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Die schönsten Märchen

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Der Mann und die Schlange

Es war einmal ein Mann, in dessen Hause wohnte eine Schlange, die wurde von der Frau dieses Mannes wohl gehalten und bekam täglich ihre Nahrung. Sie hatte ihre Wohnung ganz nahe bei dem Herde, wo es immer hübsch warm war, in einem Mauerloch. Der Mann und die Frau bildeten sich ein, nach dem herrschenden Aberglauben, daß es Glück bringe, wenn eine Schlange im Hause sei!

Nun geschah es an einem Sonntag, daß dem Hausherrn das Haupt schmerzte, deshalb blieb er früh in seinem Bette liegen und hieß die Frau und das Gesinde in die Kirche gehen. Da gingen sie alle aus, und es war nun ganz still im Hause, und jetzt schlüpfte die Schlange leise aus ihrem Loch und sahe sich allenthalben sehr um. Das sahe der Mann, dessen Kammer offen stand, und wunderte sich im stillen, daß sich die Schlange gegen ihre sonstige Gewohnheit so sehr umsah. Sie durchkroch alle Winkel und kam auch in die Kammer und guckte hinein, sah aber niemand, denn der Hausherr hatte sich verborgen. Und nun kroch sie auf den Herd, wo ein Topf mit der Suppe am Feuer stand, hing ihren Kopf darüber und spie ihr Gift in den Topf, darauf verbarg sie sich wieder in ihrer Höhle. Der Hausherr stieg alsbald auf, nahm den Topf und grub ihn mit Speise und Gift in die Erde.

Wie nun die Zeit da war, daß man essen wollte, wo auch die Schlange gewöhnlich hervorzukommen pflegte, stellte sich der Mann mit einer Axt vor das Loch, willens, sobald sie herausschlüpfen werde, ihr den Kopf vom Rumpfe zu hauen. Aber die Schlange steckte ganz vorsichtig ihren Kopf erst nur ein klein wenig aus dem Loch, und wie der Mann zuschlug, fuhr sie blitzschnell zurück und zeigte, daß sie kein gutes Gewissen hatte. Nach einigen Tagen redete die Frau ihrem Manne zu, er solle mit der Schlange Frieden schließen, sie würde wohl nicht wieder so Böses tun; der Hauswirt war gutwillig und rief einen Nachbarn, der sollte Zeuge sein des Friedensbundes mit der Schlange und einen Vertrag mit ihr aufrichten, daß eins sicher sein sollte vor dem andern. Hierauf riefen sie die Schlange und machten ihr den Antrag; die Schlange aber sagte: »Nein! Unsre Gesellschaft kann fürder in Treue nicht mehr bestehen, denn, wenn du daran denkst, was ich dir in deinen Topf getan, und wenn ich bedenke, wie du mir mit scharfer Axt nach meinem Kopf gehauen hast, so möchte wohl keiner von uns dem andern trauen. Darum gehören wir nicht zusammen; gib du mir frei Geleit und laß mich meine Straße ziehen, je weiter von dir, desto besser, und du bleibe ruhig in deinem Hause.« Und also geschähe es.

Der Rabe, als er diese Erzählung aus dem Mund des Mäusleins Sambar vernommen hatte, nahm wieder das Wort und sprach: »Ich fasse wohl die Lehre, die dein Märlein in sich hält, allein bedenke deine Natur und meine Aufrichtigkeit, sei minder streng und weigere mir nicht deine Genossenschaft. Es ist ein Unterschied zwischen edel und unedel; der Becher aus Gold währet länger als der aus Glas, und wenn der Glaspokal zerbricht, so ist er hin, leidet aber der Goldpokal, so ist der Wert noch nicht verloren. Die Freundschaft der bösen und unedlen Gemüter ist gar keine Freundschaft, du aber hast ein edles Gemüt, das hab ich wohl erkannt, und so sehnt sich mein Herz nach deiner Freundschaft und bedarf ihrer, und ich werde nicht weichen vom Eingang deiner Wohnung und nicht eher essen noch trinken, bis du meiner Bitte Gehör gegeben!«

Darauf sprach das kluge Mäuslein Sambar: »Ich nehme jetzt deine Gesellschaft an, denn ich habe noch nie eine billige Bitte ungewährt gelassen. Du magst aber wohl erwägen, daß ich mich nicht zu dir gedrängt, auch daß ich in meiner Wohnung sicher vor dir bin, aber ich begehre nützlich zu sein allen, die meiner Hilfe begehren, darum rühme dich nicht etwa: Haha, ich habe eine unvorsichtige und unvernünftige Maus gefunden! — damit es dir nicht gehe, wie dem Hahn mit dem Fuchs.«

»Wie war das?« fragte der Rabe, und da erzählte das Mäuslein ein Gleichnis:

Der Hahn und der Fuchs

In einer kalten Winternacht kroch ein hungriger Fuchs aus seinem Bau und ging dem Fange nach. Da hörte er auf einem Meierhofe einen Hahn fort und fort krähen, der saß auf einem Kirschbaum und hatte schon die ganze Nacht gekräht. Jetzt strich der Fuchs hin nach dem Baum und fragte: »Herr Hahn, was singst du in dieser kalten und finstern Nacht?«

Der Hahn sprach: »Ich verkünde den Tag, dessen Kommen meine Natur mich erkennen lehrt.«

Darauf versetzte der Fuchs: »O Hahn, so hast du etwas Göttliches in dir, daß du zukünftig kommende Dinge weißt!« und alsbald begann der Fuchs zu tanzen.

Jetzt fragte der Hahn: »Herr Fuchs, warum tanzest du?«

Ihm antwortete der Fuchs: »So du singest, o weiser Meister, so ist billig, daß ich tanze, denn es ziemet, sich zu freuen mit den Fröhlichen. O Hahn, du edler Fürst aller Vögel, du bist nicht allein begabt zu fliegen in den Lüften, nein, auch hohe Prophetengaben lieh dir die Natur! O wie bevorzugte sie dich vor allen andern Tieren! Wie glücklich wär ich, gönntest du mir deine Gunst! Wie gerne küßt ich dein weisheitdurchdrungenes verehrtes Haupt! O wie beneidenswert, wenn ich dann künden könnte meinen Freunden: Ich war der Glückliche, dem ein Prophet sein Haupt zum Kusse hingeneigt!«

Der alberne Hahn glaubte dem Schmeichelwort des Fuchses, flog vom Baum und hielt ihm seinen Kopf zum Küssen hin. Mit einem Schnapper war er abgebissen, und lachend sprach der Fuchs: »Ich habe den Propheten ohne alle Vernunft befunden.«

Als das Mäuslein diese Fabel geendigt hatte, sprach es zum Raben: »Ich habe dir dies nicht gesagt, weil ich glaube, daß ich der Hahn sei und du der Fuchs, ich die Speise und du der Fresser, vielmehr will ich glauben, daß deine Worte nicht mit zweigespaltener Schlangenzunge gesprochen sind.« Und darauf ging die Maus in die Öffnung ihres Türloches.

Der Rabe fragte: »Warum stellst du dich unter die Türe? Hegst du immer noch Furcht vor mir?«

Darauf antwortete das Mäuslein: »Ich habe meinen Glauben und mein Vertrauen auf dich gesetzt, denn du gefällst mir, und nicht Furcht vor Unredlichkeit hält mich ab, hervorzukommen. Aber du hast viele Gesellen deiner Art, doch vielleicht nicht deines Gemütes, und deren Freundschaft ist nicht mit mir wie deine. Sieht mich einer, so muß ich fürchten, daß er mich frißt.«

Dagegen sprach der Rabe: »Zu treuer Genossenschaft gehört doch vor allem, daß einer sei seines Genossen treuer Freund und Feind seines Feindes; sei gewiß, o Freundin Sambar, daß mir kein Freund lebt, der nicht ebenso treuer Freund dir sein soll wie ich selbst. Auch habe ich Macht und Kraft genug, dich zu schützen und zu schirmen.« Nun endlich ging das Mäuslein Sambar hervor aus seinem Löchlein und verschwur sich mit dem Raben zu einem unverbrüchlichen Freundschaftsbündnis, und als das geschehen war, wohnten sie bei- und nebeneinander friedsam und freundlich und erzählten einander alle Tage schöne Märchen.

Endlich aber zu einer Zeit sprach der Rabe zur Maus: »Höre, meine liebe Freundin Sambar, deine Wohnung ist doch gar lautbar und zu nahe am Weg; ich besorge, es kommt einmal einer, der dich oder mich schießt oder schädigt, auch fällt es mir schwer, hier meine Nahrung zu finden. Aber ich weiß einen lustigen und nützlicheren Aufenthalt, da gibt es Wasser und Wiesen, Früchte und Futter, und dort in dem Wasser wohnt auch noch eine alte Freundin von mir, gar eine treue Genossin; ich wünschte, du zögest mit mir an jenen Ort.«

»Das will ich dir gern zu Liebe tun«, sprach die Maus, »denn ich bin hier selbst scheu und halte mich nicht recht sicher, deshalb siehst du auch die vielen Ein- und Ausgänge meiner Wohnung. Glaube nur, lieber Freund, mir sind schon gar mancherlei Fährlichkeiten begegnet, davon ich dir erzählen will, wenn wir an den neuen Aufenthalt kommen.«

Darauf nahmen beide Abschied von ihrem alten Wohnort, und der Rabe faßte die Maus am Schwänzlein in seinen Schnabel und flog mit ihr dahin an den Ort, den er meinte. Da guckte ein Tier mit dem Kopf aus dem Wasser, das erschrak vor der Maus, denn es erkannte sie nicht, wie der Rabe sie aus dem Schnabel ließ, und tauchte schnell unter. Der Rabe flog auf einen Baum und rief: »Korax, Korax!« Da kam das Tier aus dem Wasser hervor, das war seine Freundin, eine Schildkröte, die freute sich, den Raben wiederzusehen, und fragte ihn, was ihn zu seinem langen Außenbleiben bewogen. Da erzählte ihr der Rabe die Geschichte von der Taube und der Maus und stellte seine Freundinnen einander vor, und die Schildkröte verwunderte sich über die hohe Vernunft der Maus, kroch zu ihr, gab ihr die Hand und freute sich sehr, ihre Bekanntschaft zu machen. Hernach bat der Rabe die Maus, ihm und seiner Freundin doch ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und sie ließ sich dazu gern bereit und willig finden und erzählte wie folgt:

Die Lebensgeschichte der Maus Sambar

Ich bin geboren in dem Hause eines frommen Einsiedels; es waren unsrer viele Geschwister, und außer meinen lieben verstorbenen Eltern lebten auch deren Geschwister, Vettern und Muhmen und deren Kinder allzumal in diesem Hause. Es fehlte uns niemals an Nahrungsmitteln aller Art, denn die guttätigen Leute in der Nachbarschaft trugen dem Einsiedel alle Tage Brot, Mehl, Käse, Eier, Butter, Früchte und Gemüse zu, viel mehr, als er brauchte, darum, daß er für sie beten solle. Ob er für sie gebetet und ob das ihnen etwas geholfen hat, weiß ich nicht. Nun gönnte der Einsiedel mir und meinen Verwandten doch nicht alles und hing deshalb einen Korb mitten in seine Küche, wo wir nicht dazu konnten. Da ich mich aber schon als junges Mäuslein durch Mut, gepaart mit List und Vorsicht, vorteilhaft auszeichnete, so sprang ich von der nahen Wand dennoch in den Korb, aß, so viel mir nur schmeckte, und warf das übrige meinen Verwandten herunter, die an jenem Tag einen wahren Festtag feierten.

 

Als der Einsiedel hereinkam und sah, was geschehen war, traf er Anstalt, den Korb noch höher zu hängen. Da besuchte ihn ein Wallbruder, den bewirtete er nach seinem Vermögen, und als sie miteinander gegessen und getrunken hatten, tat der Einsiedel die Speisereste in den Korb und hing ihn an den neuen Ort und gedachte, acht zu haben, ob das Mäuslein auch da hineinkommen möchte. Indes begann der Gast zu reden und zu erzählen von seinen Fahrten zu Land und zu Meer und seinen Abenteuern, die er erlebt und bestanden, aber er nahm wahr, daß der Gastfreund immer nur mit halbem Ohr auf ihn hörte und immer dem Korbe mit Leib und Blicken halb zugewendet blieb. Da ward der Waller unwillig und sprach: »Ich erzähle dir die schönsten Abenteuer, und du achtest nicht darauf und scheinst keine Lust daran zu haben.«

»Mitnichten«, erwiderte der Einsiedel, »ich höre gar gern deine Reden, aber ich muß acht haben, ob die Mäuse wieder in den Speisekorb kommen, denn dieses Ungeziefer frißt mir alles weg, daß kaum etwas für mich übrig bleibt, und besonders ist eine, die springt in den Korb für alle andern.« Damit meinte er mich, die kleine Sambar.

Darauf sagte der Wallbruder: »Bei deiner Rede machst du mich der Fabel eingedenk von einer Frau, die zu ihrer Freundin sprach: ›Diese Frau gibt nicht ohne Ursache den ausgeschwungenen Weizen für den unausgeschwungenen.‹«

»Wieso? Wie war das?« fragte der Einsiedel.

Und der Waller sagte: »Laß dir erzählen. Einstmals auf meiner Wanderschaft herbergte ich bei einem ehrenwerten Manne, den hörte ich des Nachts, da ich nebenan schlief, zu seiner Frau sprechen: ›Frau, morgen will ich etliche Freunde zu Gaste laden.‹ Dem antwortete die Frau: ›Du vermagst nicht alle Tage Gäste zu haben und Wirtschaft zu machen; damit vertust du, was wir haben, und zuletzt bleibt uns im Haus und Hof gar nichts mehr.‹ Da sprach der Mann: ›Hausfrau, laß dir das nicht mißfallen, was mein Wille ist, besonders in solchen Sachen! Ich sage dir, wer allewege karg ist und immer einnehmen und zusammenscharren, aber niemals wieder ausgeben will, und dessen, was er hat, nicht recht froh wird, der nimmt ein Ende wie der Wolf.‹

›Wie war denn das Ende von dem Wolf?‹ fragte die Frau, und ihr Mann erzählte: ›Es war einmal, so sagt man, ein Jäger, der ging nach dem Walde mit seinem Schießzeug, Pfeil und Armbrust, da begegnete ihm ein Rehbock, den schoß er und lud sich denselben auf, ihn heimzutragen. Darauf aber begegnete ihm ein Bär, der eilte auf ihn zu, und der Jäger, sich seiner zu erwehren, spannte in Eile die Armbrust, legte den Pfeilbogen darauf, aber er vermochte nicht anzulegen, weil ihn der Rehbock hinderte, und legte geschwind die Armbrust nieder, zückte sein Weidmesser und begann den Kampf mit dem Bären, und er rannte ihm das Messer durch den Leib in dem Augenblick, wo der Bär ihn umfaßte und ihn totdrückte. Wie der Bär die schwere Wunde fühlte, brüllte er und riß sie aus Wut noch weiter auf, so daß er sich bald verblutete. Abends ging ein Wolf des Wegs, der fand nun einen toten Rehbock, einen toten Bären und einen toten Jäger. Darüber ward er herzlich froh und sprach in seinem Herzen: Das alles, was ich hier finde, das soll alles mein bleiben, davon kann ich mich lange nähren. Meine Brüder sollen nichts davon bekommen. Vorrat ist Herr, sagt das Sprichwort. Heute will ich sparen und nichts davon anrühren, daß der Schatz lange dauert, obschon mich sehr hungert. Da liegt aber eine Armbrust, deren Sehne könnte ich abnagen. Und da machte sich der Wolf mit der gespannten Armbrust zu schaffen, die schnappte los, und der aufgelegte Stahl oder Bogenpfeil fuhr ihm mitten durchs Herz! — Siehe, Frau‹, so fuhr der Mann fort, dem ich zuhörte«, sprach der Wallbruder zu dem Einsiedel, von welchem das Mäuslein Sambar ihren Freunden, dem Raben und der Schildkröte erzählte. »›Siehe, Frau, da hast du ein Beispiel, daß es nicht immer gut sei, zu sammeln und das Gesammelte treue Freunde nicht mit genießen lassen zu wollen.‹ Darauf sprach die Frau: ›Du magst recht haben.‹

Als nun der Morgen kam, stand sie auf, nahm ausgehülsten Weizen, wusch ihn, breitete den aus, daß er trockne, und setzte ihr Kind dazu, ihn zu hüten, und dann ging sie weiter zur Besorgung ihrer übrigen Geschäfte. Aber das Kind tat, wie Kinder tun, es spielte und hatte nicht acht auf den Weizen, und da kam die Sau, fraß davon und verunreinigte den übrigen Weizen, den sie nicht fraß. Als die Frau hernach kam und das sah, ekelte ihr vor dem übrigen Weizen, nahm ihn und ging auf den Markt und bot ihn feil gegen ungehülsten zu gleichem Maß. Da hörte ich eine Nachbarsfrau jener, die gesehen hatte, was vorgegangen war, spöttisch zu einer dritten sagen: ›Schau, wie gibt die Frau so wohlfeil gehülsten Weizen gegen den ungehülsten! Es hat alles seine Ursache‹ — So ist‘s auch mit der Maus, von der du sagst, sie springe in den Korb für die andern Mäuse alle zusammen, und das muß wohl seine Ursache haben. Gib mir eine Haue, so will ich dem Mausloch nachgraben, und die Ursache wohl finden.‹

Diese Rede hörte ich, so erzählte Sambar weiter, im Löchlein einer meiner Gespielinnen; in meiner Höhle aber lagen tausend Goldgulden verborgen, ohne daß ich noch der Einsiedel wußten, wer sie hineingelegt, mit denen spielte ich täglich und hatte damit meine Kurzweil. Der Waller grub und fand bald das Gold, nahm es und sprach: »Siehe, die Kraft des Goldes hat der Maus solche Stärke verliehen, so kecklich in den hohen Korb zu springen. Sie wird es nun nicht mehr vermögen.«

Diese Worte vernahm ich mit Bekümmernis, und leider befand ich sie bald wahr. Als es Morgen wurde, kamen die andern Mäuse alle zu mir, daß ich sie, wie gewohnt, wieder füttere, und waren hungriger als je; ich aber vermochte nicht, wie ich sonst gekonnt und getan, in den Korb zu springen, denn die Kraft war von mir gewichen, und alsbald sah ich mich von den Mäusen, meinen nächsten Freunden und Verwandten, ganz schnöd behandelt; ja sie besorgten sich, am Ende mir etwas geben und mich ernähren zu müssen, deshalb ging eine jede ihres Wegs, und keine sah mich mehr an, als ob ich sie auf das bitterste beleidigt hätte.

Da sprach ich zu mir traurig in meinem Gemüte diese Worte: Gute Freunde in der Not gehn fünfundzwanzig auf ein Lot; soll es aber ein harter Stand sein, so gehen fünf auf ein Quentlein.

Wer keine Habe hat, hat auch keine Brüder; wer keine Brüder hat, hat keine Verwandtschaft; wer keine Verwandtschaft hat, hat auch keine Freundschaft, und wer keine Freundschaft hat, der wird vergessen. Armut ist ein harter Stand; Armut macht das Leben krank. Keine Wunde brennt so heftig als Armut. Viel Lob wird dem Reichen, wenn aber der Reiche arm wird, dann wird ihm doppelter und dreifacher Tadel; war er mild und gastfrei, so ist er ein Verschwender gewesen; war er edel und freisinnig, so heißt er nun stolz und streitsüchtig; ist er still und verschlossen, so heißt er tiefsinnig; ist er gesprächig, so heißt er ein Schwätzer. Tod ist minder hart als Armut. Dem armen Mann ist eher geholfen, wenn er seine Hand in den offenen Rachen einer giftigen Schlange steckt, als wenn er Hilfe begehrt von einem Geizhals.

Weiter sah ich nun, daß der Waller und der Einsiedel die gefundenen Goldgulden zu gleichen Hälften unter sich teilten und fröhlich voneinander schieden; und der Einsiedel legte sein Geld unter das Kopfkissen, darauf er schlief. Ich aber gedachte, mir etwas davon anzueignen, um meine verlorne Kraft wieder zu ersetzen, aber der Einsiedel erwachte von meinem leisen Geräusch und gab mir einen Schlag, daß ich nicht wußte, wo mir der Kopf stand und wie ich in mein Loch kam. Dennoch hatte ich keine Ruhe vor meiner Gier nach dem Gold und machte einen zweiten Versuch; da traf mich der Einsiedel abermals so hart, daß ich blutete und todwund in meine Höhle entrann. Da hatte ich genug und dachte nur mit Schrecken an Gold und Geld und sagte mir vier Sprüche vor in meinen Schmerzen und in meiner Traurigkeit: Keine Vernunft ist besser als die, seine eignen Sachen wohl betrachten und nicht nach Fremden streben. Niemand ist edel ohne gute Sitten. Kein besserer Reichtum als Genügsamkeit. Weise ist der, welcher nicht nach dem strebt, was ihm unerreichbar ist.

So beschloß ich, in Armut und edlem Sinn zu beharren, verließ des Einsiedels Haus und wanderte in die Einöde. Dort richtete ich mir ein wohnlich Wesen ein und lernte die friedliche Taube kennen, die ihre Hilfe bei mir suchte, dadurch auch du, Freund Rabe, dich zu mir gesellt hast, der mir von seiner Freundschaft zu dir, Schildkröte Korax, viel erzählte, so daß ich gern Verlangen trug, dich kennenzulernen, denn es ist auf der Welt nichts Schöneres als Gesellschaft treuer Freunde, und kein größeres Betrübnis gibt‘s, als einsam und freundlos sein.

Damit endete das kluge Mäuslein Sambar seine Lebensgeschichte, und die Schildkröte nahm das Wort und sprach gar freundlich: »Ich sage dir besten Dank für deine so lehrreiche Geschichte; viel hast du erfahren, und dein Schatz ist Weisheit geworden, die mehr ist als Gold. Nun vergiß hier bei uns dein Leiden und deinen Verlust und denke, daß das edle Gemüt man ehrt, auch wenn am irdischen Besitz es Mangel hat. Der Löwe, ob er schlafe, ob er wache, bleibt gefürchtet, und seine Stärke geht mit ihm, wohin er geht. Der Weise aber wechselt gern den Aufenthalt, auf daß er kennenlerne fremde Landesart, und zur Begleiterin erwählt er Gold nicht, nein — Vernunft.«

Wie der Rabe diese Worte hörte, freute er sich herzinnig über die Einigung seiner Freundinnen und sprach zu ihnen freundliche Worte; indem so kam ein Hirsch gelaufen, und als die treuen Tiere ihn hörten, so flohen sie, die Schildkröte in das Wasser, die Maus in ein Löchlein, der Rabe auf einen Baum. Und wie der Hirsch an das Wasser kam, erhob sich der Rabe in die Luft, zu sehen, ob vielleicht ein Jäger den Hirsch verfolge, da er aber niemand sah, so rief er seinen Freundinnen, und da kamen sie wieder hervor. Die Schildkröte sah den Hirsch am Wasser stehen mit ausgestrecktem Hals, als scheue er sich zu trinken, und rief ihm zu: »Edler Herr, wenn dich dürstet, so trinke; du hast hier niemand zu fürchten!« Da neigte der Hirsch sein Haupt und grüßte die Schildkröte und näherte sich ihr, und sie fragte, von wannen er käme.

Er antwortete: »Ich bin lange im wilden Walde gewesen, da habe ich gesehen, daß die Schlangen von einem Ende an das andere wandelten, und habe Furcht gefaßt, es möchten Jäger den Wald einkreisen, und bin hierher gewichen.«

Die Schildkröte sprach: »Hierher kam noch nie ein Jäger, darum fürchte dich nicht. Und willst du hier wohnen, so kannst du von unsrer Gesellschaft sein; es ist hier rings gute Weide.« Das hörte der Hirsch gern und blieb auch da, und die Tiere erkoren einen Platz unter den Ästen eines schattenreichen Baumes, da kamen sie alle zusammen und erzählten einander von dem Laufe der Welt und auch schöne Märchen.

So kamen eines Tages die treu befreundeten Tiere auch zusammen, der Rabe, die Maus und die Schildkröte, aber der Hirsch blieb aus und fehlte. Da besorgten sie sich seiner, ob ihn etwa von einem Jäger etwas begegnet wäre, und der Rabe ward ausgesandt, nach ihm zu spähen und Botschaft zu bringen. Da sah er ihn nach einer Weile im Walde, nicht allzufern von ihrem Aufenthalt, in einem Netz gefangen liegen, kam wieder und sagte das seinen lieben Gesellen an. Sobald die Maus das vernahm, bat sie den Raben, sie zum Hirsch zu tragen, und dort sprach sie zu ihm: »Bruder, wer doch hat dich also überwältigt? Man rühmet doch als der verständigsten Tiere eines dich!«

Darauf seufzte der Hirsch und sprach: »O liebe Schwester! Verstand schirmt nicht gegen den Urteilsspruch, der uns von oben kommt. Des Läufers Schnelle und des Starken Kraft zerreißt das Netz nicht, das Verhängnis heißt.«

Wie diese zwei noch redeten, kam die Schildkröte daher, sie war gekrochen, so schnell sie konnte; da wandte der Hirsch sich zu ihr und sprach: »O liebe Schwester, warum kommst du zu uns her? Und welchen Nutzen bringt uns deine Gegenwart? Die Maus allein vermag mich zu erledigen, und naht der Jäger, so entfliehe ich gar leicht, der Rabe fliegt von dannen, und die Maus entschlüpft. Dir aber, die Natur gemachsam schuf, nicht schnellen Schritts, auch fluchtgewandt nicht, dir droht schmähliche Gefangenschaft.«

Darauf antwortete die Schildkröte: »Ein treuer Freund, der auch Vernunft hat, wird sich nicht wert des Lebens dünken, wenn er um seine Freunde kam. Und wenn ihm nicht vergönnt ist, daß er helfe, so mag er trösten doch nach seinen Kräften. Das Herz aus seinem Busen zieht ein treuer Freund und reicht es seinem treuen Freunde dar.«

Als die Schildkröte noch sprach, während die Maus bereits das Netz eifrig zernagt hatte, hörten die Tiere den Jäger nahen, da entrann der Hirsch, der Rabe entflog, die Maus entschlüpfte. Der Jäger fand sein Netz zernagt, erschrak, sah sich um und fand niemand als die Schildkröte. Die nahm er, daß es Rabe und Maus mit Bedauern sahen, und band sie fest in einen Fetzen von dem Netz. Die Maus rief dem Raben zu: »O wehe! Weh! Wenn einem Glück kommt, harret er des folgenden, und kommt ein Unglück, überfällt auch gleich ein zweites ihn. Trug ich nicht Leids genug an meines Goldes Verlust, und nun bin ich der liebgewordenen Schwester bar, sie, die mein Herz vor allem lieb gewonnen hat. Weh mir, weh meinem Leib, der aus einem Trübsalsnetz ins andre rennt und dem nichts anderes beschert ist als nur Widerwärtigkeit.«

 

Da sprachen Rabe und Hirsch zur Maus: »O kluge Freundin, klage nicht so sehr, denn Klagen ist nicht, was der Freundin frommt, und deine und unsre Trauer macht sie nicht von Banden frei. Ersinne Listen, wie wir sie befreien!«

Da sann das kluge Mäuslein Sambar eine Weile, dann sprach‘s: »Ich hab‘s. Du, Hirsch, gewinne schnell die Straße des Jägers und falle nahe dabei hin, wie halbtot, und du, Rabe, steh auf ihm, als ob du von ihm äßest. Wenn das der Jäger sieht, so wird er, was er trägt, aus den Händen legen, dann schleppst du, Freund Hirsch, dich gemachsam etwas tiefer in den Wald, damit er dich verfolgt, indes zernage ich das Netz und mache unsre liebe Schwester frei.«

Dieser Ratschlag ward schnell ausgeführt. Der Hirsch und der Rabe eilten auf einem Umweg dem Jäger voraus und taten, wie die Maus geraten. Der Jäger war gierig, den Hirsch zu erreichen, und warf alles, was er trug, von sich, der Hirsch kroch ins Dickicht, der Rabe flog nach, und der Jäger lief nach, und die Maus zernagte das Netz der Schildkröte und ging mit ihr nach Hause, dort fanden sie schon den Raben und den Hirsch, die schnell dem Jäger aus den Augen gekommen waren. Wie dieser nun zurückkehrte an den Ort, wo er seine Sachen hingeworfen hatte, die er noch dazu eine gute Länge suchen mußte, so fand er das Netz zernagt und konnte sich nicht genug wundern. »Das muß der böse Teufel getan haben und kein guter Geist!« fluchte er und dachte, daß böse Geister und Zauberer diese Gegend innehaben müßten, welche die Jäger in Tiergestalten äfften, ging furchtsam nach Hause und jagte nie mehr in diesem Walde.

Und da wohnten nun die befreundeten Tiere miteinander in Ruhe, Eintracht und Glückseligkeit, und von Zeit zu Zeit kam auch die Taube in diese schöne Einsamkeit und besuchte die kluge Maus Sambar, ihre liebe Freundin, und brachte Neuigkeiten aus der Welt und allerlei schöne Geschichten, daran alle ihre Freude hatten.