihm. Ich halt das nicht aus, wenn dir etwas zustoßen sollte.“

Shonessi wandte sich Marc zu.

„Liebst du mich? Willst du mich wiedersehen, dann sag es! Jetzt!“

Marc nahm ihren Kopf zwischen beide Hände, schaute sie ernst an.

„Ich liebe dich, und ich will dich wiedersehen.“

„Das will ich auch, komm einfach nach Yellowknife, hier ist meine mobile Rufnummer. Wenn du mich dort nicht findest, ich wohne auf Queen Mary Island, in Sunrise City. Hier ist meine Adresse.“

Sie gab ihm eine Karte mit ihrer Adresse und Telefonnummer. Zur Antwort nahm er sie fest in seine Arme und streichelte ihr über die Haare. Ahmik stand die ganze Zeit ohne ein Wort zu sagen daneben. Dann griff er ihre Hand, widerwillig folgte sie ihm aus dem Gastraum.

Zurück blieb Marc. Nachdenklich setzte er sich nochmals an den Tisch, sah aus dem Fenster noch beide mit dem Pickup davonfahren. Er bestellte sich einen Whiskey und versuchte, sein Gedankenchaos zu ordnen. Es gelang ihm nicht, so machte er sich auf den Weg in sein Zimmer. Als er schon die Hälfte der Treppe hinter sich hatte, betraten zwei Männer den Gastraum. Er hielt inne, in seinem tiefsten Innern spürte er Gefahr. Er stand auf dem unteren Absatz der Treppe, als er die beiden hörte. Da erkannte er einen der beiden, es war der jüngere der beiden Männer aus dem Flugzeug. Schnell lief er die Treppe nach oben, um selbst unerkannt zu bleiben.

Die beiden Männer erkundigten sich an der Rezeption nach den Gästen, allerdings mussten sie den Nachtportier massiv bedrohen, um an die entsprechenden Informationen zu gelangen. Dann stürmten sie die Treppe hinauf, traten die Tür von Hartmuts Zimmer ein und rissen den Ahnungslosen aus seinem Tiefschlaf. Mussten dann aber feststellen, dass dieser keine Ähnlichkeit mit dem gesuchten hatte. Wortlos verschwanden sie fluchtartig aus dem Hotel.

Im Transporter rief der Mann aus dem Flugzeug, er nannte sich Fowler, seinen Vorgesetzten an.

„Mr. Baxter, wir waren ganz dicht dran. Aber hier sind sie nicht mehr. Der Typ aus dem Flugzeug hat sich wohl mir ihr aus dem Staub gemacht.“

Eine erzürnte Stimme antwortete am anderen Ende: „wie konnte das passieren. Ich dachte, Sie hatten alles im Griff. Von wem reden Sie? Klartext bitte!“

„Mr. Baxter. Erinnern Sie sich an diesen Mann an dem Zeitungsständer auf dem Flug nach Vancouver? Er muss uns belauscht haben. Ich habe ihn gesehen, als er sich mit Jeep und dieser Indianerin davonmachte, uns nach allen Regeln der Kunst austrickste. Hier in Watson Lake konnte ich ihn auch nicht finden. Wahrscheinlich ist er längst über alle Berge.“

„Mir ist egal, wie Sie das anstellen. Ich will Ergebnisse! Sie haben vier Wochen. Ihre letzte Chance. Nutzen Sie diese.“ Damit war das Gespräch beendet.

„Fahr los. Unser Ziel ist Yellowknife. Vielleicht können wir sie vorher noch abfangen. Der Weg bis dorthin ist lang. Wir müssen auch den roten Pickup von ihrem Bruder beachten.“

Reißende Wasser

Im Hotel, Hartmut völlig aufgelöst, rief um Hilfe. Als erster war Gerhard bei ihm, etwas später kam Marc mit hinzu, der zuerst die eingetretene Tür begutachtete.

Ich denke, das galt mir. Ihr Bruder hatte Recht. Die wollen sie tatsächlich umbringen. Ich muss sie wiedersehen, muss ihr helfen.

Mit diesen Gedanken ging er in das Zimmer hinein. Mit hochrotem Kopf ging Hartmut laut schreiend auf Marc los.

„Du blöder Hund, siehst du, was du angerichtet hast? Wegen dieser Indianerin riskierst du mein Leben? Vielleicht solltest du dich ein bisschen mehr mit uns absprechen. Ich hätte tot sein können, verstehst du das?“

Hartmut war wie von Sinnen. Marc dagegen die Ruhe selbst.

„Wieso, du lebst doch, bist noch nicht einmal verletzt. Und damit du Bescheid weißt: Ich bereue nichts, habe richtig gehandelt. Sie lebt und ist hoffentlich in Sicherheit.“ Sein Gesichtsausdruck verklärte sich. „Ich habe mich verliebt, ja, das habe ich.“ Nach kurzer Pause war er klar und deutlich. „Wenn ihr nicht wollt, dass wir uns hier und jetzt trennen, dann sollten wir uns jetzt vertragen und unsere Tour fortsetzen.“

Jetzt griff auch Gerhard ein, „du machst mit uns die Tour? Das hätte ich nicht gedacht!“

„So schlecht kennt ihr mich? Ich freue mich seit einem halben Jahr auf diese Tour, das lass ich doch nicht einfach so sausen.“

Gerhard umarmte Marc, auch Hartmut hatte sich wieder gefangen. Gerhard sprach beide zufrieden an.

„Das finde ich richtig gut. Und wenn wir unser Ziel erreicht haben, kannst du ja immer noch zu deiner neuen Liebe.“

Am nächsten Tag erkundeten sie die Umgebung und besichtigten den Schilderwald von Watson Lake. Dieser 'Sign Post Forest' ist berühmt für seine über 50.000 Orts- und Wegeschilder aus aller Welt, gesammelt seit 1942 von einem heimwehkranken Soldaten und nach seinem Tode ergänzt durch die Mitbringsel tausender Touristen.

Am Nachmittag stand der Einkauf von weiterer Ausrüstung und Lebensmittel an, insbesondere der Kochutensilien. Am darauffolgenden Morgen wurde das Gepäck, einschließlich der noch verstauten und zerlegten Boote, zum Flugzeug gebracht. Es handelte sich dabei um einen knallroten Hochdecker mit Schwimmern und großem Sternmotor. Zuerst verstauten sie die Boote im Flugzeug, Hartmut und Marc flogen mit. Nachdem die beiden samt Boote abgesetzt waren, folgte Gerhard mit dem restlichen Gepäck. Während des Fluges bemühte sich Marc um Versöhnung.

 

„Hartmut, ich weiß doch überhaupt nicht, ob ich sie jemals wiedersehen werde. Du hast sie gesehen, sie ist einfach phantastisch.“

Hartmut ging, wenn auch etwas missmutig auf Marcs Gesprächsangebot ein, bekam dabei sogar einen leicht verklärten Zug um den Mund.

„Du hast schon Recht, die hat eine Figur. Unglaublich! Die würde ich gerne mal nackt sehen und dann… ahh.“

Marc hörte es wohl. Früher hatte ihn solches Geschwätz nur bedingt gestört, er hatte einfach nicht hingehört. Er hasste solch abfälliges Gerede, ließ für ihn einfach jegliche Achtung vermissen. Auch von Hartmut hatte er das bereits so oft gehört, dass er ihm keine besondere Bedeutung beimaß. Mit einer Ausnahme, bei Ella hatte er es ihm verboten.

Er musste kurz an Ella denken, seine Traumfrau. Er verliebte sich unsterblich in sie, hatte plötzlich wieder ihr Bild im Kopf, diese langen schokobraunen Haare, ihren spitzen Mund, wenn sie ein bisschen schmollte oder kokettierte und ihre braungrünen Katzenaugen, die ihn so liebevoll ansehen konnten. Von einer Minute auf die andere war alles weg, sie war tot! Nie mehr würde er das wieder genießen können. Alles kam wieder hoch, Tränen.

Unwillkürlich verglich er Ella mit Shonessi. Auf den ersten Blick waren durchaus Ähnlichkeiten feststellbar, insbesondere bezogen auf das Äußere. Beide waren sehr schlank und zierlich, hatten lange glatte Haare. Auf den zweiten Blick war der Unterschied gewaltig: Shonessi war direkter, offenherziger, emotionaler, sagte immer, was sie dachte. Vielleicht nicht so abgeklärt und nicht so gebildet. Ella studierte, Shonessi nicht. Er kannte Shonessi noch nicht gut genug, genau genommen viel zu wenig. Dennoch nahm sie immer mehr von ihm ein.

Hartmut sah das, dachte es ginge um ihn.

„Marc, was ist los mit dir, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.“

Marc wiegelte ab, „nein, ist schon okay. Ich musste nur gerade an Ella denken. Entschuldigung, es ist einfach so über mich gekommen.“

Bei Ellas Namen schwieg Hartmut. Er sagte kein Wort mehr. Das sich Marc und Shonessi wiedersehen, während der Reise oder gar hier am South Nahanni war für ihn mehr als unwahrscheinlich, zumal Yellowknife und oder gar Queen Mary Island nicht auf der Reiseroute lagen. Zudem stand jetzt zwei Wochen Wildnis auf dem Fluss an.

Ziel waren die Moose Ponds, die Quellseen des South Nahanni Rivers in den Selwyn Mountains. Marc und Hartmut hatten bereits mit dem Aufbau der Boote begonnen. Beim Eintreffen von Gerhard lagen diese bereits fertig montiert auf dem flachen Kiesstrand. Um die Haut der empfindlichen Faltboote nicht zu verletzen, erfolgte die Beladung im Wasser. Nach einer weiteren Stunde war auch das geschafft.

Marc saß bereits im Boot und machte diverse Übungen, um Fahr- und Trägheitsverhalten kennenzulernen. Vorsichtig legte er das Kajak auf die Kante, stützte sich dabei zuerst mit einer flachen und dann mit einer hohen Paddelstütze ab. Zufrieden paddelte er zu Gerhard und Hartmut. Gerhard schimpfte jetzt schon über ihr Faltboot und mokierte sich über die Schwerfälligkeit des riesigen Kajaks. Um den Tiefgang zu minimieren, wurden die beiden Luftschläuche bis zum Anschlag aufgeblasen. Immerhin brachte das nochmals ein paar Zentimeter an Auftrieb.

Am Ausfluss des Sees war der Wasserstand so niedrig, dass die Boote getreidelt, also mit einer Leine im Wasser gezogen werden mussten. Glücklicherweise hatte der See viele kleine Abflüsse, die sich nach einigen hundert Metern zum eigentlichen Fluss vereinigten. Die Wassertiefe unter dem Kiel war jedoch immer noch recht knapp, so zog Marc es vor, das Kajak noch einige hundert Meter vom Ufer aus zu ziehen.

Die Strömung verstärkte sich jedoch immer mehr. Es gab kein Zurück mehr, er musste in das Kajak, auch auf die Gefahr von Verletzungen der Haut hin. Vorsichtig suchten er und seine Freunde die Ideallinie. Schon nach kurzer Zeit übernahm Marc die Führung, denn er hatte das kleinere und wendigere Boot. Der Abstand betrug ungefähr dreißig Meter zu seinen Freunden im Dickschiff. So bezeichneten er und Gerhard das Boot von Hartmut, weil es einfach riesenhaft war.

Immer wieder liefen kleine Bäche von den seitlichen Bergen zu. Die Wassermenge wurde mehr, der Fluss immer schneller. Die Breite hatte beträchtlich zugenommen. Der Charakter kam einem „sportlichen“ Fluss in den europäischen Alpen sehr nahe. Einfach schnell fließende Schwallstrecken über leicht abfallende Kiesbänke wechselten ab mit geringfügig verblockten Stellen, was so viel bedeutet, dass einzelne Felsbrocken im Gefälle der Strecke lagen, die aber ohne Probleme zu umfahren waren. Immer wieder folgten ruhige Passagen.

Hier, im oberen Bereich, überwog das leichte Wildwasser. So konnten sie sich hervorragend einfahren und bekamen das entsprechende Gefühl für ihre Kajaks.

Der Wasserstand war ideal, das Wetter trübe, aber trocken und die Sicht gut. Der Fluss wurde immer schneller. So meisterten sie am ersten Tag, obwohl sie erst um 01.00 Uhr mittags auf das Wasser kamen, noch fünfundzwanzig Kilometer. Am Spätnachmittag stoppten sie an einer großen flachen Kiesbank. Die Kajaks wurden wiederum im Wasser entladen, die Zelte aufgebaut.

Der erste Abend in unberührter Natur!

Hartmut suchte trockenes Holz, nach einer halben Stunde brannte das Feuer. Am Dreibein hing ein Wasserkessel, der im Lauf der Tour fast schwarz werden sollte. Gerhard hatte sich in ungefähr dreihundert Metern Entfernung auf einer kleinen Halbinsel am Ufer niedergelassen und seine Angel ausgeworfen. Ein großer Kochtopf stand mitten im Feuer. Hartmut bereitete das Kesselgulasch zu.

Marc setzte sich mit einer Tasse Tee auf einen Snag, einen toten Baum, der als Treibgut bei ablaufendem Hochwasser auf der Kiesbank liegengeblieben war. Seine Gedanken kreisten um Shonessi, er konnte ihr Bild einfach nicht aus seinem Kopf bekommen. Sie hatte Ella doch tatsächlich verdrängt. Wie schön sie doch war. Bei ihr stimmte nach Marcs Geschmack einfach alles; sie war von sehr schlanker Gestalt, dabei geschmeidig in ihren Bewegungen. Ihr Lachen verzauberte Marc, ihre braunen Augen zogen ihn in seinen Bann. Ihre langen glatten fast schwarzen Haare reichten ihr weit über die Schulterblätter hinab, glänzten wie Seide. Er hatte ihr Bild vor Augen, als sie sich zu ihm wandte, in diesem Ladengeschäft. Wie sie ihn ansah! Dieses Bild von ihr nahm immer mehr Raum bei ihm ein, wie sehr wünschte er sich, bei ihr zu sein.

Werde ich sie je wiedersehen?

Dunkle Wolken zogen sich am Horizont zusammen und die Moskitos wurden immer lästiger und bissiger. Das Abendessen wurde zur Qual. Geschützt durch Hut und Netz ließ es sich gerade soeben aushalten. Dann fing es an zu regnen. Alle zogen sich in ihre Zelte zurück, der Regen wurde stärker, er trommelte förmlich auf die Zeltplane. Bei Regen konnte Marc immer besonders gut schlafen. An den kommenden zwei Tagen wird der Fluss sie fordern, mehrere schwere Wildwasserpassagen standen an, dabei zwei besonders anspruchsvolle.

Am nächsten Morgen, es regnete immer noch in Strömen. Der Pegel war erheblich gestiegen, die Feuerstelle lag nun direkt am Wasser, am Tag zuvor noch zehn Meter entfernt, was einen halben Meter mehr Wasser bedeutete und das an dieser Stelle, der Fluss war breit und hatte Platz, viel Platz. Hartmut beobachtete prüfend den Fluss, während Gerhard und Marc das Frühstück zubereiteten. Eier mit Speck sollte es geben. Die Vorräte an frischen Sachen, wie Kartoffeln, Eier und Speck reichten für fünf bis sechs Tage. Zwei Stunden nach dem Aufstehen waren sie startbereit. Der Fluss war inzwischen noch weiter angestiegen und die Feuerstelle und Zeltplätze ebenfalls überflutet.

Hartmut stand unschlüssig auf der nur noch schmalen Kiesbank und kratzte sich hinter dem Ohr.

„Oh Mann, oh Mann. Das wird heftig heute. Hoffentlich halten das die Boote aus.“

Marc stellte sich neben ihn, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Hartmut, was redest du da? Das wird richtig interessant, die Faltboote halten was aus. Früher sind sie nur mit den Dingern gefahren. Euer Dickschiff ist doch bei der Wasserwucht eher von Vorteil.“

Schwierig war das Einsteigen. Direkt am Ufer hatten sie keine Chance. So wählten sie die kleine Halbinsel, auf der Gerhard am Abend zuvor gefischt hatte. Hier hatte sich ein starkes Kehrwasser gebildet, ideal zum Ausfahren in die Strömung.

Marc legte nun sein Kajak zuerst in das fast ruhige Wasser, setzte sich in das Boot und paddelte flussaufwärts steil in die heranbrausende Strömung. Diese nahm das aufgekantete Kajak in Windeseile mit. Mitten auf dem Fluss stützte er nunmehr das Boot und ließ sich ansonsten treiben. Die Fließgeschwindigkeit betrug an die fünfzehn Stundenkilometer, mit steigender Tendenz. Auch Hartmut und Gerhard fuhren ebenfalls sicher in die Strömung ein. Nun hieß es aufpassen und die Kräfte für die Stromschnellen einteilen.

Die leichten Schwallstrecken des Vortages waren verschwunden. Alle Stellen mit leichtem Wildwasser ebenso, der Fluss schoss einfach mit langgezogener kräftiger Wellenbildung darüber hinweg. Aber die schweren Stellen, die hatten es in sich. Der jetzt ungefähr fünfzig Meter breite Fluss verfiel auf die gesamt Strecke in eine lange Dünung, fast wie auf dem Meer. Auch die Biegungen waren relativ einfach zu meistern, indem sie die Innenkurve wählten. Beachten musste sie die vielen Nebenarme, mussten in der Hauptströmung bleiben. Die Geschwindigkeit war inzwischen sehr hoch, Kehrwasser an den Ufern nicht mehr vorhanden. Beide Kajaks knarrten und knirschten, liefen dabei dermaßen gut, dass es ein Genuss war. Die meisten mit Felsen verblockten Passagen waren abgesoffen, der Fluss selbst so breit, dass sie immer einen guten Weg wählen konnten.

Dann wurde der Fluss enger, der schwerste Abschnitt stand bevor, ein sogenannter dreifacher 'Dreier'.

Die Schwierigkeitsgrade beim Wildwasser werden von eins bis sechs gezählt. Eins kann auch noch von ungeübten Fahrern angegangen werden uns ist ungefährlich. Bei ´Sechs´ endet die Zählweise. Sie gilt gemeinhin als unfahrbar. In jüngster Zeit ist die Skala nach oben geöffnet worden, da früher als unfahrbar geltende Passagen befahren wurden. Bei Stufe zwei sind Felsen im Fluss, die von geübten Fahrern leicht umfahren werden können, der befahrbare Weg ist in der Regel gut zu erkennen. Die Stufen drei und vier erfordern sicheres fahrerisches Können. Fünf und sechs gelten als sehr schwer.

Voraus schien der Fluss in einer Waldschlucht zu verschwinden. Die Wellen erreichten Höhen von eineinhalb Metern, immer noch in Form einer langgezogenen Dünung. Es war ein Gefühl, ähnlich wie in einem Fahrstuhl. Ursprünglich wollten sie anlanden und die Stellen erkunden, der reißende Fluss und die Ufer ließen das jedoch in keiner Weise zu.

Marc, der voraus fuhr, erkannte die Gefahr erst sehr spät, in einer Rechtskurve plötzlich das „Inferno“, der erste 'Dreier', der bei diesem Wasserstand zum 'Vierer' mutierte. Im letzten Moment sah Marc linker Hand einen riesigen Felsklotz, groß wie ein kleines Einfamilienhaus, im Wasser liegen. Die Strömung ging knapp drüber. Mit letzter Kraft drückte und zog er sein Kajak knapp rechts vorbei. Neben ihm klaffte ein zwei Meter tiefes Loch mit einer mächtigen Walze dahinter.

Bloß nicht da hineinfahren!

Auch diese passierte er knapp auf der rechten Seite. Er wollte sich umdrehen, nach seinen Freunden sehen, der Fluss erforderte jedoch seine ganze Aufmerksamkeit.

Das Wasser vor ihm wurde zu einem zischenden gurgelnden Etwas, es gab weder eine Ideallinie noch eine erkennbare Durchfahrt. Der zweite 'Dreier' folgte. Fast wäre er an einem Felsbrocken gekentert, krachte mit seinem Boot seitlich dagegen, lautes Knacken signalisierten einen Spantenbruch. Mit letzter Kraft warf er sich mit seinem Körper auf den Felsen und vermied dadurch das Kentern. Die Strömung nahm ihn samt Boot schnell mit. Zum Glück wurde es etwas ruhiger, die Strömung war nach wie vor hoch. Er drehte sich um, hinter ihm sah er das zweite Kajak und den in die Luft gereckten Daumen von Gerhard. Ein altes Sprichwort wurde wahr: die Ruhe folgt vor dem Sturm. Vor ihm schien der Fluss einfach aufzuhören.

 

Hier gibt es doch keinen Wasserfall?

Marc wurde unruhig, seine Anspannung stieg ins Unermessliche. Die Hände krallten sich um sein Paddel. Das Weiße der Knöchel trat hervor. Als er die Kante erreichte, hielt er den Atem an.

Der dritte 'Dreier', normalerweise ein Parcours mit einem hohen Gefälle und kleineren Verblockungen. Auf den Bildern hatten sie diese Stelle eher als Zweier abgetan. Der Fluss schoss kerzengerade einen Abhang hinunter. Auf eine Länge von vierhundert Metern verteilten sich bei normalem Wasserstand viele kleine Stufen.

Davon keine Spur mehr. Wellen von einem bis eineinhalb Metern, einzelne gar noch höher taten sich in schnellem Wechsel vor ihm auf. Es ging wie auf einer überdimensionalen Rutschbahn mit atemberaubender Geschwindigkeit bergab. Dann stockte Marc der Atem.

Ach du Scheiße, was ist das denn? Eine Monsterwalze!?

Als Wasserwalze bezeichnet man eine spezielle, bei fließenden Gewässern wie Bächen und Flüssen entstehende Strömung des Wassers, die insbesondere bei hohen Gefällen immer wieder zu lebensbedrohlichen Situationen und auch Todesfällen führt. Dabei kommt es an der Wasseroberfläche zur Rückströmung, aus der sich auch ein guter Schwimmer ohne Hilfe nicht befreien kann. Bei entsprechender Wasserwucht dreht man sich praktisch wie in einer Waschmaschine.

Dort wo das Ende der Gefällstrecke war, tobte eine zwei bis drei Meter hohe Wasserwand aus Gischt, Wasserdampf und brechenden Wellen. In diesem Augenblick kämpfte sich die Sonne durch ein Wolkenloch, strahlte das Chaos vor ihm an … und zeigte ihm den Weg. Er paddelte rückwärts, so kräftig es ging und versetzte das Boot so um die notwendigen Meter auf die Seite. Er hatte die Ideallinie, eine Wasserzunge schoss mittig zwischen zwei riesigen Walzen hindurch.

Die Welle am Ende der Zunge erreichte allerdings eine Höhe von über vier Metern, überschlug sich aber nur ein wenig an der Krone. Mit seinem Faltboot schnellte er wie katapultiert empor, um am Kamm in ein tiefes Tal hinab zu rutschen. Konsequent hielt er das Kajak gerade. Der gleiche Vorgang wiederholte sich dann noch dreimal, wobei die Wellen immer niedriger wurden.

Danach verlor sich der Fluss in einem See. Er wendete sich, um seine beiden Freunde zu sehen. In diesem Moment sah er die Spitze des Aerius auf dem Kamm der hohen Welle. Auch sie hatten die Ideallinie. Dann sah er Gerhard. Er hielt das Paddel triumphierend über sich und jauchzte vor Freude. Kurz darauf lagen beide Kajaks friedlich und sanft schaukelnd nebeneinander.

„Na, wie war´s?“

Gerhard flippte fast aus vor Begeisterung.

„Das war das geilste, was ich je gefahren bin. Hammer! Wahnsinn!“

Hartmut war da schon wesentlich sachlicher.

„Da wollen wir mal ehrlich bleiben. Wäre Marc nicht vorgefahren, wären wir in die Walze gekracht. Du hast uns frühzeitig den Weg gezeigt, auch oben, beim ersten Felsen. Eine solche Wasserwucht habe ich noch nie erlebt.“

Sie klatschten sich noch gegenseitig ab und paddelten an das Ufer. Auf der Wiese reparierte Marc notdürftig die gebrochene Spante mit Textilklebeband.

Marc stellte nur lapidar fest, dass der T65 ein wahnsinnig gutes Boot sei und er über diese Wahl froh und glücklich war. Sie packten ihr Kartenmaterial aus und stellten bei der Standortbestimmung fest, dass sie das schlimmste hinter sich hatten.

Bis zu den Island Lakes war es nicht mehr weit. Von dort nur noch eine Tagesreise bis Rabbitkeetle Hot Springs, dem Eingang zum Nahanni National Park. Aufgrund des hohen Wasserstandes hatten sie zwei Tage an einem geschafft und paddelten noch weiter bis Moores Cabin in der Nähe der Island Lakes. Hier wollten sie auch übernachten, da die Ausrüstung von Hartmut und Gerhard zum Teil durchnässt war. Die Spritzdecke hatte es weggerissen. Bis auf die Schlafsäcke, Kleidung und Lebensmittel, denn die waren wasserdicht verpackt.

Die Hütte stand offen, konnte von jedem benutzt werden, wie so häufig bei Hütten in der kanadischen Wildnis. Innen sehr verdreckt und verwahrlost zogen sie es vor in ihren Zelten zu übernachten.

Das Wetter schlug endgültig um, es wurde sonnig und warm und oh Wunder, die Moskitos waren bis auf wenige verschwunden. Das sollte auch bis zum Ende der Tour so bleiben. Der Fluss wurde sehr breit, floss zwar immer noch sehr schnell dahin, so erreichten sie bereits am frühen Nachmittag den Eingang zum Nationalpark.

Hier war ein richtiger Steg mit Ausstieg für Kanuten angelegt. Marc paddelte mit kräftigen Schlägen vorneweg, diesmal dicht gefolgt von seinen Freunden. Auf dem Steg stand eine Person. Marc winkte und rief laut in die Richtung. Die Person winkte zurück, der Stimme nach zu urteilen eine Frau. Marc stoppte abrupt mit seinen Paddelschlägen und rief ein zweites Mal.

Täuschte er sich, oder stand dort tatsächlich Shonessi? Allein der Gedanke an sie verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Tief tauchte er das Paddel in das Wasser ein. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Wucht trieb er das Boot nach vorne. Er nahm so mächtig an Fahrt auf, dass seine beiden Freunde schnell zurückfielen. Immer näher kam er dem Steg, er rief ihren Namen. Deutlich erkannte er die Silhouette einer Frau mit langen Haaren. Sein Herz fing an laut zu pochen.

Er merkte, wie Bewegung in die Frau kam, sie rief ihm zu. Er konnte seinen Namen hören. Den Namen, den sie ihm gegeben hatte: „Lakota, Lakootaaa! Hier, hierher.“

Wenige Minuten später legte er an, war in Windeseile aus seinem Kajak heraus. Sie flog ihm geradezu in die Arme. Er küsste und herzte sie dermaßen, dass ein Außenstehender meinen konnte, hier hätten sich zwei Menschen ein Jahr lang nicht gesehen. Aus dem Sturm wurde die Ruhe, mündete in einen leidenschaftlichen Kuss.

Als sie endlich voneinander ließen, war es Marc, der zuerst das Wort ergriff.

„Shonessi? Du hier? Ich dachte, ihr wolltet nach Yellowknife?“

„Wollten wir auch, aber kurz vor Fort Liard haben sie uns dann aufgelauert. Wir konnten gerade noch entkommen. Ahmik hat einen Freund hier im Nationalpark.“

„Das war Schicksal, hilfst du mir beim Ausladen?“

Sie lachte ihn an, „ich habe so gehofft, dass du kommst. Ich wusste ja, dass ihr auf dem Fluss seid. Nur unser Freund sagte, dass der Fluss wegen Hochwasser gesperrt ist. … Egal, du bist da. Ich bin mir auch sicher, das sollte so sein.“

Sie schauten sich beide verliebt an. Hartmut und Gerhard hatten derweil ebenfalls angelegt. Shonessi lief mit der ersten Gepäckladung sofort los, nachdem sie seine beiden Freunde kurz begrüßt hatte. Hartmut starrte ihr nur hinterher, Marc beobachtete ihn dabei genau. Er musste an die letzten Gespräche mit ihm denken.

„Hartmut, was ist los? Willst du mir was sagen?“

Mit nicht nachvollziehbarem Gesichtsausdruck schleuderte er Marc eine Antwort entgegen, die ihn sprachlos machte.

„Kannst mich ja auch mal ran lassen, die macht mich richtig an!“

Gerhard mischte sich sofort ein.

„Hartmut, was soll das? Spinnst du? Sie ist die Freundin von Marc. Du bist sein Freund, vergiss das bitte nicht.“

Verächtlich lachte Hartmut, „Freundin? Nach einem Tag, das ich nicht lache. Die schmeißt sich doch an jeden ran und macht die Beine breit.“

Empört reagierte Gerhard: „Was redest du da? Woher willst du das denn wissen, du hast bisher kein Wort mit ihr gesprochen.“

„Hast du ihren Auftritt in Watson Lake vergessen, ich nicht!“

Marc konnte der Unterhaltung nur sprachlos folgen. Bis zu diesem Punkt. Er packte Hartmut am Kragen, seine Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an.

„Dann pass mal auf, mein Freund! Solltest du Shonessi auch nur ein bisschen zu nahe kommen, bekommst du Ärger. Verstanden?“

Hartmut blieb bei seiner Linie, er fasste Marc am Arm.

„Marc, wach auf! Das ist nur 'ne kleine Nutte, und genauso solltest du sie auch behandeln. Sie will nur an dein Geld …“

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