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Die schönsten Märchen

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Der Wacholderbaum

Es ist nun schon lange her — wohl zweitausend Jahre —, da war einmal ein reicher Mann, der hatte eine schöne, fromme Frau, und die hatten sich beide recht lieb; aber sie hatten keine Kinder, sie wünschten sich aber gar sehr welche, und die Frau betete oft darum Tag und Nacht, aber sie kriegten keine und kriegten keine. Vor ihrem Hause war ein Hof, auf dem stand ein Wacholderbaum; unter diesem stand eines Tages im Winter die Frau und schälte sich einen Apfel, und als sie sich den Apfel so schälte, schnitt sie sich in den Finger, und das Blut floß in den Schnee. »Ach«, sagte die Frau und seufzte so recht dabei auf, sah das Blut vor sich an und war tief wehmütig, »hätte ich doch ein Kind, so rot als Blut und so weiß wie Schnee.« Und als sie das sagte, so wurde ihr wieder fröhlich zumute, es war ihr, als sollte das wahr werden. Da ging sie wieder ins Haus, und als ein Monat vorbei war, da war der Schnee vergangen, und zwei Monate, da war es grün, und drei Monate, da kamen die Blumen aus der Erde, und vier Monate, da drängten sich alle Bäume in dem Holze und die grünen Zweige waren alle ineinander gewachsen. Dort sangen die Vöglein, daß das ganze Holz erschallte, und die Blüten fielen von den Bäumen. Da war der fünfte Monat vorbei, und die Frau stand wieder unter dem Wacholderbaum, dort sprang ihr das Herz vor Freude, und sie fiel auf die Knie und wußte sich gar nicht zu lassen. Und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark, und sie wurde ganz still, und im siebenten Monat, da griff sie nach den Beeren und aß sich recht satt; da wurde sie traurig und krank. Der achte Monat ging hin, und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: »Wenn ich sterbe, so begrabet mich unter dem Wacholderbaume.« Da war sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war; da kriegte sie ein Kind, so weiß wie Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, da freute sie sich so, daß sie starb.

Da begrub ihr Mann sie unter dem Wacholderbaum, und er fing an, gar sehr zu weinen. Eine Zeitlang, und das ließ nach, und da er noch ein wenig geweint hatte, da wurde er wieder heitrer, und noch eine Zeit, da nahm er wieder eine Frau. Mit der zweiten Frau kriegte er eine Tochter, das Kind aber von der ersten Frau war ein kleiner Junge; der war so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Wenn die Frau ihre Tochter ansah, so hatte sie sie gar sehr lieb, aber wenn sie dann den kleinen Jungen ansah, da ging es ihr immer durchs Herz, und es deuchte ihr, als stünde er ihr überall im Wege, und sie dachte dann immer, wie sie ihrer Tochter all das Vermögen zuwenden wollte. Das aber hatte ihr der Böse eingegeben. Sie wurde nun dem kleinen Jungen ganz gram, stieß ihn herum von einer Ecke in die andere, puffte ihn hier und knuffte ihn dort, so daß das arme Kind immer in Angst war. Wenn es aus der Schule kam, hatte es nichts, wo es ruhig sitzen konnte.

Einmal war die Frau in die Kammer gegangen, da kam das kleine Töchterchen auch herauf und sagte: »Mutter, gib mir einen Apfel.«

»Ja, mein Kind«, sagte die Frau und gab ihr einen schönen Apfel aus der Kiste; die Kiste aber hatte einen großen, schweren Deckel mit einem großen, scharfen, eisernen Schlosse.

»Mutter«, sagte das Töchterchen, »soll Brüderchen nicht auch einen haben?«

Das verdroß die Frau, doch ließ sie‘s nicht merken und sagte: »Ja, wenn er aus der Schule kommt.« Und als sie ihn durch das Fenster gewahr wurde, so war ihr doch gerade so, als wenn der Böse über sie käme. Schnell nahm sie ihrer Tochter den Apfel weg und sagte: »Du sollst nicht eher einen haben als Bruder.« Darauf warf sie den Apfel in die Kiste und machte sie zu. Als nun der kleine Junge in die Türe trat, da sagte sie ganz freundlich zu ihm: »Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?« und sah ihn dabei ganz böse an.

»Mutter«, sagte er kleine Junge, »was siehst du mich so gräsig an! Ja, gib mir einen Apfel.«

»Komm mit mir«, sagte sie und machte den Deckel auf. »Hol dir einen Apfel heraus.« Und als sich der kleine Junge hinein bückt — da rät ihr der Böse. — Bratsch! schlug sie den Deckel zu, daß der Kopf des kleinen Jungen abflog und unter die roten Äpfel fiel. Da überfiel es sie, und sie dachte in großer Angst: Wie kann ich das wohl von mir abbringen! Da ging sie hinunter in die Stube und holte aus der untersten Schublade der Kommode ein weißes Tuch; nun setzte sie den Kopf auf den Leib und band das Halstuch so um, daß man nichts sehen konnte, dann setzte sie ihn vor die Türe auf einen Stuhl und gab ihm den Apfel in die Hand.

Bald darauf kam Marlenchen zu ihrer Mutter in die Küche; die stand beim Feuer und rührte in einem Topfe. »Mutter«, sagte Marlenchen, »Bruder sitzt vor der Tür und sieht ganz weiß aus; er hat einen Apfel in der Hand; ich habe ihn gebeten, er soll mir den Apfel geben, aber er antwortet nicht, und da wurde mir ganz graulich.«

»Geh noch einmal hin«, sagte die Mutter, »und wenn er wieder nicht antworten will, so gib ihm eins hinter die Ohren.«

Da ging Marlenchen hin und sagte: »Bruder, gib mir den Apfel.« Aber er schwieg still, da gab sie ihm eins an die Ohren, und da fiel der Kopf herunter; darüber nun erschrak sie sich und fing an, gar sehr zu weinen; sie lief zur Mutter und sagte: »Ach Mutter, ich hab meinem Bruder den Kopf abgeschlagen«, und weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben.

»Marlenchen«, sagte die Mutter, »was hast du getan! Aber sei nur still, daß es kein Mensch merkt, das ist nun doch einmal nicht zu ändern; wir wollen ihn in Essig kochen.« Da nahm die Mutter den kleinen Jungen, hackte ihn in Stücke, tat sie in einen Topf und kochte ihn in Essig. Marlenchen aber stand dabei und weinte und weinte, und die Tränen fielen alle in den Topf, so daß sie gar kein Salz brauchten.

Da kam der Vater nach Haus, setzte sich zu Tisch und sagte:

»Wo ist denn mein Sohn?« Da trug die Mutter eine große, große Schüssel auf mit Schwarzsauer, und Marlenchen weinte und konnte sich gar nicht halten. Da sagte der Vater wieder: »Wo ist denn mein Sohn?«

»Ach«, sagte die Mutter, »er ist über Land gegangen zum Großohm, er will dort eine Zeitlang bleiben.«

»Was tut er denn dort? Er hat nicht einmal Adieu zu mir gesagt.«

»Er wollte gern hin und fragte mich, ob er wohl sechs Wochen bleiben könnte; er ist ja dort gut aufgehoben.«

»Ach!« sagte der Mann, »ich bin recht traurig, und es ist doch nicht recht, er hätte mir doch Adieu sagen sollen.« Damit fing er an zu essen und sagte: »Marlenchen, was weinst du? Bruder wird wohl wiederkommen.«

»Ach, Frau«, sagte er dann, »was schmeckt mir das Essen gut, gib mir mehr!« Und je mehr er aß, je mehr wollte er haben, und er sagte immer: »Gebt mir mehr, ihr sollt nichts davon haben, das ist, als wenn das alles mein wäre.«Und er aß und aß, und die Knochen warf er alle unter den Tisch, bis alles alle war.

Marlenchen aber ging hin zu ihrer Kommode und nahm aus der untersten Schublade ihr bestes seidenes Tuch; holte alle die Knochen unter dem Tische hervor, band sie in das seidene Tuch und trug sie vor die Tür und weinte ihre blutigen Tränen. Dort legte sie sie unter den Wacholderbaum in das grüne Gras, und als sie sie dort hingelegt hatte, da war ihr mit einem Male so recht leicht, und sie weinte nicht mehr. Da fing der Wacholderbaum an sich zu bewegen, und die Zweige taten sich immer voneinander und dann wieder zusammen, so als wenn sich einer recht freut und mit den Händen so tut. Damit ging durch den Baum ein Nebel, und durch den Nebel brannte ein Feuer, und aus dem Feuer flog ein schöner Vogel heraus, der sang so herrlich und flog hoch in die Luft, und als er weg war, da war der Wacholderbaum, wie er vorher gewesen war, aber das Tuch mit den Knochen war weg. Marlenchen aber war recht vergnügt, als ob der Bruder noch lebte. Da ging sie wieder ganz lustig in das Haus, setzte sich zu Tisch und aß.

Der Vogel aber flog weg, setzte sich auf eines Goldschmieds Haus und fing nun an zu singen:

 
»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
Mein Vater, der mich aß,
Meine Schwester, das Marlenichen,
Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Der Goldschmied saß in seiner Werkstatt und machte gerade eine goldene Kette, da hörte er den Vogel, der auf seinem Dache saß und sang, und das deuchte ihm gar zu schön. Da stand er auf, und als er über den Flur ging, da verlor er einen Pantoffel. Er ging aber so recht mitten in die Straße hin und hatte nur einen Pantoffel und einen Socken an. Er hatte sein Schurzfell vor und in der einen Hand die goldene Kette und in der andern Hand die Zange; die Sonne schien so hell auf die Straße. Da stellte er sich so, daß er den Vogel gut sehen konnte. »Vogel«, sagte er, »wie schön kannst du singen! Sing mir das Stück nochmal.«

»Nein«, sagte der Vogel, »zweimal singe ich nicht umsonst. Gib mir die goldene Kette, so will ich es nochmals singen.«

»Da«, sagte der Goldschmied, »hast du die goldene Kette, nun singe es mir nochmal.«

Da kam der Vogel, nahm die goldene Kette ins rechte Pfötchen, setzte sich vor den Goldschmied hin und sang:

 
»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
Mein Vater, der mich aß,
Meine Schwester, das Marlenichen,
Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Da flog der Vogel weg und setzte sich auf das Dach eines Schusters und sang:

 
»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
Mein Vater, der mich aß,
Meine Schwester, das Marlenichen,
Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Als der Schuster das hörte, lief er in Hemdsärmeln vor seine Türe, sah nach seinem Dache und mußte die Hand vor die Augen halten, damit ihn die Sonne nicht blende. »Vogel«, sagte er, »was kannst du schön singen!« Da rief er in seine Türe hinein: »Frau, komm mal heraus, da ist ein Vogel, der kann mal schön singen.« Dann rief er auch seine Tochter, seine Kinder und Gesellen, die Lehrjungen und die Magd, und sie kamen alle auf die Straße und sahen den Vogel an, und wie schön er war; er hatte so schöne rote und grüne Federn, und um den Hals war es wie lauter Gold, und die Augen blinkten ihm im Kopfe wie Sterne. »Vogel«, sagte der Schuster, »nun sing mir das Stück nochmal.«

 

»Nein«, sagte der Vogel, »zweimal singe ich nicht umsonst, du mußt mir was schenken.«

»Frau«, sagte der Mann, »gehe in den Laden, auf dem obersten Brett, da stehen ein Paar rote Schuh, die bring heraus.« Da ging die Frau hin und holte die Schuh. »Da, Vogel«, sagte der Mann, »nun sing mir das Stück nochmal.«

Da kam der Vogel, nahm die Schuhe mit dem linken Pfötchen, flog wieder auf das Dach und sang:

 
»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
Mein Vater, der mich aß,
Meine Schwester, das Marlenichen,
Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Als er ausgesungen hatte, flog er fort. Die Kette hatte er in dem rechten und die Schuhe in dem linken Pfötchen, und er flog weit weg nach einer Mühle, und die Mühle ging klip klap, klip klap, klip klap. In der Mühle saßen zwanzig Knappen, die behauten einen Stein und hackten hick hack, hick hack, hick hack, und die Mühle ging klip klap, klip klap, klip klap. Da setzte sich der Vogel auf einen Lindenbaum, der vor der Mühle stand, und sang:

 
»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘«
Da hörte ein Knappe auf.
»Mein Vater, der mich aß«
Da hörten noch zwei auf und hörten zu.
»Meine Schwester, das Marlenichen«
Da hörten wieder viere auf.
»Sucht alle meine Beenichen«
Nun hauten nur noch dreizehn.
»Bind‘ sie in ein seiden Tuch«
Jetzt nur noch sieben.
»Legt‘s unter«
Jetzt nur fünf.
»den Wacholderbaum.«
Nur noch einer,
»Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Da hielt der letzte auch inne und hatte das letzte noch gehört. »Vogel«, sagte er, »was singst du schön! Laß mich das auch hören, singe das nochmal.«

»Nein«, sagte der Vogel, »zweimal singe ich nicht umsonst; gib mir den Mühlstein, so will ich es nochmal singen.« »Ja«, sagte er, »wenn er mir allein gehörte, so solltest du ihn haben.«

Da sagten die andern: »Wenn er nochmal singt, so soll er ihn haben.«

Da kam der Vogel herunter, und alle zwanzig Knappen faßten an und hoben mit Hebebäumen den Stein auf. Da steckte der Vogel den Hals durch das Loch und nahm ihn um, als ob es ein Kragen wäre, flog wieder auf den Baum und sang:

 
»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
Mein Vater, der mich aß,
Meine Schwester, das Marlenichen,
Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Als er ausgesungen hatte, da tat er die Flügel auseinander und hatte in dem rechten Pfötchen die Kette, in dem linken die Schuh und um den Hals den Mühlstein und flog fort damit nach seines Vaters Hause. In der Stube saßen der Vater, die Mutter und Marlenchen bei Tisch, und der Vater sagte: »Ach, wie wird mir so leicht und wohl zumute.«

»Ach nein«, sagte die Mutter, »mir ist es angst, als wenn ein schweres Gewitter käme.«

Marlenchen aber saß und weinte und weinte, da kam der Vogel angeflogen, und als er sich auf das Dach setzte, sagte der Vater: »Mir ist so recht freudig ums Herz, und die Sonne scheint draußen so schön, mir ist gerade, als sollte ich einen alten Bekannten wiedersehen.«

»Ach nein«, sagte die Frau, »mir ist so angst, die Zähne klappern mir, mir ist, als hätte ich Feuer in den Adern.« Aber Marlenchen saß in der Ecke und weinte das Tuch ganz naß.

Da setzte sich der Vogel auf den Wacholderbaum und sang:

»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘«

Da hielt sich die Mutter die Ohren zu und kniff die Augen zusammen, denn sie wollte nicht sehen noch hören; aber es brauste ihr in den Ohren wie der stärkste Sturm, und die Augen brannten und zuckten ihr wie Blitze.

»Mein Vater, der mich aß«

»Ach Mutter«, sagte der Mann, »das ist ein schöner Vogel, der singt so herrlich, die Sonne scheint so warm, und das riecht wie lauter Maiblumen.«

»Meine Schwester, das Marlenichen«

Da legte Marlenchen den Kopf auf die Knie und weinte immerfort, der Mann aber sagte: »Ich gehe hinaus, ich muß den Vogel in der Nähe sehen.«

»Ach, geh nicht«, sagte die Frau, »mir ist, als bebte das ganze Haus und stände in Flammen.« Aber der Mann ging hinaus und sah den Vogel an.

 
»Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Dabei ließ der Vogel die goldene Kette fallen, und sie fiel dem Manne just um den Hals, gerade so, daß sie ihm so recht schön paßte. Da ging er hinein und sagte: »Sieh, was ist das für ein guter Vogel; er hat mir diese schöne Kette geschenkt, und er sieht so prächtig aus.« Der Frau aber wurde so angst, daß sie niederstürzte, wobei ihr die Mütze vom Kopfe fiel. Da sang der Vogel wieder:

»Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘«

»Ach, daß ich tausend Klafter unter der Erde wäre, damit ich das nicht hören müßte.«

»Mein Vater, der mich aß«

Da fiel die Frau für tot nieder.

»Meine Schwester, das Marlenichen«

»Ach«, sagte Marlenchen, »ich will auch hinausgehen und sehen, ob mir der Vogel was schenkt.« Und da ging sie hinaus.

 
»Sucht alle meine Beenichen,
Bind‘ sie in ein seiden Tuch«
Da warf er ihr die Schuhe herunter.
»Legt‘s unter den Wacholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich.«
 

Da wurde sie ganz vergnügt und fröhlich; sie zog die neuen roten Schuhe an, tanzte und sprang hinein. »Ach«, sagte sie, »ich war so traurig, als ich hinausging, und nun bin ich lustig; das ist mal ein herrlicher Vogel; hat mir ein Paar Schuhe geschenkt.«

»Nein«, sagte die Frau und sprang auf, und die Haare standen ihr zu Berge wie Feuerflammen, »mir ist, als sollte die Welt untergehen! Ich will auch hinaus, vielleicht wird es mir auch leichter.«

Und als sie aus der Türe kam, bratsch! warf ihr der Vogel den Mühlstein auf den Kopf, daß sie ganz zerquetscht wurde.

Als der Vater und Marlenchen das hörten, gingen sie hinaus, da sahen sie Dampf, Flammen und Feuer auf der Stelle, und als das verloschen war, da stand der kleine Bruder da, der nahm den Vater und Marlenchen bei der Hand. Alle drei waren nun recht vergnügt und gingen in das Haus, setzten sich zu Tische und aßen.

Der weiße Wolf

Ein König ritt jagen in einem großen Walde, darinnen er sich verirrte, und er mußte manchen Tag wandern und manche Nacht, fand immer nicht den rechten Weg und mußte Hunger und Durst leiden. Endlich begegnete ihm ein kleines schwarzes Männlein, das fragte der König nach dem rechten Weg. »Ich will dich wohl führen und geleiten«, sagte das Männlein, »aber du mußt mir auch etwas dafür geben, du mußt mir das geben, was dir aus deinem Hause zuerst entgegen kommt.«

Der König war froh und sprach unterwegs: »Du bist recht brav, Männchen, wahrlich, und wenn mein bester Hund mir entgegenlief, so wollt ich dir ihn doch gern zum Lohne geben.«

Das Männlein aber erwiderte: »Deinen besten Hund, den mag ich nicht, mir ist was andres lieb.«

Wie sie nun beim Schlosse ankamen, so sah des Königs jüngste Tochter durchs Fenster ihren Vater geritten kommen und sprang ihm fröhlich entgegen. Da sie ihn aber in ihre Arme schloß, sprach er: »Ei, wollt ich doch, daß lieber mein bester Hund mir entgegen gekommen wäre!«

Über diese Rede erschrak die Königstochter gar sehr und weinte und rief: »Wie das, mein Vater? Ist dir dein Hund lieber denn ich, und sollte er dich froher willkommen heißen?«

Aber der König tröstete sie und sagte: »O liebe Tochter, so war es ja nicht gemeint!« und erzählte ihr alles.

Sie aber blieb ganz standhaft und sagte: »Es ist besser so, als daß mein lieber Vater umgekommen wäre im wilden Walde.«

Und das Männchen sagte: »Nach acht Tagen hole ich dich.«

Und nach acht Tagen richtig, da kam ein weißer Wolf in das Königsschloß, und die Königstochter mußte sich auf seinen Rücken setzen, und heissa, da ging‘s durch dick und dünn, bergauf und ab, und die Königstochter konnte das Reiten auf dem Wolf nicht aushalten und fragte: »Ist‘s noch weit?«

»Schweig! Weit, weit ist‘s noch zum gläsernen Berge schweigst du nicht, so werf ich dich herunter!« Nun ging es wieder so fort, bis die arme Königstochter wieder zagte und klagte und fragte, ob es noch weit sei. Und da sagte ihr der Wolf die nämlichen drohenden Worte und rannte immer fort, immer weiter, bis sie zum dritten Male die Frage wagte, da warf er sie auf der Stelle von seinem Rücken herunter und rannte davon.

Nun war die arme Prinzessin ganz allein in dem finstern Walde und ging und dachte, endlich werde ich doch einmal zu Leuten kommen. Und endlich kam sie an eine Hütte, da brannte ein Feuerchen, und da saß ein altes Waldmütterchen, das hatte ein Töpfchen am Feuer. Und da fragte die Königstochter: »Mütterchen, hast du den weißen Wolf nicht gesehen?«

»Nein, da mußt du den Wind fragen, der fragt überall herum, aber bleibe erst noch ein wenig hier und iß mit mir. Ich koche hier ein Hühnersüppchen.« Das tat die Prinzessin, und als sie gegessen hatten, sagte die Alte: »Nimm die Hühnerknöchelchen mit dir, du wirst sie gut gebrauchen können.« Dann zeigte ihr die Alte den rechten Weg nach dem Winde.

Als die Königstochter bei dem Winde ankam, fand sie ihn auch am Feuer sitzen und sich eine Hühnersuppe kochen, aber auf ihre Frage nach dem weißen Wolf antwortete er ihr: »Liebes Kind, ich habe ihn nicht gesehen, ich bin heute einmal nicht gegangen und wollte mich einmal hübsch ausruhen. Frage die Sonne, die geht alle Tage auf und unter, aber erst mache es wie ich, ruhe dich aus und iß mit mir, kannst hernach auch alle die Hühnerknöchlein mit dir nehmen, wirst sie wohl gut brauchen können.«

Als dies geschehen war, ging die Kleine nach der Sonne zu, und es ging da gerade wieder wie beim Winde, die Sonne kochte sich gerade eine Hühnersuppe an sich selbst, daher es damit sehr geschwind ging, hatte auch den weißen Wolf nicht gesehen und lud die Prinzessin zum Mitessen ein. »Du mußt den Mond fragen, denn wahrscheinlich läuft der weiße Wolf nur des Nachts, und da sieht der Mond alles.«

Als nun die Königstochter mit der Sonne gegessen und die Knöchlein aufgesammelt hatte, ging sie weiter und fragte den Mond. Auch er kochte Hühnersuppe und sagte: »Es ist fatal, ich habe letzte Nacht nicht geschienen oder bin zu spät aufgegangen, ich weiß gar nichts von dem weißen Wolf.«

Da weinte das Mädchen und rief: »O Himmel, wen soll ich nun fragen?«

»Nun, nur Geduld, mein Kind«, sagte der Mond. »Vor Essen wird kein Tanz, setze dich und iß erst die Hühnersuppe mit mir und nimm auch die Knöchelchen mit, du wirst sie wohl brauchen. Etwas Neues weiß ich doch; im gläsernen Berge das schwarze Männchen — das hält heute Hochzeit, der Mann im Mond ist auch dazu eingeladen.«

»Ach, der gläserne Berg, der gläserne Berg! Dahin wollte ich ja eben, dahin hat mich ja der weiße Wolf tragen sollen!« rief die Königstochter.

 

»Nun, bis dorthin kann ich dir schon leuchten und den Weg zeigen«, sagte der Mond, »sonst könntest du dich leichtlich irren, denn ich zum Beispiel bestehe ganz und gar aus lauter gläsernen Bergen. Nimm immer deine Knöchlein hübsch alle mit.« Das tat die Prinzessin, aber in der Eile vergaß sie doch ein Knöchlein.

Bald stand sie an dem gläsernen Berge, aber der war ganz glatt und glitschig, da war nicht hinauf zu kommen, aber da nahm die Königstochter alle Hühnerknöchlein von der alten Waldmutter, von dem Wind, von der Sonne und von dem Monde und machte sich daraus eine Leiter, die wurde sehr lang, aber o weh, zuletzt fehlte noch eine einzige Sprosse, noch ein Glied. Da schnitt sich die Prinzessin das oberste Gelenk von ihrem kleinen Finger ab, und so tat es gut, und sie konnte nun rasch zum Gipfel des gläsernen Berges klimmen. Oben war eine große Öffnung, da führte eine schöne Treppe hinunter, und es war alles voll Glanz und Pracht, und da waren ein Saal voll Hochzeitsgästen und viele Musikanten und reichbesetzte Tafeln.

Und da saß das schwarze Männlein, und an seiner Seite saß eine Dame, die war seine Braut, das schwarze Männlein aber schien traurig. Und der Königstochter tat es auch so weh, so weh, daß sie nun zu spät kam und daß das schwarze Männlein so traurig war, und sie dachte bei sich, ich will ein Lied vom weißen Wolf singen, vielleicht kennt er mich dann — denn er hatte sie noch gar nicht angesehen, folglich auch nicht wiedererkannt. Und da stand eine Harfe an der Wand, welche die Prinzessin gut spielte, die nahm sie nun und sang:

 
»Deinen besten Hund, den mag ich nicht,
Mir ist was andres lieb!
Die jüngste Königstochter.
Der weiße Wolf, der lief davon,
Sie weiß nicht, wo er blieb;
Die jüngste Königstochter.«
 

Da horchte das schwarze Männlein hoch auf, aber die Prinzessin fuhr fort zu spielen und zu singen.

 
Sie ist dem Wolfe nachgereist,
Schnitt ab ihr Fingerglied,
Die jüngste Königstochter.
Nun ist sie da — du kennst sie nicht,
Traurig singt dir dies Lied
Die jüngste Königstochter.«
 

Da sprang das schwarze Männlein von seinem Sitze auf und war plötzlich ein ganz schöner junger Prinz und eilte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

Alles war Zauber gewesen. Der Prinz war in das alte Männlein und in den weißen Wolf und in den gläsernen Berg hinein verzaubert so lange, bis eine Prinzessin, um zu ihm zu gelangen, sich‘s ein Glied von ihrem kleinen Finger kosten lassen würde, wenn das aber bis zu einer gewissen Zeit nicht geschähe, so müsse er eine andre freien und ein schwarzes Männlein bleiben all sein Leben lang. Nun war der Zauber gelöst, die andre Braut verschwand, der entzauberte Prinz heiratete die Königstochter, reiste darauf mit ihr zu ihrem Vater, der sich herzlich freute, sie wiederzusehen, und lebten alle glücklich miteinander bis an ihr Ende. Sollte dieses aber nicht erfolgt sein, so ist es einigermaßen wahrscheinlich, daß sie noch heute leben.