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Der Ochsenkrieg

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Wieder furchten sich die Brauen des Bauern. »Ist mir lieber, als am Windbach sennen.«

»Auf dem Hängmoos ist schlechter Boden.«

»Der ist besser worden. Wir haben Gräben geschlagen und viel Boden trücken gemacht. Freilich, viel Sumpfland ist noch allweil droben. Ist oft schon ein Stückl Vieh versunken.«

»Da wirst du selber dein gutes Melkvieh wohl nicht auftreiben?«

»Doch, Herr! Drei Küh hab ich im Stall für die Heimleut, achte sind auf der Alben.«

»Auf dem Hängmoos?« Herr Someiner erhob sich.

Verwundert sah Runotter den Amtmann an. »Wohl, Herr! Auf dem Hängmoos.«

»Runotter«, sagte Herr Someiner streng, »du bist mir bekannt als redlicher Mann. Drum will ich vorerst noch gütig bleiben. Aber ich muß jetzt doch —«

»Vater!« stammelte Lampert, dem vor Unmut das Gesicht brannte. »Du wirst mir das nicht antun wollen, daß ich —«

»Hier wird geamtet!« klang es würdevoll über das Pult herüber. »Da redet bloß der Amtmann und wer gerufen ist.«

Die erstaunten Augen des Richtmanns glitten zwischen den beiden hin und her. »Ihr Herren? Was ist denn da?«

»Das wirst du hören!« Herr Someiner öffnete den eisenbeschlagenen Schrank, holte den Hängmooser Almbrief hervor und legte das alte, mürbe Pergament auf das Pult hin. Er wollte sprechen. Doch das Gebaren des Sohnes machte ihn aufblicken. Lampert, an der Lippe beißend, tat einen Schritt gegen den Vater hin, sah ihm in die Augen, wandte sich ab und trat in die Kammer hinaus. Herr Someiner bekam einen roten Kopf. Auch im Klang der Stimme verriet sich sein Ärger. »Wieviel Vieh ist aufgetrieben zum Hängmoos?«

»Achtzig Köpf, Herr, nach unserm Weidrecht. Heuer sind zwanzig Kalben droben, dreiundvierzig Ochsen und siebzehn Milchküh.«

»Achtzig Köpf?« Der Amtmann sah in den Almbrief. »Das stimmt. Aber Melkvieh? Seit wann wird Melkvieh aufgetrieben zum Hängmoos?«

»Das ist wohl allweil so gewesen, ich weiß es nit anders.«

»So?«

»Den Hängmooser Sauerkäs, den hab ich schon gegessen, da bin ich noch Jungbauer gewesen und —« Auf der Brust des Richtmanns hob sich langsam der schwere Küraß. »Und ein Mensch im Glück! Lang ist’s her. Noch länger, wie daß mein Bub ein Krüppel sein muß.«

Der Amtmann mochte diese Erinnerung an das Glück des Runotter nicht gerne hören. Er sagte verweisend: »Tu nicht reden von Dingen, die nicht vors Amt gehören!«

Der Bauer biß die Zähne übereinander, und seine sonnverbrannten Fäuste klammerten sich härter um den Knauf des Holdenschwertes, das er vor sich stehen hatte.

»Und in der Sach, um die es dahergeht«, fuhr der Amtmann fort, »da mußt du dich irren, Runotter! Sauerkäs vom Hängmoos, sagst du? Man kann nicht käsen, wo kein Käser steht.«

»Auf dem Hängmoos steht doch einer.«

»Seit wann?«

»Seit allweil.«

»Weißt du auch das nicht anders?«

»Nein.«

Die kurzen Antworten mißfielen dem Gestrengen. »So? Dann schau dir einmal den Weidbrief an!«

Der Bauer nahm das Blatt und las. Das dauerte lang.

Inzwischen polterte Herr Someiner hinter dem Amtspult.

»Da hört sich doch alles auf! Seit Jahr und Jahr wird da ein Frevel wider das Fürstenrecht verübt. Groß wie ein Haus steht das Unrecht auf dem Hängmoos, hat siebzehn Schwänz und achtundsechzig Füß. Und kein Jäger sieht’s, kein Grenzwächter und kein Forstknecht! Und keiner meldet’s! Und die Herrschaft hat den Schaden. Es ist ein Kreuz! Auch auf die eignen Leut ist kein Verlaß. Und tut man nicht alles selber, so bleibt es ungetan.«

Runotter hob das Gesicht, sah den Amtmann an und betrachtete wieder das Blatt. »Herr, liegt da kein andrer Weidbrief nimmer für?«

»Ich weiß von keinem.«

Der Bauer legte das Blatt zurück. »Nachher muß da ein Irrtum sein, ich weiß nit, wo. Ist er bei uns Bauren, so geben wir schuldige Buß. Aber der Albmeister, der das Weidrecht hütet und die Schriften in Verwahr hat, ist ein redlichs Mannsbild. Ich glaub nit, daß er mit Wissen tät, was wider das Recht ist.«

Der Amtmann schlug mit der flachen Hand auf das Dokument: »Da steht es aber doch! Auf dem Hängmoos darf kein Käser sein. Küh dürfen nicht weiden da! Bloß Ochsen.«

Das ernste Steingesicht des Runotter bekam einen leisen Zug von Heiterkeit. »Der Herr muß sich nit aufregen. Es wird sich alles weisen. Der Weidbrief ist alt. Vor Zeiten ist auf dem Hängmoos schlechte Weid gewesen. So ein saures Gras! Drum wird man bloß Galtvieh aufgetrieben haben. Und der Ochsenhirt hat keinen Käser gebraucht. Drauf haben die Bauren den Weidboden so verbessert, daß Melkvieh hat grasen können. Und ich denk, da wird man das so ausgeredet haben —«

»Davon weiß ich nichts. Eine andre Urkund ist nicht im Kasten. Beim Recht entscheidet nicht, was du denkst, und nicht, was ich denk. Beim Recht entscheidet Schrift und Siegel. Da liegt der Brief. Wie er’s zu Recht verlangt, so muß es gehalten sein. Der Käser auf dem Hängmoos muß weg. Die siebzehn Milchküh müssen herunter, die siebzehn Ochsen müssen hinauf.«

Runotter, den seit achtzehn Jahren keiner hatte lachen sehen, mußte schmunzeln. »Herr, das Weidrecht geht doch ums Gras. Ist das nit ein Ding, ob das Gras von einer Kuh gefressen wird oder von einem Ochsen?«

»Nein!« Herr Someiner geriet in Hitze. »Recht ist kein Rütlein, das man biegt. Da steht’s. Das Recht will Ochsen. Die Ochsen müssen hinauf!«

Der Richtmann schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Herr! Wegen siebzehn Ochsen, die statt der Küh auf dem Hängmoos fressen sollen, wird doch nit der gnädig Herr Fürst mit der Ramsauer Gnotschaft einen Krieg anheben?«

»Krieg? Red nit so unbeschaffen! Krieg führen Herr und Herr miteinander, nicht Herr und Bauer. Da geht’s um Recht oder Unrecht, um Gehorsam oder schwere Buß.«

Runotter stieß das Schwert, dessen Knauf seine Fäuste umklammerten, leicht auf den Boden hin. »Gut, Herr! Ich bin nit bockbeinig und will den nötigen Verstand haben —«

Heftig unterbrach Herr Someiner: »Meinst du, den hab ich nicht?«

»Das hab ich nit gesagt. Aber es könnt doch sein, daß der Irrtum auf Seit der Herren ist?«

»Nein!« Der Amtmann schrie: »Bei mir ist alles geschrieben und gesiegelt. Mein Amt steht außerhalb des Irrtums. Und Recht muß Recht sein! Oder —«

Runotter sah die schwellenden Adern über des Amtmanns Schläfen und sagte rasch: »Gut, Herr! Daß wir Fried halten — ich will, bis die Sach geklärt ist, auf dem Hängmooser Herd kein Feuer nimmer zünden lassen. Und will die Küh heruntertun. Und daß der Bauerschaft kein Schaden geschieht, drum will ich die siebzehn Küh derweil auf meinem Anger grasen lassen. Und die Ochsen tu ich hinauf. Das soll geschehen, sobald meine Leut neben der Heumahd Zeit haben.«

»Zeit hin oder her! Der Mensch kann Geduld haben, das Recht hat Eil. Was du tun mußt nach Recht und Siegel, das wirst du tun bis morgen zur Mittagsstund! Sonst schick ich die Pfändung auf das Hängmoos, laß den Firstbalken aus dem Käser stoßen und laß die siebzehn Küh davontreiben als Pfand für Siegel und Recht.«

»Herr«, fuhr es dem Richtmann heraus, »das wär doch Unverstand!«

Bei diesem Wort streckte sich Herr Someiner. Seine Stimme klang höher und stieß gegen die Nase. »Redest du so mit mir? Weißt du nicht, daß ich hier steh an deines Fürsten Statt?«

»Verzeihet, Herr, es ist mir nur so herausgerumpelt.« Der Bauer atmete schwer. »Ich trag seit achtzehn Jahr um meiner Kinder willen einen Zaum vor dem Maul. Aber diemal reißt er.«

»Und dann kommt es, daß du redest, wie du denkst. Ja, Bauer!« Mißtrauisch und forschend musterte Herr Someiner den Richtmann. »Mir scheint, dich lern ich auch noch kennen! Doch was du geredet hast wider mich, das will ich um deiner Kinder willen vergessen. Aber Amt ist Amt. Nach Pflicht meines Amtes wird geschehen, was meines Fürsten Recht verlangt. Tu, was du willst! Morgen ums Mittagläuten ist die Pfändung auf dem Hängmoos. Fertig!« Er legte das gesiegelte Dokument in das Fach zurück und versperrte den eisenbeschlagenen Schrank.

»Recht? Wo ist Recht?« Runotter drehte den Knauf des Schwertes zwischen den Fäusten. »Ihr saget: Amt ist Amt? Gut! Da hab ich jetzt einen Merk gekriegt. Ein Amt hab ich auch. Ich bin Richtmann der Ramsauer Gnotschaft, bin eingeschworen drauf, unser Recht zu wahren. Auf dem Hängmoos geschieht, was allweil geschehen ist. Die Ramsauer hätten nit so getan, wär nit ein Recht dabei. Und wo das Recht ist, braucht man nit Pfändung und Spießknecht fürchten. Herr! Jetzt tu ich amten und sag als Richtmann der Gnotschaft: Recht muß Recht sein, und der Hängmooser Käser soll stehen, wo er steht, und die siebzehn Milchküh bleiben auf der Alben.«

Herr Someiner hatte die Arme verschränkt und stand gegen den versperrten Kasten gelehnt. »Nur weiter, weiter! Da weiß ich doch endlich, was du für einer bist. Noch gestern hab ich gesagt: Der Runotter ist von den Treuen und Verläßlichen einer!«

»Das bin ich, Herr! Nit um Hofgunst. Jeder Mensch ist, wie er sein muß.«

»Schön, Runotter! Du redest ja schon bald wie ein Bruder vom freien Geist! Ich merk, es fliegen Fledermäus im Land herum. Und heimliche Funken springen. Am Sonntag hat ein Rauschiger im Leuthaus die schweizerischen Eidgenossen leben lassen. Jetzt liegt er im Loch. Ich tu dich warnen, Runotter!«

»Was Ihr da redet, Herr, das trifft mich nit! Ich hör nit drauf, wenn ein paar Narrenköpf von der Schweizer Freiheit tuscheln. Aber verzeihen könnt man’s —«

»Was?« fragte der Amtmann scharf.

»Daß ein Durstiger Sehnsucht hat nach einem Trunk. Und jetzt frag ich, Herr — mit den Ochsen vom Hängmoos — muß das wahrhaftig so sein, wie’s jetzt beredet ist?«

»Recht muß Recht sein!«

 

»Gut! Dann muß ich als Richtmann stehen beim Recht der Gnotschaft.« Runotter nahm die eiserne Schaller vom Fenstergesims und drückte sie über den Scheitel. »Deswegen bin ich kein Unverlässiger und kein Freigeistler. Mein Herrgott ist mein Herrgott, und mein Fürst ist mein Fürst.« Ein Schwanken kam in die Stimme des Bauern. »Der ist mir drum nit minder worden, weil sein Chorherr Hartneid Aschacher ein schlechtes Stück getan hat wider mein Weib und mein Leben.«

Der Klang dieser Worte schien im eisenbeschlagenen Rippenschrank des Amtmanns etwas Menschliches aufzureißen. Er mußte seufzen. Doch er sagte streng: »Runotter, das gehört nicht vor mein Amt.«

»Dann wird’s wohl vor ein Amt gehören, vor dem wir uns alle finden — einmal! Und solang ich noch auf der Welt steh, ist das gut, Herr Amtmann, daß der Chorherr Hartneid Aschacher im Kloster zu Chiemsee ein fürnehms Leben hat. So weit von uns.« Wie eine stählerne Klammer spannte sich die Faust des Bauern um die Scheide des Holdenschwertes. »Gottes Gruß, Gestreng Herr Amtmann!«

Die schwergenagelten Schuhe des Bauern klappten auf der Diele, und leise klirrte an seinem Küraß die Kette des Schwertgehänges.

Die Türe schloß sich. Und Herr Someiner sah sie mit wunderlichen Augen an, als müßte er sich besinnen, was da jetzt geschehen wäre.

4

Schritte weckten den Amtmann aus seiner Versonnenheit. Lampert trat aus der Kammer, vor Erregung zitternd. »Vater! Rufe diesen Mann zurück!«

»Wen?« Herr Someiner erwachte. »Ach so?« Von der Straße hörte man den Hufschlag eines Gaules, der sich entfernte. »Da! Der reitet ja schon davon! So ein Dickschädel!«

»Ich hol ihn noch ein. Darf ich?«

»Nein!« Der Amtmann war ärgerlich. »Hätt er nicht umkehren können und mir ein gutes Wort geben?«

»Das hast du ihm unmöglich gemacht.«

»Ich?« Herr Someiner hatte den Blick eines erstaunten Kindes, das man einer Sünde beschuldigt, deren Namen es gar nicht kennt. »Lampert? Ich versteh dich nimmer. In deinem Gesicht ist eine Erregung ohne Maß. Warum?«

»Weil ich fürchte, daß du eine ungerechte und gefährliche Übereilung begehst.«

»Ich?«

»Davon hab ich nicht zu reden, meinst du? Hier redet nur der Amtmann und wer gerufen ist. Gerufen bin ich nicht. Aber das mit diesen unglückseligen Ochsen, die das verbriefte Gras nicht fressen? Das weißt du doch von mir. Und da machst du mich, deinen Sohn, zum Späher und Angeber!«

Das ging dem Amtmann über die Grenze der Geduld. Er schrie in Zorn: »Dir sollte die Mutter sagen, daß du aus jedem Bläslein eine Blatter machst!« Wütend ging er in die Kammer hinaus und begann in dem dickleibigen Merkbuche zu blättern.

Lampert folgte ihm bis zur Schwelle. »Vater? Wirst du morgen die Pfändleut schicken? Wirklich?«

Herr Someiner hob das Gesicht. Was aus den Augen des Sohnes sprach, schien begütigend auf den Vater zu wirken. »Kann sein, ich tu’s, kann aber auch sein, ich überleg mir’s noch. Jetzt muß ich da was im Merkbuch suchen.«

»Vater! Ich habe nicht Ruh, bevor du mir nicht klar versprichst, daß du die Pfändleut nicht schicken wirst.«

Da war nun wieder alles verdorben. Herr Someiner schlug mit der Faust auf das Merkbuch. »Jetzt bin ich im Amt!«

Lampert lachte kurz und verließ mit jagendem Schritt diesen geheiligten Raum.

Als er hinauskam in den Flur, rief Frau Someiner gerade über das Treppengeländer: »Mann! Bub! Die Supp ist fertig.«

Das stimmte. In dieser verspäteten Mahlzeitstunde war eine böse Suppe gar geworden.

Beim Anblick des Sohnes merkte Frau Marianne gleich, daß Sturm ins Haus gekommen. »Hat’s Krach gegeben?«

»Laß mich, Mutter!« Lampert stürmte in sein Stübchen.

Frau Someiner wollte folgen, aber da hörte sie von droben das Klirren eines Riegels. »Der hat sich eingesperrt, da ist er sicher!« dachte sie mit mütterlichem Verstande, machte kehrt und begab sich zu ihrem Mann hinunter.

Der Amtmann stand über den Tisch der kleinen Kammer gebeugt, blätterte aufgeregt in dem großen Merkbuch und schien etwas zu suchen, was sich nicht finden lassen wollte.

»Ruppert!« fragte Frau Marianne sanft. »Was ist denn schon wieder? Bist du mit dem Buben überkreuz gekommen?«

Der Gestrenge blätterte. »Laß mich in Ruh, jetzt bin ich im Amt.«

Vor dem geweihten Wörtlein Amt schien Frau Someiner eine wesentlich geringere Ehrfurcht zu besitzen als ihr Sohn. »Ach geh, du, mit deinem Amt! Mir ist’s um den Hausfrieden. Und die Supp ist fertig. Komm! Tu dich mit dem Buben in Ruh wieder ausgleichen. Bei guter Schüssel wird das Gemüt schön nachgiebig. Aber so eine trückene Rechtsläpperei —« Frau Marianne konnte diese kostbare Perle ihrer Lebenserfahrung nicht zu Ende drehen.

Denn der Amtmann hatte im Merkbuch gefunden, was er suchte. Alle mißmutige Strenge seines Gesichts verwandelte sich in triumphierende Freude. »Recht hab ich! Recht! Da steht’s Da! Da! Da!« Dreimal stieß er mit dem Zeigefinger auf das Merkbuch hin. »Und jetzt, meinetwegen, jetzt kann ich auch Langmut zeigen. Weil es schwarz auf weiß bewiesen ist, daß ich recht hab. Ruf den Buben, Mutter! Das soll er lesen! Da steht’s! Sub 28. Junio 1391: ›Den Hängmooser Auftrieb visitiert, sind aufgetrieben zwanzig Kalben und sechzig Ochsen, item ansonsten alles befunden nach Recht und Weidbrief von Anno 1356.‹ Da steht’s!« Herr Someiner war in diesem Augenblick der glücklichste der Menschen.

Frau Marianne grollte wohl: »Du liebe Güt! Schon wieder die Hängmooser Ochsen!« Doch sie lachte, weil sie aus der frohen Sonne, die in der Amtsstube aufgegangen war, den Friedensschluß bei der Suppenschüssel erglänzen sah. »Geh, Ruppert, komm —« Da kroch die schöne Sonne hinter eine dicke Wolke. Denn Herr Someiner, der bei jeder Erscheinung des Lebens gleich zu rechnen anfing, beugte sich mißtrauisch über das Buch.

»Der 28. Junius 1391? Und heut? Was ist denn heut? Der 26. Junius 1421!« Zwischen diesen beiden Kalenderziffern schien ein Abgrund des Unheils zu klaffen. In den Augen des Amtmanns malte sich ein Schreck, als hätte sich vor seinem Blick etwas Grauenvolles ereignet.

In Sorge faßte Frau Marianne den Gatten am Ärmel. »Geh, Ruppert, laß doch jetzt —«

Herr Someiner befreite seinen Arm und brauste los: »Da hört sich doch —. Und ich in meiner Gut und Nachsicht hätt jetzt bald —. Ist das ein Kerl! Will die Schweizer Freiheit einführen im Land! Und redet wie ein Bruder vom freien Geist! So ein Heimtücker wie der! So ein geriebener Hinterlister!«

Frau Marianne wollte immer reden. Es gelang ihr nicht. Der Zorn ihres Mannes brauste weiter wie ein entfesselter Wildbach.

»Ein Glück, daß Gottes Segen über meinem Amt ist! Und daß ich den Schaden noch zu rechter Zeit besehen hab! Zwei Tag noch, und es wär zu spät gewesen! Und das ochsenmäßige Unrecht, das sie verüben auf dem Hängmoos, wär verjährt und wär ein ersessen Recht geworden. Und das Stift wär wieder ärmer um ein Herrengut. Aber Gott sei Dank, ich bin noch allweil da.«

Als der Amtmann dieses letzte Wort gesprochen hatte, war er schon nicht mehr da. Er hatte Hut und Stock ergriffen und war schon auf der Straße.

Frau Someiner sah die offene Tür an, schüttelte kummervoll den Kopf und predigte ins Leere: »Gott hat die Welt geschlagen, wie er die Mannsleut erschaffen hat! Ist jeder wie ein kranker Narr, dem man bei Tag und Nacht das kalte Tüchl um das Hirndach legen sollt.«

Als gewissenhafte Hausfrau versperrte sie die Amtsstube und das Eisengitter, nahm den heiligen Schlüsselbund in die Wohnstube mit hinauf und gab ihn an seinen Platz.

Nun war sie allein mit ihrer guten Suppe. Lampen kam aus seinem selbstgewählten Gefängnis nicht herunter, und des Gatten Heimkehr war nicht abzuwarten, solang die Suppe noch lau blieb. Frau Someiner saß am gedeckten Tische. Aber sie rührte den Löffel nicht an. Bei vielen trefflichen Eigenschaften, die man ihr nachrühmen mußte, war sie eine von den Frauen, die sowohl der Kummer wie die Freude veranlaßt, sich dem Irdischen zu entwinden und Hunger zu leiden. Doch sie ließ das Mahl für Vater und Sohn getrennt in zwei Töpfen warm halten, während sie selbst keinen Bissen berührte. Hätte Herr Someiner dieses Widerspruchsvolle in der Handlungsweise seiner Gattin gewahrt, so hätte er vermutlich wieder einmal festgestellt, daß weder Jubel noch Elend eine sinngemäße Ursach wäre, um sich der Speise zu enthalten; Sättigung des Leibes wäre ein natürlicher Brunnen der Lebenskraft, die man gerade in Elend und Jubel doppelt nötig hätte; essen müßte der Mensch noch, auch wenn er wüßte, daß ein Viertelstündlein später die Welt zugrunde ginge; aber, freilich, das Natürliche wäre für die Frauen immer das Unverständlichste.

Der Gelegenheit, sich solcher Weisheit zu entledigen, war Herr Someiner an diesem Tag entrückt. Während Lampert, wunderlich verstört, sich auf der Altane seines Stübchens in einen zierlich geschriebenen Traktat über des Boethius Werk de consolatione philosophiae vergrub und die Mutter mit feuchten Augen vor dem trockenen Teller saß, eilte der Amtmann aufgeregt dem Stifte zu, um seinem gnädigsten Fürsten diesen brennend gewordenen Rechtsfall in causa boum hengismosianorum, in Sache der Hängmooser Ochsen, zu hochpersönlicher Entscheidung vorzutragen.

Die Hälfte dieses Weges wurde dem Amtmann erspart. Denn als er das Stiftstor erreichte, durch das man in einen Vorhof sah, der minder an die Nähe einer klösterlichen Stätte als an den von Söldnern, Jagdbuben und Roßknechten bevölkerten Wallhof einer Ritterburg gemahnte, da kam dem Amtmanne der Erzpropst zu Berchtesgaden entgegengeritten, der edle Herr Peter Pienzenauer, begleitet von einem Jäger mit der Armbrust und von zwei Vorläufern, die sich für die Heimkehr in der Nacht mit Pechfackeln ausgerüstet hatten.

Der Propst war in schmuckloser Jägerkleidung, ein sechzigjähriger Graubart, hager und sehnig. Dem strenggezeichneten Kopfe, der auf diesen straffen Schultern saß, waren Fähigkeiten anzumerken. Hätte er sie nicht in Wahrheit besessen, so hätte er, bevor er Propst zu Berchtesgaden wurde, als Domherr zu Freysing und Augsburg nicht das wichtige, Umsicht und Scharfsinn erfordernde Amt des Kellermeisters bekleidet. Die tüchtigen Kellermeister gehen mager aus ihrem Amte, die schlechten verlassen es fett.

Herr Someiner eilte rasch auf den Fürsten zu; aber es gelang ihm nicht sogleich, die geladene Kammerbüchse seines Amtszornes zu entladen. Denn einer der Novizen, ein junges, feines, weltlich gekleidetes Bürschlein in Schnabelschuhen, mit klingenden Schellen am Gürtel und an den seidenen Ärmelfahnen — der Domizellar Sigwart zu Hundswieben — kam aus dem Innenhof des Klosters gelaufen, faßte das Pferd des Propstes am Zügel und sprach sehr flehentlich zu dem Fürsten hinauf.

Der Amtmann blieb in höfischer Entfernung stehen.

Herr Pienzenauer sah auf das modische, fast mädchenhafte Bürschlein hinunter mit einem Blick, in dem sich Wohlgefallen seltsam mit Geringschätzung mischte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein!« Seine sonore Stimme war weithin zu vernehmen. »Für heut soll’s genug sein. Mit dieser Knallerei vergrämt ihr mir den Rehbock. Und das Pulver ist teuer. Man weiß nicht, wie bald man’s brauchen kann zu ernsteren Dingen als zum Niederbummern meines besten Hirsches im Graben. Ihr seid wie die Kinder.«

Ein neues Gebettel unter leisem Klingeling der silbernen Schellchen.

Per Propst blieb unerbittlich. »Nein! Wenn ich meinen Rehbock habe, morgen, meinethalben. Heute nicht mehr.« Er hob den Zügel und brachte das Pferd in Gang.

Sigwart von Hundswieben sah ihm auf eine Weise nach, die wenig Ehrfurcht verriet.

Da trat Herr Someiner auf den Fürsten zu.

»Ruppert? Was gibt’s? Lang hab ich nicht Zeit. Sonst versäum ich die Pirsch.«

Der Amtmann sprach. Und als er seine Darlegung beendet hatte, fragte er: »Was soll geschehen, gnädigster Herr?«

»Was verständig ist und dem Recht entspricht.« Propst Peter lächelte. »Auf dich kann ich mich verlassen.« Dann ritt er davon.

Der Amtmann nickte. Jetzt war die Sache klar erledigt. Ohne einen Blick für die Menge des lärmenden Volkes zu haben, das sich drunten bei der Mauer des Hirschgrabens drängte und auf eine Fortsetzung dieser ebenso lustigen wie erstaunlichen Donnersache wartete, suchte Herr Someiner eilfertig den Vogt des Stiftes auf und beorderte ihn zur Pfändung der siebzehn siegelwidrigen Kühe auf dem Hängmoos, pünktlich zur Mittagsstunde des kommenden Tages.

Doch auf dem Heimweg zur guten Suppe wurde der Amtmann nachdenklich. Wie war das nur? Hatte der Fürst gesagt: »Was Verstand hat und dem Recht entspricht?« Und hatte er den Nachdruck auf das Recht gelegt? Oder sagte er: »Was dem Recht entspricht und Verstand hat?« Und meinte er als wesentliche Sache den Verstand?

 

Daß aber auch die hohen Herren immer so zwiespältig reden! Man weiß da nie mit Sicherheit, wie man dran ist.

Doch so oder so, jetzt war die Sache in Gang. Der amtliche Karren, der keine Deichsel zum Umkehren hat, mußte laufen. Los! In Gottes Namen!

Zu Hause, als Herr Someiner allein und ungestört die warmgehaltene Suppe aß, war in ihm ein ruheloses Wechselspiel von vernunftgemäßer Zufriedenheit und unerklärlicher Besorgnis. Schließlich wollten ihm die boves hengismosiani gar nicht mehr aus dem Sinn. Und neben den ruhigen Pendelschlägen in dem alten Uhrkasten — »Bau! Bau!« — wurde Herrn Someiners Unsicherheit in der Deutung jenes delphischen Fürstenwortes vom Verstand und vom Rechte immer qualvoller.

Inzwischen dachte der edle Herr Peter Pienzenauer schon lange nicht mehr an die siegelwidrigen Ochsen oder Küh. Er freute sich des schönen Pirschabends, der da kommen wollte, ritt ohne Eile den Waldschlägen des Totenmannes zu und überließ seinem Roß die Zügel zu behaglichem Schreiten.

Um die gleiche Stunde mußte ein andres Rößlein rennen, schnaufen und schwitzen. Als der Schimmel vor des Richtmanns Hagtor in der Ramsau mit pumpenden Flanken stehenblieb, fielen handgroße Schaumflocken von ihm herunter.

»Ich muß gleich wieder davon«, sagte der Runotter zu Heiner, »führ den Schimmel umeinand, daß er sich nit verkühlt.« Er ging zum Haus und zog am Küraß die Schnallen auf. Vor der Schwelle drehte er das erhitzte Gesicht. »Weißt nit, ist der Soldknecht noch im Leuthaus drüben?«

»Schon lang nimmer. Die Rauschigen sind all davongetorkelt. Und den Malimmes hab ich lustig singen hören, weit über die Straß hinaus.«

»Ist er’s gewesen? Wahrhaftig? Der Malimmes vom Taubensee?«

»Wohl, Bauer!«

Runotter trat ins Haus. Gleich kam er wieder, des Eisens ledig, nur mit einem festen Meser am Gürtel. »Kann sein, ich komm über Nacht nit heim.« Er zog die Lederkappe in die Stirn, sprang auf den Schimmel hinauf und ließ ihn am Brunnen trinken.

Im Trab die Straße hin gegen den Taubensee.

Bei einem Haus, das neben der Straße auf einem kleinen Hügel stand, rief Runotter: »Höi! Ist der Albmeister daheim?«

Der wäre beim Heuen, gleich da drüben über dem Bach.

Die Ache machte mehr Lärm, als sie Wasser hatte. Leicht kam der Schimmel hinüber und kletterte über die steilen Wiesen hinauf.

Ein neunzigjähriger Bauer, dürr und gebeugt, kahlköpfig und mit weißen Bartstoppeln, wendete das am Morgen gemähte Heu — Seppi Ruechsam, der Albmeister der Ramsauer Gnotschaft. Sein Hausname kam wohl davon, daß einer seiner Vorfahren ein besonders Sparsamer gewesen war. Wie für die Fähigkeiten des Propstes sein früheres Amt als Kellermeister, so sprach für den Seppi Ruechsam die Tatsache, daß er Albmeister war. Um Albmeister zu werden, mußte man zumindest siebzig Jahre hinter sich haben, mußte das Vergangene wissen und mußte ein Makelloser, einer von den Besten der Gemeinde sein. Der Albmeister war halb wie ein Heiliger, weil er den grünen Speisbrunnen und das wertvollste Lebensrecht des Bergdorfes hütete.

Ehe noch der Schimmel den Seppi Ruechsam erreichte, fragte Runotter schon: »Seppi? Du? Wie ist das mit dem Hängmoos? Seit wann ist der Käser droben? Seit wann treibt man das Milchvieh hinauf?«

Langsam streckte sich der Greis. »Das ist, seit die Salzburger den Propsten Kunrad vertrieben und das Stift in Pfand genommen haben. Ist gewesen im dreiundneunziger Jahr.«

»Ist Melkvieh und Käser mit Rechten auf der Alb?«

»Was denn sonst? Albmeister ist der Seppi Ruechsam. Der wird wohl wissen, was recht ist.« Für den Greis in seiner steinernen Ruhe schien das ein Zwiefaches zu sein: er als Mensch und er als Albmeister.

»Ist unser Recht verbrieft?«

»Was denn sonst?«

Runotter atmete auf. »Der Brief ist weisbar?«

»Was denn sonst? Liegt bei mir in der Truchen, ist gut geschrieben ist gewächsnet mit des Herrn Kunrad Fürstenring.«

Der Richtmann verlangte nicht, den Brief zu sehen. Er wußte: Der Albmeister hat die Truhe mit den Rechtsbriefen, der Ältestmann der Gnotschaft hat den Schlüssel, und Schloß und Schlüssel dürfen nur Hochzeit halten, wenn fünf spruchbare Männer der Gnotschaft als Zeugen dabei sind.

»Sie sagen im Amt, es war kein Brief nit da als bloß der alte von den Ochsen.«

»Die sagen viel.« Der Greis fing wieder zu heuen an.

»Und der Amtmann will die Milchkuh pfänden lassen, morgen.«

Seppi Ruechsam hob langsam das Gesicht. »So?« Er sprach dieses kleine Wort, als hätte ihm einer an schönem Tage gesagt, es regnet. »Was tust da, Richtmann?«

»Ich steh beim Recht. Und treib nit ab. Die Küh müssen bleiben.«

»Was denn sonst?«

»In der Nacht reit ich um und ruf die Leut für morgen zum Taiding.«

Der Greis nickte. »Ist hart, in der Heuzeit einen Tag verlieren. Aber mehr als Heu ist die Kuh, mehr als die Kuh ist das Recht.«

»Das Taiding ruf ich zu deinem Haus.«

»Was denn sonst? Es geht ums Weidrecht. Der Seppi Ruechsam ist morgen daheim, wo die Truchen steht. Aber Pfändleut hin oder her, einem Spießknecht gibt der Seppi Ruechsam den gewächsneten Brief nit in die Hand. Recht liegt fest. Das tut man nit umtragen wie den Bettelsack. Vor guter Zeugschaft muß der Amtmann zum Seppi Ruechsam seiner Truchen kommen. Und kommt er nit, und sie pfänden? Gut! Da muß der Fürst die Küh futtern und die Milch vergüten. Derweil kriegen wir auf der Alb mehr Gras, wenn minder gefressen wird. Ist ein Nutzen. Den Schaden muß das Stift gutmachen. Tät der Fürst für seines Amtmanns Unrecht nit aufkommen, so geht man zum deutschen König. Dafür ist der König da. Wozu denn sonst? Und den Weg zum deutschen König weiß der Seppi Ruechsam. Sonst tät er nit Albmeister sein. Was denn sonst? Jetzt tummel dich, Mensch! Und reit!«

Das war die längste Rede, die man vom Seppi Ruechsam seit vielen Jahrzehnten gehört hatte. Er sollte in seinem Leben keine so lange mehr halten.

Der Richtmann überquerte die Ache wieder, und sein unermüdlicher Schimmel, dessen Heubauch schlank geworden, jagte zum Taubensee.

Die Sonne bekam schon goldene Glut, und alle Farben der Erde und des Himmels vertieften sich zu sanftem Glanz.

Im Wiesgarten am Taubensee schleppten Mareiner und sein Weib das fein geratene Heu in großen Tüchern zur Scheune. Die Bäuerin, als sie den Reiter sah, bekam gleich wieder einen Schreck; ein Herr war der Runotter freilich nicht, aber der Richtmann war er.

»Du, Mareiner«, rief der Ramsauer und sprang vom Gaul, »ist’s wahr, daß dein Bruder Malimmes gekommen ist?«

»Wohl!« Das konnte der Bauer ruhig sagen. Seine dreiundachtzig und ein halb Pfund Pfennig waren in Sicherheit; und Malimmes tat, als möchte er geben wie ein Christ, nicht nehmen wie ein Hofmann. »Vor der Haustür hockt er bei der Mutter.«

»Mein Gaul ist heiß gelaufen. Magst ihn ein lützel führen, derweil ich mit deinem Bruder red?«

»Gib her!«

Runotter ging zum Haus. Er dachte zwei Menschen in Freude zu finden und fand zwei Leute, von denen sich keins ums andre zu kümmern schien. Wohl saßen sie nebeneinander, die alte Frau im Sessel und Malimmes auf dem Boden, ohne Wams und mit nackten Füßen, recht wie einer, der daheim ist; doch er hielt die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen und guckte verdrossen vor sich hin; die große Narbe brannte wie Feuer.

Er war nicht wehleidig. Aber wie die Mutter seine Heimkehr nahm, das war doch wunderlich. Eine kurze Freude, wie beim Besuch einer Nachbarin, die man lange nicht gesehen. Und nun saßen die beiden so nebeneinander, schon den ganzen Nachmittag. Wenn Malimmes erzählen wollte, hörte die Mutter nicht zu und guckte zum Himmel hinauf; und wenn er stumm wurde, redete sie vom andern, immer vom andern. Jetzt wieder. Und plötzlich fragte sie: »Malimmes, bist du noch da?«